Wer kennt sie nicht? – die zumeist mit einem leisen Stoßseufzer verbundene Wendung: „Alles hat seinen Preis!“. Egal, ob wir Schaufensterauslagen betrachten, Immobilienanzeigen studieren oder in Hochglanzbroschüren von Autohäusern blättern – überall springt uns das Preisschild ins Auge und offenbart uns die Grenzen unserer Konsumwünsche. Seit der letzten großen Finanzkrise 2007/08 bekommt dieses eherne Prinzip jedoch zunehmend merkwürdige Risse. Nicht etwa weil wir Güter und Dienstleistungen nicht mehr „bepreisen“ würden, sondern weil wir angefangen haben, ausgerechnet das allgegenwärtige Tauschmittel unserer Volkswirtschaften, nämlich das Geld, Schritt für Schritt von jeglichen Preisschildern zu befreien. -Was ist da los? Sind Volkswirtschaften ohne den Zins als Steuerungsinstrument überhaupt überlebensfähig? Oder nähern wir uns im Gegenteil mit der „Befreiung“ vom Zins nicht dem lang ersehnten sagenhaften Goldland, in dem Tag und Nacht (kostenlos) Milch und Honig fließt?
Wer die aktuelle Debatte über die Zinsentwicklung an den Kapitalmärkten verfolgt, wird zunächst mit einer ganzen Flut von Trends, Konjunkturindikatoren und Chartanalysen konfrontiert. Das Marktgeschehen ist komplex, für den Laien undurchsichtig und schwer verständlich. Was jedoch zunehmend selbst dem uneingeweihten Herrn Michel paradox anmutet, ist die Tatsache, dass etwas, was eigentlich immer etwas gekostet hat, plötzlich mit dem Vorzeichen Null oder sogar mit einem Minuszeichen versehen wird. Läuft da der „Schlussverkauf“? Muss alles raus? Oder wer dreht da an der Abwärtsschraube?
Dem Staat Geld schenken
Noch kritischer wird die Sache, als Herr M. die Rendite seiner Lebensversicherung anschaut oder sich auf die Suche nach geeigneten Anlagemöglichkeiten für seine private Altersversorgung macht. Hatte der Bankberater nicht vor wenigen Jahren noch festverzinsliche Bundesanleihen als Top-Anlage regelrecht angepriesen? Wie kann es sein, dass man dem Staat noch einen Bonus hinterherwerfen muss, wenn man ihm Geld für 10 oder gar 30 Jahre leiht? Und warum preist der Berater plötzlich Aktienfonds an, vor denen er vor wenigen Jahren noch nachdrücklich gewarnt hatte?
Immobilienblase
Ein wenig beruhigt, ist Herr M. erst wieder als er von Freunden hört, wie billig mittlerweile Immobilienkredite zu haben sind. „Rekordtief bei den Hypothekarzinsen!“,“Greif zu, eh es zu spät ist!“ „Lass den Immobilienboom nicht fahrlässig vorüberziehen!“. – Erst als er sich nach dem privaten Plausch noch mal etwas genauer über die Immobilienpreise in seiner schmucken Heimatstadt in „guter Lage“ und mit „hochwertiger Ausstattung“ informiert, kommen ihm fast die Tränen. Kann das sein? 8.ooo, teilweise sogar 10.000 € pro Quadratmeter? Ist das noch realistisch? Will mich da jemand übers Ohr hauen?
Verwahrentgelte
Richtig verärgert war Herr M. aber schließlich, als seine Bank ihm mitteilte, dass er zukünftig leider ein „Verwahrentgelt“ für seine Spareinlagen zu leisten hätte. Man hätte ihm das gerne erspart, aber angesichts des „Marktumfeldes“ – so die lapidare Aussage – sei man zu diesem Schritt leider gezwungen und könne auch weitere „Entgeltsteigerungen“ in den nächsten Monaten nicht ausschließen. Da wirds selbst dem ansonsten recht gemütlichen Herrn M. dann doch zu bunt. Lächerliche Sparzinsen um die Nulllinie und dann auch noch „Strafgebühren“ für Konten und Depots.
Das ist der Moment, in dem sich Herr M. – entgegen seines Naturells – langsam doch etwas näher für die Hintergründe dieser paradoxen Abwärtsspirale zu interessieren beginnt. Er hatte sich bisher nur selten mit Wirtschaftsmagazinen oder Nachrichten aus der Finanzwelt beschäftigt. Zu viel Fachchinesisch und zu viel Widersprüche zum medialen Mainstream. Doch er beißt sich durch und lässt – entgegen der landläufigen „Gute-Laune-Melodie“ – auch mal die kritischen bzw. skeptischen Stimmen zu Worte kommen:
Dramatische Fehlallokation: Erfolgreich wirtschaften, kann nur der, der die ihm zur Verfügung stehenden knappen Ressourcen möglichst effizient einsetzt. Hierzu bedarf es funktionierender Anreizmechanismen über Markt- und Preissignale. Wenn der wichtigste Preis einer Volkswirtschaft, der Zins, außer Kraft gesetzt ist, sind Fehlallokationen in dramatischem Umfang vorprogrammiert. Die volkswirtschaftliche Ressourcensteuerung ist fehlerhaft und insuffizient. Über die falschen Zinssignale fließt zuviel Kapital in Spekulationsblasen (Aktien und Immobilien) und vorbei an nutzbringenden Investitionen in die Realwirtschaft.
Dauer-Doping für Marktaustrittskandidaten: Die von den Notenbanken künstlich auf Sätze um die Nulllinie abgesenkten Zinsen halten massenhaft Unternehmen am Leben, die bei einem „normalen“ Zinsniveau längst vom Markt verschwunden wären. Das sedierende Signal „Kost (fast) nix!“ zementiert längst überholte Marktstrukturen und bindet Ressourcen in „Zombie-Unternehmen“. Der (auf Null gesetzte) Zins fällt als kalkulatorischer Referenzwert für Renditeberechnungen aus und steuert knappe Investitionsmittel systematisch in unrentable Kanäle.
Hochschuldenstaaten am Tropf der Notenbanken: Die „Geldpolitik“ der Notenbanken mutiert zunehmend zur „Tarnveranstaltung“ für die Finanzierung von Staatshaushalten über die Notenpresse. Hauptziel der Notenbanker ist längst nicht mehr die Geldwertstabilität, sondern das „Subventionieren“ von Hochschuldenländern über Nullzinspolitik und den systematischen Aufkauf von Staatsanleihen. Länder wie Griechenland und Italien hängen am Tropf der Notenbanken, erhalten dadurch keinerlei Anreize zu Strukturreformen und bekommen „Freifahrtscheine“ für die Fortsetzung einer grundsätzlich unsoliden Haushaltspolitik.
Austrocknung der privaten Altersvorsorge: In Zeiten zunehmender Überalterung geraten die sozialen Sicherungssysteme an ihre Leistungsgrenzen. Um so wichtiger wäre es parallel „private Vorsorge“ zu stärken und Sparanreize zu schaffen. Der Nullzins nimmt den Bürgern jedoch jeglichen Anreiz z.B. „fürs Alter“ vorzusorgen. Sparen lohnt sich nicht mehr, weil die reale Rendite für Lebensversicherungen und Spareinlagen wegen Nullzins und Inflation zum Teil dramatisch in den Negativbereich absackt. Die dadurch verursachte „Vorsorgelücke“ wird immer weiter aufgerissen und bedroht die Balance der sozialen Sicherung.
… und wie reagiert die Politik?: Statt der grundsätzlichen Fehlsteuerung der Geld- und Zinspolitik in die Speichen zu greifen, wird hilflos an den Symptomen kuriert. So sollen beispielsweise Negativzinsen für Spareinlagen bis 100.000 € verboten oder wohl klingende „Klima-Anleihen“ mit Garantieverzinsung auf den Markt gebracht werden. Ausnahmslos systemfremde Markteingriffe zulasten der Geschäftsbanken oder im Falle der staatlich administrierten „Garantiezinsen“ zulasten der Steuerzahler. Grundsätzliche Kritik am bisherigen Kurs der Notenbanken und ihrer politischen Sekundanten ist nach wie vor Mangelware. In öffentlichen Verlautbarungen wird das Vorgehen in der Regel als alternativlos beschrieben. Blitzableiter für die Folgen der politischen Fehlsteuerung der Geld- und Kapitalmärkte bleiben die Banken und Versicherungen, deren Geschäftsmodell jedoch unter den politisch gesetzten Rahmenbedingungen zunehmend seine wirtschaftliche Tragfähigkeit verliert.
Rettet das Klima
Nach all der Lektüre und nach den vielen Warnsignalen brummt Herrn Michel der Kopf. Sollte man bei all den Alarmrufen à la „Rettet das Klima“ nicht auch mal eine Kampagne unter dem Motto „Rettet den Zins“ starten? Ist unser Geld und die Stabilität unserer Finanz- und Kreditsysteme nicht mindestens so wichtig, wie unser Wetter? – Herr Michel ist skeptisch! Fast alle politischen Kräfte haben das „Weltklima“ entdeckt, aber wer kümmert sich um die Stabilität des Weltfinanzsystems? Demos gegen Plastiktüten und für die Bienen, aber null öffentliche Aufmerksamkeit für das Zins-Debakel und für die Enteignung der Sparer…!
Die da oben, werdens schon richten!
In diesem Moment kommen Herrn M. wieder Zweifel. Wenn alle für das ohnehin alternativlose „Weiter so!“ plädieren und nur ein paar von den ewig nörgelnden Rechtspopulisten für eine Zinswende und für ein Ende der ultraleichten Geldpolitik sind, mach ich mich ja lächerlich, wenn ich auf Straße gehe und mich für die Rettung des Zinses einsetze. Da schauen mich alle schief an und denken sich: „Was will der denn?“ – Herr M. hält eine Weile inne, atmet tief durch und läßt sich dann beruhigt in seinen Lieblingssessel fallen: „So schlimm wird es schon nicht werden. Die da oben werden schon wissen, was sie tun…“