Weltwirtschaftskrise 2.0?

Was passiert mit Volkswirtschaften, deren Wirtschaftsleistung etwa zur Hälfte über mehrere Wochen hinweg administrativ blockiert wird? Oder anders: Was geschieht mit großen, weltweit verflochtenen ökonomischen Organismen, die über Wochen ins künstliche Koma gelegt werden? Schwierige Fragen, denn die Vorgänge, wie wir sie momentan erleben, sind beispiellos. Niemals zuvor in der industriellen Moderne wurden die ökonomischen Vitalfunktionen der entwickelten Volkswirtschaften auf so drastische Weise künstlich heruntergefahren.* Das heißt, um abschätzen zu können, was uns erwartet, hilft uns nicht die eine historische Referenz, sondern nur ein breiter angelegter Blick auf die diversen Wirtschafts- und Konjunkturkrisen der vergangenen Jahrzehnte.

Vermögenspreis-Blasen

Beginnen wir mit den großen Finanzkrisen etwa seit Ende der 80er Jahre. Ich denke hier vor allem an den Börsencrash im Jahre 1987 („Schwarzer Montag“), die Dotcom-Krise im Jahre 2000f. und die sog. Subprime-Krise in den Jahren 2007ff., die sich in Europa vor allem als Euro-Schuldenkrise manifestierte. Gibt es hier Parallelen zur Corona-Shutdown-Krise? Oder anders: Kann der Prognostiker den Weg der aktuellen Krise aus den Erfahrungen der genannten Finanzkrisen herleiten? – Wohl kaum, denn obwohl auch der aktuellen Krise eine Blasenbildung auf den Wertpapier- und Immobilienmärkten vorausging, war hier das „Platzen“ der Blase definitiv nicht Auslöser der Krise. In den Jahren 1987, 2000 und 2007 sackten die „Vermögenspreise“ unter der Spekulationslast ruckartig in sich zusammen. Im Jahre 2020 kam Corona dem Crash zuvor.

Die Stimme des Realen

Festhalten lässt sich in jedem Fall: Die Shutdown-Krise ist genau das Gegenteil einer „Spekulations- bzw. Überkonsumptionskrise“.  Zwar näherten sich die Finanzmärkte auch in der unmittelbaren Vor-Corona-Phase ungesunden Spitzenwerten, der eigentliche Krisen-Kick-Off war aber nicht der Kollaps der Vermögenspreise, sondern die Vollbremsung der Realwirtschaft. Und genau das ist es auch, was die Shutdown-Krise von den vorausgehenden Finanzkrisen unterscheidet. Obwohl der Einbruch an den Finanzmärkten 1987, 2000 und 2007 dramatische Ausmaße erreichte, blieb die Realwirtschaft (Industrie, Handel, Handwerk, unternehmensnahe Dienstleistungen etc.) – vor allem aufgrund gigantischer Stützungsmaßnahmen der Notenbanken zugunsten der Anlagegesellschaften und Geschäftsbanken- vom Krisengeschehen weitgehend unberührt. Die Volkswirtschaften erlebten kurze, heftige Talfahrten, kamen aber rasch wieder auf die Beine, weil die reale Produktion quasi ungestört weiterlief, die Lieferketten intakt blieben und die Schockwellen sich schon nach kurzer Zeit wieder glätteten.

Black Friday

Deutlich mehr Gemeinsamkeiten lassen sich zwischen der Weltwirtschaftskrise 1929ff. und der aktuellen Shutdown-Krise feststellen. Das auslösende Moment war zwar im Oktober 1929 – ebenso wie 1987, 2000 und 2007 – ein Börsencrash, aber der „Schwarze Freitag“ (24. Oktober 1929) schlug – ebenso wie in der jüngsten Vergangenheit die diversen Lockdowns in den einzelnen Ländern –  voll auf die Realwirtschaft durch. Das heißt, in beiden Fällen infizierte das auslösende Schockmoment die Wirtschaft in ihrer ganzen Breite.

Unübersehbare Parallelen lassen sich auch im Zusammenhang mit den krisenverschärfenden Elementen erkennen. Waren es Ende der 20er, Anfang der 30er Jahren vor allem die protektionistischen Maßnahmen der führenden Industriestaaten, die die Krise anheizten, sind es heute die ebenfalls protektionistisch wirkenden Blockaden und Quarantänemaßnahmen in den Betrieben und an den Staatsgrenzen, die die Liefer- bzw. Wertschöpfungsketten massiv unter Druck setzen. Selbst die zwischenzeitlich verordneten „Lockerungen“ führen nur partiell zu einem „Hochfahren“ der Produktion, einfach weil in vielen Produktionsbereichen die Vorprodukte fehlen.

Vollbremsungen

Wie brutal diese Bremswirkungen durchschlagen, lässt sich in erster Linie an den Arbeitsmärkten beobachten. In den USA scheinen die Bremsspuren am Arbeitsmarkt in diesen Wochen sogar noch markanter auszufallen, als Anfang der 30er Jahre. Lag die Arbeitslosenquote 1929 noch bei 3,2 % (Februar 2020: 3,5 %) dauerte es immerhin bis 1931 bis das Arbeitslosenniveau die 15 %-Marke erreichte. Heute ist dieser Wert schon nach wenigen Wochen erreicht (April 2020: 14,7 %) und steuert für den Frühsommer auf die Rekordmarke des Jahres 1933 (24,9 %) zu.**

… nur vorübergehend oder?

Aber halt! Sind das nicht nur Momentaufnahmen? Temporäre „Freisetzungen“ von Arbeitskräften, die nach dem Ende der Shutdown-Maßnahmen von den Unternehmen umgehend wieder rückgängig gemacht werden? – Schön wärs, möchte man antworten. Denn eine solche Sichtweise erliegt dem Trugschluss, dass hier viele Millionen Beschäftigte einfach nur in die Betriebsferien geschickt wurden und es jetzt nur darum ginge die Kollegen zum Zeitpunkt x alle wieder aus dem (bezahlten) Urlaub zurückzuholen. Unter dem Motto: Schalter wieder umlegen und die Sache fährt wieder auf Vorkrisenniveau hoch.

Ein solches Szenario setzt voraus, dass sich das erodierte Vertrauenskapital quasi über Nacht wieder regenerieren lässt und dass die Wirtschaftssubjekte sowohl auf der Unternehmer- wie auch auf der Verbraucherseite, die Einkommenseinbußen, die Gewinneinbrüche und die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust nicht als Aufruf zur Kauf- und Investitionszurückhaltung bewerten, sondern gleich nach der „Entwarnung“ wieder Gas geben.

Ob und in welchem Umfang das der Fall sein wird, ist momentan kaum seriös vorauszusagen. Einiges spricht dafür, wie z.B. die im Boom der vergangenen Jahre angewachsenen Sparguthaben und Rücklagenpolster. Anderes wiederum dürfte die Erholung nachhaltig verzögern, z.B. das während der Pandemie entwickelte System des maskenbewehrten „Social distancing“, das einerseits dazu angetan scheint, Ansteckungsrisiken zu begrenzen, andererseits aber kaum förderlich auf Faktoren wie Zukunftsvertrauen, Investitionsfreude und Kaufbereitschaft wirken dürfte.

Vollgas statt Austerität

Etwas was zugunsten einer raschen Erholung immer wieder ins Feld geführt wird, ist die These, dass sich die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit nur deshalb so hartnäckig auf den Waren- und Arbeitsmärkten festbeißen konnte, weil die Finanz- und Geldpolitik damals eher „deflationierend“ gewirkt hat und wir heute daraus gelernt hätten. Frei nach dem Motto: Gaspedal durchtreten, Geldkanonen durchladen, Feuer frei und mit Vollgas raus aus dem Konjunkturtal. An diesem Szenario ist durchaus etwas dran. Die „Austeritätspolitiken“ der beginnenden 30er Jahre in den USA und in weiten Teilen Europas haben die Wirtschaftskrise ohne Zweifel deutlich verschärft.

Das Problem diesmal könnte nur sein, dass die Notenbanken und auch die meisten Finanzminister ihr Pulver in den vergangenen Jahren schon weitgehend verschoßen haben. Ein Leitzins, der schon unter der Nulllinie liegt, lässt sich kaum noch senken. Schuldenstände, wie z.B. in Italien (160 % des BIP) lassen kaum noch Spielräume für „Konjunkturspritzen“. Und was kann ein US-amerikanischer „Schatzkanzler“ noch tun, wenn er schon jetzt fast 1 Milliarde Dollar für Zinsen aufbringen muss – und das täglich.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Die Hoffnung bleibt, dass es schon nicht so schlimm kommen wird. An den „Corona-Börsen“ scheinen trotz trüber Konjunkturaussichten immer noch genug Bullen auf dem virtuellen Parkett. An den Börsianern scheinen momentan alle Negativmeldungen wie Tropfen an einer Teflonpfanne abzuperlen. Und auch der mediale Mainstream scheint beim Thema „Wirtschaftliche und soziale Folgen des Shutdown“ bisher noch voll auf Entwarnung zu setzen. Die Meldungen der Wirtschaftsverbände und der Wirtschaftsforschungsinstitute muss man oft im Kleingedruckten suchen und in den Hauptnachrichtensendungen sucht man einschlägige Meldungen noch weitgehend vergebens. Unter dem Motto: „Olafs Bazooka“ und „Lagardes Druckerpresse“ werden das Gespenst der Rezession schon rechtzeitig bannen.

Hoffentlich liegen die „Hoffnungsträger“ richtig und hoffentlich gehts rasch wieder aufwärts, denn ansonsten dürfte der Marsch durch das wasserlose Konjunkturtal tief und steinig werden.

* Selbst gegen Ende des 2. Weltkrieges, also im Vorfeld der sog. „Stunde Null“ lag z.B. in Deutschland – trotz des Bombenkrieges – das Bruttoanlagevermögen immer noch 20 % über dem Niveau von 1936. Interessant in diesem Zusammenhang sind die einschlägigen wirtschaftshistorischen Forschungen von Werner Abelshauser.

** In Deutschland konnte über umfassende Kurzarbeiterregelungen ein signifikanter Anstieg der Arbeitslosenquote bislang vermieden werden. Derzeit sich laut Bundesagentur für Arbeit über 10 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit. Die „Kurzarbeiterquoten“ nach Branchen und bezogen auf die dort jeweils sozialversicherungspflichtig Beschäftigten: 93 % in der Gastronomie, 87,2 % in der Hotellerie, 75 % in der Luftfahrt und 69 % in der Automobilindustrie. Wie stark der Lockdown schon im März auf die Wirtschaft durchgeschlagen ist, zeigen folgende Daten (Werte jeweils im Verhältnis zum Vorjahresmonat): – 16 % Auftragseingang beim Produzierenden Gewerbe, – 11,6 % bei der Industrieproduktion und – 7,9 % beim Export.