Starker Staat

„L´ État c`est moi!“ – Diese, Ludwig XIV. zugeschriebene, Wendung ist zwar quellenmäßig schlecht belegt, umschreibt aber auf herausragende Weise den Blickwinkel der Fürsten auf die Staatsgewalt in der Hochphase des Absolutismus. „Der Staat, das bin ich!“ – Mit dieser Herrschaftsformel erreicht die absolute Monarchie an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ihren Kulminationspunkt und setzt die entscheidenden Wegmarken für die Entfaltung exekutiver Staatsmacht im alten Europa. – Lange her, möchte man meinen! Angestaubter Stoff aus alten Folianten? Botschaften aus dem Totenreich des Ancien Regime? Denn wir sind doch Gott sei Dank längst weiter: Gewaltenteilung, Volkssouveränität, garantierte Grundrechte und ein Katalog von individuellen Freiheitsrechten, der seinesgleichen sucht. Also nur was für die Archive oder doch brauchbares, historiographisches Anschauungsmaterial für ein besseres Verständnis von Gegenwart und (naher) Zukunft?

Als sich im Spätmittelalter das Territorialprinzip durchzusetzen begann und Schritt für Schritt der neuzeitliche „Staat“ an die Stelle der feudalen Personenverbände trat, schien eines klar und unumstritten: Die heranwachsenden Staatsgebilde konnte nur „dual“ verfasst sein. Der Fürst musste die Spitzen der Ständegesellschaft in den Staatsaufbau integrieren. Repräsentative Herrschaft war nur unter Einbindung der Reichs- bzw. Landstände möglich.

Ordnungsmacht

Einen tiefgehenden Bruch erlebte diese Konstruktion im Zeitalter der Konfessionskriege (Anfang des 16. bis Mitte des 17. Jahrhunderts). Die kriegerischen Ausnahmezustände, die Anarchie des „Jeder gegen Jeden“, der Horror aus Tod und Verderben verlangte gebieterisch nach einer neuen Ordnungsmacht. Das konnte unter den obwaltenden Umständen nur der Monarch sein, der allein in der Lage schien, der mörderischen Willkür ein Ende zu setzen und die verlorengegangene Ordnung wiederherzustellen.

Insofern waren Potentaten wie Louis-quatorze in aller erster Linie „Krisengewinnler“. Autokraten, die ihre uneingeschränkte Macht aus dem Ausnahmezustand ableiteten und die sich als Barrieren gegen das Chaos gerierten. Der Unterschied zur (antiken) Despotie war die zumindest formale Fortexistenz der Stände bzw. Ständeversammlungen* sowie die fortschreitende Verrechtlichung der neuen Ordnung, die die blanke Willkür vonseiten des Alleinherrschers zumindest erschwerte.

Demokratisierung und Liberalisierung

Also nochmal! Ist das, was hier beschrieben wird, nicht doch nur pappiger Schnee von gestern? Was ist mit den längst flächendeckend durchgesetzten Grundrechten, mit der auf individuelle Selbstentfaltung basierenden bürgerlichen Gesellschaft, mit der Demokratisierung des Rechtsstaats? Haben die bürgerlichen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem staatlichen Autoritarismus nicht längst den Garaus gemacht? Wühlen wir hier nicht in etwas herum, was längst abgehakt und abgeheftet ist?

Erstgeburtsrecht der Exekutive

Zugegeben! Die Errungenschaften der Demokratisierung und der Liberalisierung unserer Verfassungsordnung und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens sind gewaltig. Wir haben uns in vielerlei Hinsicht weit von den Zuständen des alten Regimes entfernt. Dennoch bleibt etwas bedeutsames aus dieser vorrevolutionären Zeit zurück, nämlich die strukturell bedingte Vormachtstellung der Exekutive im inneren Machtgefüge neuzeitlicher Staaten. Sie ist die einzige der drei Gewalten, die sich bereits vorrevolutionär voll ausbildet. Sie durchdringt – bevor sich überhaupt so etwas wie moderne „Balance of power“ in der Verfassungswirklichkeit des modernen Staates entwickeln konnte – alle gesellschaftlichen Bereiche, schafft sich einen professionellen Verwaltungs- bzw. Beamtenapparat, sichert sich die alleinige Befehlsgewalt über Militär und Polizei, formt die Wirtschaft nach ihrem Gusto (Merkantilismus) und zentralisiert all nur denkbaren Machtbefugnisse in Ämtern und Behörden.

Die zwei Nachzügler

Die beiden anderen Gewalten (Legislative und Judikative) mussten sich in postrevolutionärer Zeit erst mühsam gegen die älteren Rechte der Exekutive durchsetzen. Ständeversammlungen, die entmachtet bzw. über Generationen nicht getagt hatten, mussten schrittweise in (gewählte) Parlamente mit echten Gesetzgebungsbefugnissen umgewandelt werden. Das Budgetrecht des Parlaments musste in langen, wechselvollen Kämpfen gesichert und ausgebaut werden. Die Gerichte konnten sich erst nach Überwindung heftiger Widerstände von der Exekutive lösen und den Grad an Unabhängigkeit erreichen, der sie zur „dritten Gewalt“ qualifizierte. Wie prekär die erkämpften Positionen waren, dokumentiert die wechselvolle Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts, das zumindest in seiner ersten Hälfte zum blutigen Exerzierfeld des Totalitarismus wurde, dessen Tentakeln, die Krakenarme des Absolutismus an Kraft und Spannweite um mehrere Größenordnungen übertrafen.

Empfindliche Pflänzchen

Die daraus abgeleitete Grunderkenntnis ist, dass sowohl die Grund- und Freiheitsrechte als auch alle Formen parlamentarischer Mitbestimmung erst aufwändig gegen den Vormachtanspruch der exekutiven Staatsgewalt durchgesetzt werden mussten. Als sich der „starke Staat“ in Europa im Zuge der Konfessionskriege formierte und im Zeitalter des Absolutismus nachhaltig konsolidierte, waren Parlamentarismus und unabhängige Justiz noch empfindliche Pflänzchen im großen Garten der politischen Systeme. Schmächtige Gewächse, die noch über Jahrzehnte hinweg gepflegt und gehegt werden mussten, um wenigstens ansatzweise aus dem Schatten der mächtigen Eiche der Exekutive heraustreten zu können.

Wenn also heute im Zeitalter von Corona die Exekutive mit Wucht auf die Bühne tritt, dann tut sie das nicht unvermittelt und überraschend, sondern mit dem ganzen Gewicht ihrer historisch gewachsenen Potenz. Ausgestattet mit gewaltigen Machtmitteln vor allem auf den Feldern der Finanzen und der Inneren Sicherheit gibt sie den Takt vor, suspendiert Grundrechte unter Berufung auf den Ausnahmezustand und beruft sich mit Vehemenz auf ihr altes, historisch gewachsenes Notstandsrecht.

Bitte alles nur auf Zeit

Müssen wir uns also Sorgen machen? Solange die Rückbindung der staatlichen Gewalt an Recht und Gesetz funktioniert, die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird und die Eingriffe der Exekutive in elementare Grundrechte strikt auf die zeitlich limitierte Phase des Ausnahmezustandes begrenzt bleiben, ist die Gefahr eines Strukturbruchs gering. Und auch solange die parlamentarische Kontrolle, die freie Meinungsäußerung, die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz garantiert bleiben, muss niemand eine Alleinherrschaft der Exekutive fürchten.

Gefährlich wird es erst dann, wenn die mühsam austarierte Balance zwischen den Gewalten verloren geht und der Versuch unternommen wird, den Ausnahmezustand in eine Art „neue Normalität“ zu überführen. Wenn also die vielen Sperrriegel, die die Verfassung um die exekutive Gewalt errichtet hat, nach der Krise nicht wieder einrasten, sondern entriegelt bleiben. Spätestens dann besteht die Gefahr, dass die im Kern eigentlich unveräußerlichen Grund- und Freiheitsrechte einem auf Dauer gestellten Notstandsregime zum Opfer fallen.

Fürsprecher gesucht!

Unsere Verfassungsordnung hat sich den zurückliegenden gut 70 Jahren auf beeindruckende Weise bewährt und auch heftigen Stürmen standgehalten. Die aktuelle Corona-Krise ist nach Art und Umfang einmalig und nicht nur eine eminente Belastungsprobe für unser Gesundheitswesen, unsere Wirtschaft und unser Sozialsystem, sondern auch für unsere Rechts- und Verfassungsordnung. Angesichts der Wohlstandsentwicklung und der damit eng zusammenhängenden Freiheitsverwöhnung der vergangenen Jahrzehnte kann man nur hoffen, dass sich vor allem nach dem Ende des Shutdowns genug Fürsprecher für die Wiederherstellung der alten Ordnung finden. Das heißt, eine freiheitliche Gesellschaftsordnung braucht keine „neue Normalität“ oder gar einen „Superstaat“, denn staatliche Gewalt muss begrenzt bleiben und ist immer nur dann legitim, wenn sie individuelle Freiheitsrechte dauerhaft achtet und Rechtsstaatlichkeit strikt garantiert.

* Die „États généraux“, die französischen Generalstände, wurden von den Bourbonen nicht aufgelöst, sondern über 175 Jahre hinweg (1614-1789) schlichtweg nicht einberufen. Erst als wieder einmal der Staatsbankrott drohte und dringend neue Steuern bewilligt werden mussten, rief Ludwig XVI. die Generalstände im Mai 1789 zusammen. Das Problem: Die Versammlung wollte nach getaner Arbeit nicht mehr auseinandergehen, erklärte sich zur „Nationalversammlung“ und forderte das Regime auf offener Bühne heraus.