Liberté

Spätestens seit der Französischen Revolution gehören Freiheitsdiskurse zum harten Kern politischer Debatten. Das heißt, wer seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert über Politik redet, redet gleichzeitig immer auch über Freiheit. Besser gesagt, über ein Freiheitsversprechen, das sich im Sog der Demokratisierung moderner Gesellschaften, Schritt für Schritt vom Elitenprivileg zum allgemeinen Grundrecht entwickelt hat. Dass etwas Allgegenwärtiges, etwas tausendfach Kodifiziertes trotzdem störanfällig sein kann, zeigen die aktuellen Debatten im Umfeld der Corona-Krise. Das liegt ohne Zweifel an der ambivalenten Geschichte des Freiheitsbegriffs und an der Tatsache, dass die Botschaft der Freiheit von Anfang an im Spannungsfeld zu anderen konkurrierenden Botschaften stand. Das Verlangen nach Liberté stößt unweigerlich auf das gleichzeitig artikulierte Verlangen nach Sécurité. Und was wäre die Geschichte der bürgerlichen Freiheit ohne die ewige Dualität zwischen Liberté und Égalité?

Als die „Freiheit“ in ihrer modernen Form, das heißt als Freiheit des Individuums*, aus den Gelehrtenstuben der bürgerlichen Aufklärung in die politische Wirklichkeit trat, tat sie das als anti-elitärer Kampfbegriff. Das ökonomisch aufstrebende Bürgertum verlangte nach politischer Mitbestimmung und attackierte die herrschenden Eliten des Feudalsystems (Adel und Klerus) unter der Flagge der Freiheit: Die „Fremdherrschaft“ der Aristokratie und die Dominanz der Kirche abschütteln, die alten Standesprivilegien beseitigen und sich als autonome Glieder einer gewaltenteilig strukturierten „Nation“ neu formieren.

Gleichheit versus Freiheit

Soweit das Ideal! Das Problem war nur, dass sich mit dem „dritten Stand“ gleichzeitig auch der „vierte Stand“ mitmeldete und sich in der zweiten, sprich „jakobinischen“, Phase der Revolution, die Idee des Egalitarismus mit Macht nach vorne schob. Der „Tugendterror“ der Sansculotten vollzog sich zwar im Schatten der „Freiheitsbäume“, verwandelte aber die ursprünglich allein auf Gleichheit vor dem Gesetz ausgerichtete Égalité zum eigentlichen Antipoden der Liberté.  Das auf Eigentum, Gewerbefreiheit und Selbstentfaltung ausgerichtete Bürgertum bekam – kaum zur Macht gelangt – die „soziale Frage“ auf dem politischen Tablett serviert und arbeitet sich bis heute an der Polarität zwischen (individueller) Freiheit und (sozialer) Gleichheit ab.

Sécurité

Mindestens ebenso wirkungsmächtig hat sich im Laufe der Geschichte der letzten 250 Jahre die Dualität zwischen Freiheit und Sicherheit entwickelt. Klar wollten die Bürger des revolutionären Zeitalters frei und selbstbestimmt sein, aber was ist eine freie Gesellschaft wert, die ihr Korsett aus Sicherheit und Ordnung verliert bzw. in der Bürgerkrieg und Anarchie herrschen? Um so heftiger die Umbrüche, um so atemloser die Veränderungsdynamik, um so lauter und vernehmlicher das Verlangen nach Sicherheit.

Anders formuliert: Das Unbestimmte, aus dem noch alles werden kann, kollidiert unweigerlich mit dem Sekuritätsbedürfnis weiter Teile der bürgerlichen Gesellschaft. Anfänglich war es vor allem das Drohpotential der Anarchie, die stetige Angst des saturierten Bürgers vor dem Aufstand der Unterschichten, die den Ruf nach der Staatsgewalt motivierte. Neu hinzu kam etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Ruf nach sozialer Sicherheit, der wachsende Teile des Bürgertums dazu brachte, sich von wichtigen Segmenten der individuellen Freiheit zu trennen. Unter dem Motto: Was nützt mir die Möglichkeit zur freien Selbstentfaltung im liberalen „Nachtwächterstaat“, wenn mich Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit ereilen und niemand da ist, der mir zur Seite steht? Dann doch lieber kollektive Sicherheit statt individuelle Freiheit, oder?

Abwägen statt polarisieren

Eher nicht! Denn hier geht es nicht darum, das eine durch das andere zu ersetzen oder um ein schlichtes Ja oder Nein. Sondern hier geht es offensichtlich darum, beides zu gewährleisten bzw. die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu finden. Ohne Zweifel – das zeigt die aktuelle Corona-Debatte –  ein schwieriges Unterfangen, dessen Spannungsmomente erst in der Krisenlage voll zur Entfaltung kommen.

Wer entscheidet eigentlich über das richtige Maß an Freiheitseinschränkungen zur Steigerung der Sicherheit? Ist die Maskenpflicht in der Phase massiv abnehmender Ansteckung noch verhältnismäßig? Was soll das heißen, wenn alle diejenigen, die sich gegen eine regierungsamtliche Sicht wenden, in weiten Teilen der Medien unisono als „Verschwörungstheoretiker“ tituliert werden? Sind alle, die sich gegen Einschränkungen der Versammlungsfreiheit oder beispielsweise gegen eine Impfpflicht oder gegen Immunitätsausweise artikulieren, „Freiheitsspinner“ oder „Grundrechtsquerulanten“?

Balance wiederfinden

Es geht hier – man kann es gar nicht oft genug betonen – um die eigentliche Essenz unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Substanz unserer politischen Kultur. Schaffen wir es den krisenbedingt aus den Fugen geratenen Balancezustand zwischen Freiheit und Sicherheit wieder herzustellen? Wird die übermächtige Exekutive, die gerade dabei ist den administrativ verordneten Shutdown auf administrativem Wege wieder rückgängig zu machen, auch ihre Sondervollmachten wieder vollständig zurückgeben? Oder zugespitzt formuliert: Was soll das bedeuten: Maskenpflicht bis der Impfstoff da ist und bis dahin „neue Normalität“? Heißt das „Grundrechte nur noch hinter der Maske“ und das für die nächsten Jahre, möglicherweise Jahrzehnte?**

Fest steht: So wichtig die Virologie als Wissenschaftszweig und als Ratgeber in epidemischen Krisenlagen sein mag, über die Zukunft unserer freiheitlichen Demokratie und über die Zukunft unserer wirtschaftlichen und sozialen Existenzgrundlagen sollten keinesfalls Virologen entscheiden. Ein zweiter, umfassender Shutdown würde die Welt, wie wir sie kennen, bis zur Unkenntlichkeit verändern. Nicht nur unser hart erarbeiteter Wohlstand würde sich auf dramatische Weise reduzieren, wir würden auch unsere so elementaren sozialen Schutzmechanismen flächendeckend aufs Spiel setzen.

Umfassende Risikoanalyse unverzichtbar

So bitter es klingen mag: Auch die moderne Gesellschaft mit ihren schier grenzenlosen technisch-wissenschaftlichen Potentialen wird weiterhin mit erheblichen Restrisiken leben müssen. Und auch der Schutz vor Virusinfektionen hat – vor allem,  wenn wir ihn zur obersten Priorität erklären – unter Umständen einen extrem hohen Preis. Einen so hohen Preis, dass wir – wie im aktuellen Fall – um die Grundlagen unserer ökonomischen und sozialen Existenz fürchten müssen. Wägen wir im Blick auf eine mögliche „zweite Welle“ die Risiken unter Hinzuziehung aller relevanten Aspekte und Professionen noch einmal umfassend ab und entlassen wir „Madame Liberté“ aus der Quarantäne, ehe es zu spät ist!

* Der „alte“ Freiheitsbegriff der Antike bezog sich vornehmlich auf Kollektive. Völker reklamierten für sich „das Recht nach dem Herkommen zu leben“ und rechtfertigten damit ihren Kampf gegen die als fremd empfundene Herrschaft.  Im Mittelalter gab es zudem die „Freiheiten“ (z.B. Domfreiheit) als Ortsbezeichnungen für Sonderzonen eigenen Rechts.

** Gegen das Ende 2002/ Anfang 2003 erstmals aufgetretene SARS-Virus gibt es trotz massiver Bemühungen der Wissenschaft bis heute keinen Impfstoff. Im Zusammenhang mit dem HI-Virus, das erstmals Anfang der 80er Jahre pandemisch auftrat, wurden bis heute rd. 500 Anläufe für die Impfstoff-Entwicklung unternommen. Aktuell gibt es immer noch keine geeigneten Vakzine.