Fallhöhen

Das Leben ist ein Auf und Ab. Wer will es bestreiten. Mal läufts wie geschmiert, mal sackt der Traum wie ein leerer Luftballon in sich zusammen. Da wir uns als „Bodenständige“ ganz überwiegend vor und zurück bewegen, fällt es uns oft schwer, die Veränderung in der Vertikalen angemessen zu verstehen. Während uns in der Horizontalen regelmäßig das Schrittmaß reicht, um Entfernungen zu „ermessen“, verwenden wir in der Höhe viel öfter die mathematische Relation, zumeist ausgedrückt in Prozenten, mit positiven oder negativen Vorzeichen. Das hilft in der Regel das Auf und Ab besser zu verstehen. Was wir dabei regelmäßig verkennen, ist die Tatsache, dass die Dimension des Auf und Ab wesentlich mit der Ausgangslage variiert. Anders formuliert: Um so exponierter unser Standort, um so mühsamer die nächste Stufe und um so tiefer der Fall, wenn es mal bergab geht. Und um so niedriger das Ausgangsniveau, um so größer die Aufstiegschancen nach oben und um so geringer die Fallhöhe nach unten.

Wer sich auf das abenteuerliche Feld der „Fallstudien“ begibt, kommt im ersten Zugriff an Ikarus, dem Sohn des Daidalos, dem eigentlichen Prototypus des „gefallenen Helden“ schlichtweg nicht vorbei: Jugendlicher Überflieger ignoriert die väterliche Weisung, schwingt sich mit einem prekären Fluggerät in schwindelnde Höhen, kommt dann, vom Höhenrausch befallen, der Sonne gefährlich nah, schmiert ab und stürzt jäh in die Tiefe. Eine einfache Geschichte, ein simpler Mythos, aber voller Pädagogik und bis zum Rand angefüllt mit der dramatischen Warnung vor den Gefahren der menschlichen Hybris.

Das Eva-Prinzip

Noch wirkungsmächtiger als das ikarische Prinzip steht der westlichen Menschheit die große alttestamentarische Fallstudie aus der biblischen Genesis vor Augen: Eva, nach endlos langen Sonn(en)tagen, des Paradieses überdrüssig, ignoriert die Gebote des Herrn, gerät in Versuchung, pflückt – getragen vom Höhenrausch des menschlichen Wissendrangs – die Frucht vom Baum der Erkenntnis und treibt im Windschatten ihrer „Erbsünde“ – so zumindest die mosaische Überlieferung – nicht nur ihre Familie und ihre unmittelbaren Nachkommen, sondern die gesamte nachfolgende Menschheit ins (Jammer-)Tal der Tränen.

Irre, möchte man meinen! Eine Geschichte zum Abgewöhnen. Eine moralinsaure Aufforderung zur permanenten Demutsgeste. Aber dennoch über Jahrhunderte hinweg verblüffend wirkungsmächtig und Vorbild für unzählige, religiöse und profane Lehrstücke zur Eindämmung der menschlichen Vertikalspannung.

Weltgeist zu Pferd

Dass das Geschlecht der Ikarier trotz solcher religiös-therapeutischen Fallstudien nicht ausgestorben ist, sondern im Gegenteil in allen historischen Epochen immer wieder demonstrativ seinen Kopf herausgestreckt hat, ließe sich dutzendfach an konkreten Beispielen belegen. Genannt sei hier nur einer der wohl schillerndsten Gipfelstürmer der jüngeren Menschheitsgeschichte, nämlich Napoleon Bonaparte. Zunächst der atemberaubende Aufstieg: Unbesiegbarer Feldherr und charismatischer Menschenfänger, dann selbstgekrönter Kaiser und schließlich sogar „Weltgeist zu Pferd“ von Hegels Gnaden. Nichts schien den genialen Usurpator aufhalten zu können. Keine Gegenmacht schien ihm gewachsen. Doch dann der tiefe Fall: Gescheiterter Rußlandfeldzug, Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig und dann nach einem merkwürdigen 100tägigen Comeback, der endgültige, ultimative Absturz mit der Niederlage von Waterloo.

Kipppunkte

Die napoleonische Fallstudie ist insofern besonders erhellend, weil sie die oben beschriebenen Lageveränderungen in beiderlei Gestalt exemplarisch offenlegt. Der kleine Korse kommt buchstäblich von ganz unten, erklimmt – begünstigt durch die Wirren der Revolution – in raschem Tempo eine für seine Verhältnisse privilegierte Stellung als Armeegeneral an der oberitalienschen Front. Der Aufstieg kommt aber nicht zum Stehen, sondern geht mit noch höherem Tempo weiter, erreicht schließlich über steile Hochgebirgspfade immer ausgesetztere Gipfelregionen, um dann – nach Überschreiten eines Kipppunktes –  abrupt in den dramatischen Absturz umzuschlagen.

Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Frage nach möglichen Gesetzmäßigkeiten für solche Fallkonstellationen auf. Gibt es vorhersehbare Kipppunkte am Ende solcher Aufstiegspfade? Gibt es identifizierbare Warnsignale, die uns vor dem Erreichen solcher Kulminationspunkte alarmieren? Oder bleibt am Schluss doch nur die schlichte, wenig befriedigende Erkenntnis: Wer hoch steigt oder hoch hinaus will, muss jederzeit darauf gefasst sein, tief zu fallen!

Schlußfolgerungen

Was heißt das nun für unsere Gegenwart? Können wir bezogen auf unsere aktuelle Krisenlage aus solchen historischen Fallstudien lernen? Dass es kein Zurück mehr zu alttestamentarischen Demutsübungen geben kann, dürfte auf der Hand liegen. Abgesehen davon, dass es so gut wie niemanden mehr geben dürfte, der einem das dunkle Sündennarrativ abnehmen würde.

Aufschluss- und lehrreicher ist da schon die Legende des Ikarus. Denn im Grunde sind wir, angesichts unserer hochgradig schuldenfinanzierten Levitationsprojekte, allesamt zu praktizierenden Ikariern geworden. Unsere Fluggeräte sind zwar solider und leistungsfähiger geworden, aber das übermütige Herumkreisen in Sonnennähe prägt mittlerweile den Alltag von Millionen.

Systeme höherer Ordnung

Um jedoch unseren Gegenwartsproblemen wirklich näher zu kommen, dürfte selbst das napoleonische Exempel nicht mehr ausreichen. Denn so bedeutsam auch heute der genialische Einzelkämpfer, z.B. in Wissenschaft, Kunst und Kultur sein mag, die moderne Gesellschaft muss in Systemen denken. Und wenn es heute etwas gibt, was das Agieren in Höhenlagen prägt, dann ist es die Fähigkeit zum Umgang mit hochkomplexen, interaktiven Systemen.

Anders gesagt: Heute ist derjenige oben, der in der Lage ist auch in dünner Luft solche komplexen Systeme zu beherrschen. Nehmen wir nur unser Wirtschaftssystem, das mittlerweile einen beispiellosen Komplexitäts- und Vernetzungsgrad erreicht hat. Das gilt für die Unternehmen, deren Planungs- und Produktionsprozesse, aber insbesondere auch für die Ökonomien selbst, die angesichts der an vielen Stellen bereits ausgereizten Produktivitätsspielräume, zusätzlichen Mehrwert nur noch durch immer weitere Schritte der grenzüberschreitenden, arbeitsteiligen Vernetzung erzielen können.

Achtung, Absturzgefahr!

Genau das macht die gegenwärtige Corona-Shutdown-Krise so gefährlich. Im Gegensatz zu den deutlich geringer vernetzten, z.T. noch auf Subsistenzniveau agierenden Ökonomien des globalen Südens, sind die hochentwickelten Volkswirtschaften des Westens als dynamische Systeme höherer Ordnung auf geradezu elementare Weise auf lückenlos funktionierende Netzwerke sowohl auf der Beschaffungs- als auch auf der Absatzseite angewiesen.

Ausgerechnet diese systemischen Netze wurden in den zurückliegenden Wochen auf beispiellose Weise administrativ eingefroren bzw. außer Funktion gesetzt. Was sich wiederum – wir spüren es allerorten – in drastischer Weise auf die Steuerungsmechanismen der Systeme auswirkt. Es läßt sich jetzt schon in der Frühphase der Wirtschaftskrise erkennen, dass die Störanfälligkeit eindeutig unterschätzt wurde.

Bezogen auf die Ausgangslage und die damit verbundene potentielle Fallhöhe unserer Volkswirtschaften stehen wir deshalb, was die nähere Zukunft anbetrifft, vor gewaltigen Herausforderungen. Die Hoffnung, dass ausgerechnet die deutsche Wirtschaft besonders glimpflich durch die Krise kommt, könnte sich vor dem Hintergrund der beschriebenen „Komplexitätsfalle“ als trügerisch erweisen. Wer dermaßen im internationalen Verbund wirtschaftet, ist besonders empfindlich, wenn die Netze reißen.

Abstieg oder Absturz?

Wir haben unser Basislager bereits vor vielen Jahren verlassen, sind echte Hochalpinisten geworden und haben uns für das Eisklettern in schwindelerregenden Höhenlagen entschieden. Das uns mal für eine längere Wegstrecke jemand die Sauerstoffgeräte bzw. die lebenserhaltenen Systeme ausschalten würde, damit konnten wir nicht rechnen. Ob wir es schaffen, den kontrollierten Abstieg aus der Gipfelzone in ein sicheres Höhenlager hinzubekommen, ist derzeit noch völlig offen. Der Blick in die Tiefe jedenfalls ist schwindelerregend und angesichts der Fallhöhe und der akuten Absturzgefahr können wir uns nur auf die Kreativität, die Lösungskompetenz und den Wagemut unserer Gipfelcrew verlassen. Drücken wir die Daumen!