Unterm Regenbogen

München leuchtet!* – Vielleicht nicht ganz so hell, kulturgesättigt und kunstsinnig wie zur Zeit der Gebrüder Mann, der Gräfin Reventlow oder der Schwabinger Boheme um 1900, aber doch auffallend bunt. So bunt, dass selbst der ansonsten so nüchterne Oberbürgermeister starke Leuchtmittel hervorholt, um anläßlich der Fußball-Europameisterschaft das heimische Fußballstadion mit dem Regenbogen zu illuminieren. – Was ist da los? Was hat es auf sich mit der EM 2021 und mit der neuen Buntheit auf und neben dem Platz? Und wo ist eigentlich der sportliche Kern der Sache abgeblieben?

Fußball – so heißt es – ist die schönste Nebensache der Welt. Wer mal in seiner Jugend hinter dem runden Leder hinterhergehechtet ist, weiß was gemeint ist. Freude am Spiel, am Wettbewerb, am Kräftemessen und am gemeinsamen Torjubel. Nach 90 Minuten ausgepumpt und verschwitzt in die Kabine, oft die Wunden einer Niederlage leckend, aber immer als Team oben auf und stets getragen vom sportlichen Gemeinschaftserlebnis.

Haltungsnoten

Dass die Fußball-EM 2021, die in diesen Tagen über die Mattscheiben und Computerbildschirme flimmert, den Blick für diesen sportlichen Kern der Sache fast vergessen läßt, liegt nur bedingt an den Kickern selbst. Die mühen sich wie eh und je. Ackern und schwitzen. Dribbeln und spurten!

Dass es diesmal zumindest in …Schland nur noch am Rande um Fußball zu gehen scheint, hat vor allem mit den Medien zu tun, die es schon kurz nach dem Anpfiff geschafft haben, das Event aus dem Sport- in den Politikteil der Tageszeitungen, Fernsehformate und Web-Seiten zu verlagern. Da rollt zwar weiterhin der Ball, aber nicht mehr als Sportgerät, sondern als Menetekel einer neuen Zeit, in der es nicht mehr so sehr ums Kräftemessen zwischen Athleten, sondern ums „Zeichen setzen“ und „Haltung zeigen“ geht.

Botschafter und Sinngeber

Aber halt: Was hat die Politik auf dem Platz verloren? Kann das überhaupt gut gehen: Flanken schlagende, Tore schießende Profi-Kicker, die nicht fürs Geld, für die Fans oder für den Trainer in die Arena steigen, sondern für die „gute Sache“, als „Botschafter“ einer politischen Idee oder gar als Sinngeber im aufgeladenen Streit um die politische Deutungshoheit?

Wie nutzbringend die Arena für das politsche Geschäft sein kann, haben schon die alten Römer erkannt. Das panem et circenses der Cäsaren diente einerseits zur Unterhaltung und Ablenkung der Massen, andererseits aber auch zur Übermittlung politischer Botschaften. Sei es nur um die verschwenderische Macht der Potentaten live zu zelebrieren.
Diese auf Repräsentanz und Unmittelbarkeit ausgerichteten Kommunikationsmotive wirkten lange nach und halfen den politischen „Zirkusdirektoren“ über Jahrhunderte hinweg beim Ausleben ihrer Deutungsmacht.

Stellvertreterkriege

Dass dabei der friedliche Wettstreit um den Siegeslorbeer, der in der olympischen Idee seine Vollendung gefunden hat**, unter dieser politischen Aufladung massiv leiden kann, hat sich vor allem im Kalten Krieg zwischen Ost und West von den frühen 50er bis in die späten 80er Jahre hinein deutlich offenbart. Die anabolen Steroide, die damals in großen Mengen ihre Runde durch die Sportstätten und Trainingslager machten, waren nicht nur (illegale) Doping-Präparate, sondern handfeste „Rüstungsgüter“ im Wettstreit der „Blöcke“.

Wer heute auf die Szenerie schaut, entdeckt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ähnlich sind auf jeden Fall die Streitmuster, die Gebärden und auch die Gesten. Der politische „Stellvertreterkrieg“ läuft in den Katakomben unterschwellig mit. Der Sport fungiert als Folie vor dessen Hintergrund sich die Entsender-Staaten politische Spiegelgefechte liefern.

Transnationale Botschaften

Anders und prinzipiell neuartig ist der veränderte Streitinhalt. Waren bis vor kurzem durchwegs national konnotierte Botschaften, unterlegt von Nationalfarben und Nationalhymnen, en vogue, sind es seit neuestem transnationale, überwiegend moralisch gefärbte Missionen, die in die Arena getragen werden. Die Überbringer der Botschaften sind nach wie vor die Sportler selbst, darüber hinaus aber auch „aktivistische“ Fans auf den Rängen, die ihre Nationalfarben zu Hause lassen und stattdessen kniend bzw. Regenbogenfahnen-geschürzt offensiv „Zeichen setzen“.***

Auffallend dabei sind die starken Emotionen, die durch diesen politischen Aktivismus auf und neben dem Platz ausgelöst werden. Nicht nur bei den Protagonisten selbst, sondern auch bei ihren Kritikern, die das Ganze als Provokation empfinden und eine widerrechtliche Kaperung des Sportevents durch politisch aufgeladene Farben und Gesten befürchten.

Spaltung auf und neben dem Platz

Die Folge von alldem ist nicht nur die oben beschriebene Überlagerung des an sich „politikfreien“ Sportevents durch moralisch-politische Botschaften, sondern mehr noch ein Spaltungseffekt zwischen den beteiligten Mannschaften, den Fangruppen und den Partei ergreifenden politischen und medialen Milieus.

Überdeutlich sichtbar wurde das im Zusammenhang mit dem Vorrundenspiel der „Mannschaft“ gegen Ungarn in München am 23. Juni, wo es vor, während und nach dem Spiel zu einer Fülle von z.T. gewollten Mißverständnissen, wechselseitigen Anfeindungen und provokativen Kommentierungen kam: Orban-Ungarn gegen Merkel-Deutschland, Homophobie gegen sexuelle Vielfalt, Ethno-Nationalismus gegen links-grünen Multikulturalismus und vor allem und ohne Unterlass Gut gegen Böse.

Dass das Spiel schießlich 2:2 ausging und dass sich der klare Favorit erst 3 Minuten vor Schluss durch einen glücklichen  Ausgleichstreffer im Turnier halten konnte, war nur noch eine Randnotiz in einem ansonsten hochgradig „unsportlichen“ Wettkampf um die richtige Moral.

LGBTQ

Nun ließe sich an dieser Stelle sicher einiges zur Geschichte der LGBTQ-Bewegung**** im Zeichen des Regenbogens sagen, über ihre Anfänge im Umfeld des Stonewall Inn in Greenwich Village, New York, Ende der 60er Jahre oder über die Etablierung der Pride-Days, der Christopher-Street-Days und der Love-Parades. Interessant wäre hier sicher auch ein Nachzeichnen des wachsenden Einflusses der Homosexuellen-Bewegung auf Politik und Gesetzgebung in den Staaten des Westens.

Schlußfolgerungen

Um den Rahmen der Kolumne aber nicht zu sprengen und um dennoch wenigstens einige kurze Hinweise zum Fortgang der Debatte und zu ihrem Polarisierungspotential zu geben, hier nur zusammengefasst wenige Aspekte:

1.) Die Hoffnung, dass sich große Sportevents nach dem Ende des Kalten Krieges vom Politisierungsdruck befreien können, war trügerisch. Vor allem über die linke Identity-Politics drängen kontroverse Themen mit Wucht durch die Stadiontore und machen es den Veranstaltern (Olympisches Komitee, UEFA. FIFA etc.) fast unmöglich das Ideal der „politikfreien Spiele“ durchzusetzen.

2.) Der Aktivismus der BLM- und LGBTQ-Bewegung hat in Ländern wie Deutschland und den USA einen gewaltigen politisch-medialen Support für alle Formen der Diversity-Kultur erzeugt und dabei historisch gewachsene, an der Kernfamilie ausgerichtete Moralvorstellungen unter Druck gesetzt. Vor allem in traditionell geprägten Milieus in den genannten Ländern, aber auch in Osteuropa, dem Nahen Osten und großen Teilen Afrikas und Südamerikas stoßen Forderungen nach grenzbefreiter sexueller Vielfalt weiterhin auf erhebliche Vorbehalte.

3.) Ein spürbares Legitimationsproblem der neuen sozialen Bewegungen liegt dort vor,  wo im Zusammenhang mit dem „Kampf gegen Diskriminierung“ nachdrücklich mit zweierlei Maß gemessen wird. Während Aktionen gegen Orban-Ungarn, Bolsonaro-Brasilien und Putin-Rußland fast immer gut ankommen und Diskriminierungen mit weißen Tätern in der Regel Solidaritätsdemos und Lichterketten zur Folge haben, finden „Vorfälle“ mit den „falschen“ Tätern in der Regel kaum Beachtung.  Beispiele hierfür liefern der Anschlag auf ein homosexuelles Paar am 4. Oktober 2020 in Dresden, bei dem ein Islamist eines der beiden Opfer tödlich mit dem Messer verletzte oder jüngst die Bluttat eines somalischen Asylbewerbers in der Würzburger Innenstadt am 25. Juni, der es bei seinen Messerattacken offensichtlich allein auf Frauen abgesehen hatte. Von den 9 niedergestochenen Frauen starben 3.  In beiden Fällen blieben entsprechende Solidaritätskundgebungen der einschlägigen Aktivistengruppen weitgehend aus.

4.) Ähnlich problematisch wirkt die Doppelmoral von Unternehmen und Vereinen im Zusammenhang mit der selektiven Unterstützung der Anti-Diskriminierungs-Kampagnen. Während der DFB, „die Mannschaft“ und  wichtige Sponsoren gegen das Orbansche „Homophobie-Gesetz“*****  offen zu Felde ziehen, gibt es anscheinend im Zusammenhang mit der WM 2022 in Katar keine gravierenderen Probleme mit der staatlicherseits verordneten Diskriminierung von Homosexuellen am Golf. Dass dort Homosexuelle hohe Haftstrafen (bis zu 5 Jahren) fürchten müssen, scheint nur wenige ernsthaft zu tangieren. Protest- bzw . Solidariätsaktionen des Spielführers der „Mannschaft“, Manuel Neuer, wie in der Allianz-Arena am 23. Juni, sind nächstes Jahr in Katar kaum zu erwarten. Zu wichtig scheinen FIFA, UEFA und dem FC Bayern der Großsponsor Qatar-Airways und der anvisierte Austragungsort in der arabischen Wüste.

Zusammengefasst bleibt bei der Gesamtbetrachtung der EM 2021 ein bitterer Beigeschmack. Der politische „Bekenntnisdruck“ hat nach dem Football in den USA nun auch den Fußball in Europa erfasst. Die Spieler, die Trainer und die Funktionäre bemühen sich zwar nach Kräften den Erwartungen an ihre „klare Haltung“ gerecht zu werden, sind aber andererseits auch wieder Teil ihrer jeweiligen Nationen und auch hier einem spezifischen Erwartungsdruck seitens der nationalen Regierungen ausgesetzt.

Ob der Sport auf diese Weise eher an Profil gewinnt oder am Ende gar sein Gesicht verliert, werden erst die nächsten Jahre zeigen. Die Einschaltquoten vor allem in Deutschland befinden sich im markanten Sinkflug, was nicht nur mit der nachlassenden Leistungskurve der deutschen Elf zu tun haben dürfte. Um die aufgeworfenen Probleme zu lösen, dürfte ein schlichtes „The game must go on“ auf jeden Fall nicht reichen.

*Die Wendung „München leuchtet“ findet sich in der Novelle „Gladius Dei“ von Thomas Mann und wurde später – oft mit leichtem ironischen Unterton – als Signet für die Kunstmetropole an der Isar zur Zeit des Fin de Siecle Ende des 19. Jahrhunderts gebraucht.

** Die Renaissance der antiken Olympischen Spiele Ende des 19. Jahrhunderts wurde wesentlich durch den Pädagogen, Historiker und Sportenthusiasten Pierre de Coubertin vorangetrieben. Zu den zentralen Prinzipien seiner olympischen Idee gehört – neben dem Amateurgedanken und dem Fair-Play-Prinzip – die Weltfriedensidee bzw. der entwaffnende Grundsatz der Völkerverständigung.

*** Das Niederknien gehört zum Symbolhaushalt der Black-Lives-Matter-Bewegung und hat sich in der Szene als Schlüsselgeste für den Kampf gegen Rassendiskriminierung etabliert. Seinen Ursprung hat das „Niederknien“ im Jahre 2016 als der Quarterback der San Francisco 49er, Colin Kaepernick, aus Solidarität mit schwarzen Opfern weißer Polizeigewalt, bei der Nationalhymne nicht aufrecht mit der Hand auf dem Herzen stehen blieb, sondern niederkniete. Die Geste wird mittlerweile vielfach nachgeahmt, wird aber von ihren Kritikern nach wie vor als Beleidigung der Flagge empfunden. In vielen Fällen quittieren die „Fans“ in den Football-Arenen solche Gesten immer noch mit einem massiven Pfeifkonzert.

**** Die Buchstabenkette LGBTQ steht für „Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender und Queer“ und beschreibt sämtliche sexuellen Präferenzen jenseits einer „heteronormativen“ Orientierung. Seit neuestem wird zusätzlich ein „I“ angehängt, dass für „Intersexual“ steht. Als Symbol dieser insgesamt ziemlich heterogenen Bewegung gilt der Regenbogen, der vor allem bei den Großevents der LGBTQ-Anhänger (Christopher Street-Day etc.) auftaucht, aber – wie die EM 2021 zeigt – auch andernorts entweder als Fanartikel bei Sport- und Konzertveranstaltungen mitgeführt wird  oder aber zur Illumination von Stadien eingesetzt wird. Die insbesondere von der Landeshauptstadt München, aber auch von der Bayerischen Staatsregierung, betriebene „Beflaggung“ der Münchner Allianz-Arena anläßlich des Ungarn-Spiels mit dem Regenbogenmotiv wurde von der UEFA untersagt.

***** Interessanterweise findet sich das inkriminierte Gesetz in den deutschen Medien kaum irgendwo abgedruckt. Dass es vor allem um Kinder- und Jugendschutz geht und der Schwerpunkt auf der Ermächtigung der Familie als oberster Erziehungsinstanz liegt, bleibt dem oberflächlichen Leser deshalb weitgehend verborgen. Im Grundsatz bleibt das Gesetz jedoch weit hinter den westeuropäischen Standards zurück und hat die Debatte über den „Ausschluß“(!) Ungarns aus der EU weiter befeuert.