Gutenberg meets Zuckerberg

Als Mitte des 15. Jahrhunderts in Mainz der Buchdruck mit beweglichen Lettern das Licht der Welt erblickte, ahnte kaum jemand, welch eine ungeheure Wirkungsmacht das Buch und die von ihm abgeleiteten Druckerzeugnisse fortan entfalten würden. Ähnlich verhält es sich in unserer Gegenwart mit dem Medium Internet, das unsere Medienwelt regelrecht revolutioniert und dessen epochale Durchsetzungskraft erst in Ansätzen erkennbar ist. So reizvoll es wäre, einen Blick in unsere schillernde Medienzukunft zu werfen, wollen wir an dieser Stelle nicht spekulieren oder weissagen, sondern versuchen den beiden eminenten Medienrevolutionen durch das Aufdecken frappierender Parallelen näher zu kommen. Anders gesagt: Wer ein klein wenig besser verstehen will, was für uns Zeitgenossen die Zuckerbergsche (Facebook-)Revolution bedeutet, sollte sich zumindest kurz mit den charakteristischen Begleitumständen der Gutenbergschen (Buch-)Revolution befassen.

Die eigentliche „Urfunktion“ aller Medien, der neuen wie der klassischen, ist das Speichern. Diese Funktionalität beginnt in den frühen Hochkulturen mit ihren Pergament- und Papyrusrollen, setzt sich in den mittelalterlichen Klosterbibliotheken fort und prägte lange Zeit auch die moderne Computertechnologie. Das heißt, wer etwas aufschreibt oder abschreibt, etwas „druckt“ oder etwas als Datensatz hinterlegt, will etwas für die Nachwelt festhalten bzw. vor dem Vergessen schützen. Diese basale Funktion von Medien hat sich unerschütterlich über mindestens drei Jahrtausende hinweg bis in die Gegenwart erhalten.

Scharf geschaltet werden Medien aber erst dann, wenn sie „auf Sendung“ gehen. Wenn Sender und Empfänger, Autor und Leser, Quelle und Senke in Interaktion treten. Dann beginnt etwas, was wir heute im weitesten Sinne als Kommunikation bezeichnen. Das Medium wird zum „Übermittler“, zum Kommunikationsmittel, dessen Wirkungsgrad sich an Eigenschaften wie „Zugänglichkeit“, „Benutzerfreundlichkeit“, „Reichweite“ und in jüngster Zeit vor allem am Faktor der „Multimedialität“ (Verbindung von Ton, Text und Bild) misst. Wer verstehen will, warum die Gutenbergsche Erfindung so ungeheure Kräfte freisetzte, muss diese neuen Möglichkeiten der massenhaften Übermittlung von Wissen und Information, vor allem aber von Ideen und Meinungen in den Blick nehmen. Erst mit den Flugschriften und den Pamphleten der Reformation geht das Buch wirklich „auf Sendung“. Es wird vom überwiegend monastischen „Speichermedium“ zum revolutionären „Transportmedium“ neuer Ideen, häretischer Botschaften und abweichender Meinungen. Was das für die damaligen politischen und gesellschaftlichen Zeitumstände bedeutete, kann man sich gut ausmalen. Das Buch schoß wie eine Feuerstrahl durch die jahrhundertlang fest gefügten, in sich geschlossenen Fundamente der alten Welt. Noch heute erschauert die „alte Kirche“, wenn sie an den frei gesetzten Furor der „Reformationsschriften“, der „politischen Streitschriften“ und der buchstäblich weltbildverändernden Lehrbücher der Astronomie denkt.

Was hat das aber nun mit unserer Gegenwart zu tun? Gibt es – wie angedeutet – tatsächlich Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte zwischen Gutenberg und Zuckerberg? – Ja, offensichtlich! Denn nichts scheint unsere Welt derzeit tiefer zu erschüttern, als der Durchbruch der sozialen Medien via Facebook und Twitter. Wie damals das Buch und seine leichtfüßigeren Varianten im Rahmen des Gutenberg-Kosmos durchdringt heute Anfang des 21. Jahrhunderts „Social Media“ fast alle Kapillaren einer sich neu formierenden Zuckerberg-Galaxis. Und wie damals, ist es das „Auf Sendung gehen“ eines neuen Mediums, das Unruhe, Befürchtungen und zum Teil heftigen Widerstand auslöst.

Zunächst scheint es vordergründig nur um die Macht der alten Medien zu gehen, um ihr wankendes Informationsmonopol und noch basaler um ihre traditionelle Geschäftsidee. Wenn sich heute die Redaktionen zu leeren beginnen, wie damals die Skriptorien der Klöster, dann geht es nicht nur um die Zukunft gewachsener Geschäftsmodelle, sondern auch um die Gefährdung vieler individueller Existenzen. Doch offensichtlich geht es noch um viel mehr. Nämlich um nichts weniger, als um das „Wahrheitsmonopol“. Wenn man die verwendeten politischen Vokabeln – allen voran die Mär vom „postfaktischen Zeitalter“- richtig deutet, dann geht es im Ringen zwischen alten und neuen Medien nicht mehr nur um banale Geschäftsmodelle oder vordergründige Wettbewerbsfragen, sondern buchstäblich um „letzte Dinge“. Nicht um religiöse Glaubensfragen oder theologische Grundsätze, aber irgendwie doch um „Ketzertum“, „Häresie“ und „Glaubensspaltung“.

Fast alles, was derzeit zu zentralen politischen Themen, wie Europa, Migration, „Energiewende“ etc. an Meinungen und Wertungen durch den Medienäther hallt, hat irgendwie (moralischen) Grundsatzcharakter. Dass sich „Andersdenkende“ vor allem die sozialen Medien für die Verbreitung ihren abweichenden Meinungen zunutze machen, macht diese in den Augen der alten Medien von Grund auf verdächtig. Wie damals die Luther-Bibel „fake“ war, geraten heute weite Teile von Facebook und Twitter auf den Index. Justiz- und Innenminister entwerfen Gesetze und Verordnungen zur Eindämmung der medialen Subversion und gründen „Wahrheitsagenturen“ und „Abwehrzentren gegen Desinformation“ zur Bekämpfung von „fake news“.

Was geht da vor sich? Stehen wir am Rande eines neuen „Glaubenskrieges“, in dem es nicht mehr um den Austausch von Meinungen und Argumenten, sondern um die moralische Stigmatisierung und öffentliche „Anprangerung“ des Andersdenkenden geht? Das direkte, ungefilterte Aufeinanderprallen von Mediennutzern auf den virtuellen Internet-Plattformen scheint diesen gefährlichen Trend zu begünstigen. Auch der Mißbrauch der „sozialen Medien“ als Tummelplatz für Extremisten und „Haßprediger“ ist Wasser auf die Mühlen der Kritiker. Aber kann das ein Argument für eine rigide staatliche Kontrolle über das World Wide Web sein? Ist Zensur, in welcher Verpackung sie auch immer daher kommt, eine demokratieadäquate Option zur Durchsetzung von „Wahrheit“? – Definitiv nein!

Auch wenn heute unter den Millionen und Abermillionen „Facebook-Usern“ mit medialem Laienverstand „Hate-Speech-Redakteure“ dabei sein sollten, gibt es kein demokratisch legitimierbares Argument für den Einstieg in ein Zensoren-Modell. „Hass“ gehört weder ins Internet noch sonstwo hin! Aber ein strafrechtlich sanktioniertes Verbot von „Lügen“ oder „Falschinformationen“? Was soll das sein? Insbesondere im Zusammenhang mit politischen Auseinandersetzungen? Ist das Verschweigen von Details des „Flüchtlings-Deals“ zwischen Erdogan und Merkel eine Lüge? Gibt es „gute“ und „böse“ Lügen? Ist das hartnäckige Artikulieren von Halbwahrheiten Lüge? – Unbeantwortbare Abgrenzungsfragen, die komplett in die Irre führen, weil sie Debatten nicht beleben, sondern verhindern und weil sie das Potential haben, Meinungsfreiheit generell einzuschränken. Das heilige Gut der Meinungs-und Redefreiheit gehört unabdingbar zum tragenden Fundament eines demokratischen Gemeinwesens. Wer hier Hand anlegt, demontiert nicht nur den Zuckerbergschen Kosmos, sondern fällt im Grunde hinter Gutenberg zurück, der mit seinem phantastischen „Schwarz auf Weiß-Zauber“ erst die Tore für die frei fließende, demokratische Massenkommunikation aufgestoßen hat.