Niemand wird behaupten können, dass es sie nicht gegeben hätte: die Mahner, die kritischen Auguren auf dem Felde der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Es gab sie durchaus, die Stimmen an der Peripherie des medialen Mainstreams, die das Zuviel in der Geldpolitik, das Zu-Einseitig in der Energiepolitik und das Zu-Optimistisch in der Außen- und Sicherheitspolitik kritisiert haben. Nur hören, wollte man sie nicht. Jetzt, wo der Kahn auf Grund zu laufen droht und sich ein Großteil der Vorhersagen zu bewahrheiten scheint, will es – wie so oft in solchen Situationen – keiner so recht gewesen sein.
Was wir derzeit erleben, ist sowohl systemisch als auch historisch, ein absolutes Novum. Ein an sich erfolgreiches, im Kern gesundes ökonomisches System hat in einem jahrelangen Prozess seinen energetischen Maschinenraum in seine Bestandteile zerlegt. Wichtige Bauteile, vor allem in Form von grundlastfähigen Kraftwerken wurden ausgebaut und ohne vollwertigen Ersatz verschrottet. Statt stabile Versorgungssicherheit im 24/7-Modus zu gewährleisten, wurde ein moribundes System aus „Zappelstrom“ und importiertem „Russen-Gas“ etabliert.
Zugleich droht dem seit Jahren chronisch überstrapazierten Geldsystem die beschleunigte Auszehrung („Billigeldpolitik“). Das Geld verliert massiv an Wert, büßt wesentliche Teile seiner Wertaufbewahrungs- und Tauschfunktion ein und erodiert mit Siebenmeilenstiefeln zur Weichwährung. Währendessen branden weiterhin riesige Geldmengen gegen ein massiv verknapptes Güterangebot und lösen einen Preisschub nach dem anderen aus.
Verwerfungen an der Preisfront
Beide Phänomene – die energetische Krisenlage und der geldpolitische Overstretch – wirken akut systemgefährdend, weil sie wichtige Allokations- und Wettbewerbsmechanismen außer Kraft setzen. So büßt das marktwirtschaftliche Anreizsystem mit seinen eigentlich systemrelevanten Knappheitssignalen zunehmend seine Funktionsfähigkeit ein.
Die massiven Geldüberhänge, die bisher vor allem gigantische Vermögenspreisblasen (Immobilien, Aktien) produziert haben, pflanzen sich unkontrolliert auf den Konsumgütermärkten fort. Während die Preise für Güter des täglichen Bedarfs überschießen, werden Strom, Gas und Benzin zu raren Luxusgütern. Am Ende verteuern sich über „Zweitrundeneffekte“ alle Produkte, die größere herstellungsbedingte Energieanteile enthalten und belasten in ständig steigendem Maße die Haushaltskassen der Bürger.
An Symptomen kurieren
Eine Reihe von Indizien sprechen dafür, dass die politischen Entscheidungsträger zumindest in Teilen Europas aktuell keine Möglichkeit mehr sehen die Preislawine zu stoppen. Statt die Inflation zu bekämpfen, sollen die Folgen der Inflation gedämpft werden. Statt die immer bedrohlicher werdende Enteignung von Sparern und Lohnempfängern zu beenden, werden „Hilfspakete“ für einzelne Betroffenengruppen „geschnürt“.
Der politische Druck auf die Europäische Zentralbank zur Eindämmung der Geldflut ist minimal. Dass die EZB aktuell versucht eine fast 10prozentige Inflation mit einem 0,5prozentigen Refinanzierungs-Leitzins zu „bekämpfen“, stößt kaum auf nennenswerte Kritik. Zu groß ist die Sorge, nach den Verwerfungen an der Preisfront auch noch fiskalische Zusammenbrüche im hoch verschuldeten „Club Med“ zu riskieren.
Gas-Lücke nicht zu schließen
Mittlerweile dürfte in Brüssel und Berlin auch dem Letzten klar geworden sein, dass die Energiewende-bedingte Abhängigkeit von russischem Gas (Erdgas als zentraler „Grundlast-Anker“ für die Erneuerbaren) kurz- und mittelfristig nicht zu kompensieren sein dürfte. Die politischen Bemühungen zum „Lückenschluss“ in den zurückliegenden (Kriegs-)Monaten sind entweder gescheitert (Katar) oder im Nachgang zu „perspektivischen Langfristmaßnahmen“ umgewidmet worden („Wasserstoffallianz“ mit Kanada). Am Schluss bleibt der forcierte Einsatz von Waschlappen und das Limitieren von Duschzeiten als Ultima Ratio einer gescheiterten Energiepolitik.
Erste Produktionsstopps, Betriebsstilllegungen und „Notabschaltungen“ zeigen, wie ernst die Lage ist. Das „Hochfahren“ von künstlich verknappten „Grundlaststromquellen“ scheitert weniger an technischen, sondern vor allem an ideologischen Hürden. Statt endlich den Weiterbetrieb der drei noch verbliebenen deutschen Kernkraftwerke auf den Weg zu bringen, wird die „Verstromung“ von teurem und immer knapper werdenden Erdgas vorangetrieben.
5 D-Mark je Liter
Hatte die Forderung der Grünen nach einem Benzinpreis von fünf D-Mark im Jahre 1998 noch heftige Proteste ausgelöst, operieren wir heute knapp 25 Jahre später zu einem Gutteil bereits jenseits dieser Schwelle. Staatlich verordnete „Preisdeckel“ an den Zapfsäulen verdampfen im Nu in der Hitze des inflationären Feuers.
Angesichts des gestreckten Preis-Gallops dürfte es schwierig sein, die ökonomisch-energetische Mangellage in wichtigen Bereichen der westlichen Volkswirtschaften noch zu verhindern. Wenn selbst bisher nur als sanfte Begleitorchester agierende Wirtschaftsverbände das ganz schwere rhetorische Besteck herausholen (u.a. DIHK-Chef Peter Adrian: „Drohende Wohlstandsverluste in unvorstellbarem Ausmaß“), geht auch den medialen Zweckoptimisten zunehmend die Luft aus.
Preiskrise = Soziale Krise
Der Kampf um das „korrekte“ Narrativ zur Erklärung der Lage in den bevorstehenden Krisenmonaten hat längst begonnen. Wie tief die Bruchzonen in den europäischen Gesellschaften sein werden, wird entscheidend davon abhängen, inwieweit es gelingt über mediale Multiplikatoren einzig und allein den Ukraine-Krieg für die Misere verantwortlich zu machen. Sobald vorausgegangene, hausgemachte Fehlentscheidungen als Krisenerklärung verstärkt in den Blick geraten, dürfte der Unmut in weiten Teilen der Gesellschaft nur schwer einzudämmen sein.
Die „Kriegsmüdigkeit“ (Baerbock) in Europa scheint schon jetzt in den laufenden Spätsommertagen erhebliche Ausmaße anzunehmen. Massendemonstrationen in Prag, das öffentliche Verbrennen von Stromrechnungen an verschiedenen Orten in Italien und erste „Schuldzuweisungen“ an die Adresse von bisher ausnahmslos gefeierten „Krisenmanagern“ müssen wohl als erste Vorboten einer wachsenden sozialen Unrast gewertet werden.
Solidarität statt Spaltung
Solidaritätsappelle und Aufforderungen zum „Unterhaken“ sind in der aktuellen Lage sicher nicht falsch. Selbst in Gesellschaften, in denen der patriotsche Kitt über Jahrzehnte hinweg systematisch aus den Fugen gekratzt wurde, können Appelle an das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürger durchaus solidarische Kraft mobilisieren. Eine vorweggenommene Stigmatisierung von sozialen Protestaktionen als „rechtsextrem“ dürfte sich kaum dämpfend auf die emotionale Krisenlage auswirken.
Hoffen wir auf die angeborene Kraft des Menschen sich auch an krisenhafte Veränderungen anzupassen. Die in den letzten Jahren beinahe schon in Verruf geratene Fähigkeit von Homo sapiens zur Eigenverantwortung wird in den kommenden Monaten dringender gebraucht denn je.