Außenpolitik und Diplomatie sind sensible Felder. Es gibt nur wenige Bereiche zwischenmenschlicher Kommunikation, in denen Worte so behutsam gewählt, so penibel abgewogen werden, wie auf dem Felde der zwischenstaatlichen Diplomatie. Dennoch gibt es auch hier den harten Anschlag, das schwere verbale Geschütz, das Schmerzgrenzen markieren und Grenzen setzen soll. Zu diesem besonderen Vokabular gehört zweifellos die „rote Linie“, die von Außenpolitikern und Diplomaten vor allem dort gesetzt wird, wo es brenzlig wird, wo es gilt, der Gegenseite Haltelinien oder Grenzmarkierungen aufzuzeigen. Besonders brisant wird das wechselseitige „Bis-hierher-und-nicht-weiter“ in Zeiten des Krieges, wo sich regelhaft zwei rote Linien aufeinander zubewegen und wo verbale Eskalation fast immer in unmittelbar reale Eskalation mündet.
Ein besonderes Lehrstück für das brisante Spiel mit den roten Linien bietet der mittlerweile im zehnten Monat andauernde Ukraine-Krieg. Es fehlt hier der Raum für eine detaillierte Betrachtung der Vorgeschichte dieses militärischen Konflikts, aber wenn sich zumindest die westliche Expertenzunft über etwas einig zu seien scheint, dann über die These, dass ein früheres, deutlicheres Aufzeigen roter Linien seitens des Westens durchaus einen gewichtigen Beitrag zur Eindämmung der russischen Angriffspläne hätte leisten können.
Früh Grenzen setzen
Warum das damals nicht geschah und warum die westlichen Reaktionen nach der Krim-Invasion im Jahre 2014 dermaßen zahnlos ausfielen, darüber lässt sich heute leidlich streiten. Fest steht jedenfalls, dass kluge Diplomatie, die sich das Verhindern von Kriegen zum Ziel setzt, immer dann besonders erfolgreich ist, wenn es ihr gelingt, dem potentiellen Aggressor rechtzeitig und vernehmbar Grenzen aufzuzeigen.(1)
Wer hier im Nachhinein von Versagen spricht, setzt bei den damals handelnden Personen ein gerüttelt Maß an prophetischen Gaben voraus. Bis um die Jahreswende 2021/22 konnte kaum jemand ahnen, dass der Kreml tatsächlich Ernst machen und seine Truppen über die ukrainische Grenze schicken würde.
Glaubwürdig drohen
Nüchtern betrachtet, lag das Problemfeld ohnehin tiefer. Wer rote Linien gegenüber autoritären Regimen setzen will, muss glaubwürdig drohen können. Armeen, die nur für zwei Tage Munition haben und deren militärische Doktrinen mehr auf bewaffneter Entwicklungshilfe statt auf handfester Abschreckung basieren, sind im Zweifel keine geeigneten Instrumente um diplomatischen Interventionen in Spannungsphasen den notwendigen Nachdruck zu verleihen.
Nun stecken wir drin im Dilemma. Das Kind ist in den Brunnen gefallen und wie wir es dort wieder heraus bekommen, darüber gibt es zumindest gegenwärtig nicht einmal geeignete Blaupausen. Stattdessen läuft der typische Eskalationsmechanismus kriegerischer Auseinandersetzungen, der ganz offensichtlich anderen Gesetzen folgt als der verbale Schlagabtausch auf der diplomatischen Bühne.
Zermürbungskrieg
Gefechtsfelder, das dokumentiert die Militärgeschichte anhand Hunderter von Beispielen, sind niemals statisch. Die Kämpfe, die dort toben, vollziehen sich wellenförmig und tendieren immer dann, wenn die schnelle Entscheidung ausbleibt, zum Zermürbungskrieg. Zur Materialschlacht, in der beide Seiten immer mehr Reserven in den Kampf werfen, sich das Gefecht aber entlang tief gestaffelter Verteidigungslinien festbeißt.(2)
Der Kreml, das lässt sich jetzt schon deutlich erkennen, spekulierte im Februar 2022 auf einen „Blitzkrieg“, auf eine Art Kommandoaktion zur raschen Niederwerfung der ukrainischen Armee. Sowohl der massive Einsatz von Luftlandetruppen hinter den gegnerischen Linien, als auch die vielen dezentralen Aktionen gegen strategische Schlüsselpositionen und vor allem der limitierte Kräfteansatz sprechen für eine solche Ausgangsplanung.(3)
Obwohl das Scheitern der „Sonderoperation“ schon nach wenigen Tagen offensichtlich wurde und die Verluste der unkoordiniert operierenden Truppenteile rasch verheerende Ausmaße annahmen, dauerte es bis in den Spätsommer ehe der Kreml durch eine Teilmobilmachung, den verschärften Einsatz der Luftstreitkräfte gegen Infrastruktur-Ziele und den massiven Ausbau der Feldstellungen auf einen längerfristig angelegten Zermürbungskrieg umschwenkte.
Völkerrechtswidrige Grenzüberschreitungen
Während die Bewegung am Boden erstarrte, überschritt die russische Militärführung mit ihren überlegenen Luftstreitkräften, ihrem Raketenarsenal und ihren (iranischen) Drohnen eine rote Linie nach der anderen, vor allem in dem sie – viel stärker als das zu Beginn des Krieges der Fall war – rein zivile Ziele ins Visier nahm. Nun im Herbst und Winter sind es vor allem Einrichtungen der Energieerzeugung sowie der Gas- und Stromverteilung, die unter Beschuss geraten.
Die rollenden Einsätze gegen die ukrainische Energieinfrastruktur zielen im Endresultat offensichtlich darauf ab, die Moral der Zivilbevölkerung zu brechen und nehmen dabei kaum noch Rücksicht auf kriegsvölkerrechtliche Normen. In diesem Kontext erinnert der Ukraine-Krieg immer mehr an die Kriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wo der Nicht-Kombattanten-Status der Zivilbevölkerung bzw. die Grenze zwischen Schlachtfeld und zivilem Sektor zunehmend verschwimmen.
NATO – Kriegspartei oder nicht?
Zunehmend riskant wird das Hoch-Risiko-Spiel mit den roten Linien durch die immer tiefergehende Involvierung der NATO in den Konflikt. Was zunächst als vornehmlich verbale Rückenstärkung für den ukrainischen Widerstand begann, entwickelte sich zunehmend zu einer der größten militärischen Unterstützungsmissionen der jüngeren Militärgeschichte.
Anknüpfend an die Konzepte der großen Lend and Lease-Programme der Jahre 1941 bis 1945 und Maß nehmend an den oft viele Jahre andauernden „Stellvertreterkriegen“ im Rahmen des Ost-West-Konflikts zwischen 1945 und 1989 lassen sowohl die US-Amerikaner als auch ihre europäischen Verbündeten immer mehr ursprünglich selbst gesetzte Haltelinien hinter sich.
Die Felder auf denen sich dieser Prozeß vollzieht, sind schnell umschrieben: a) Die Ausbildung ukrainischer Soldaten durch NATO-Instrukteure – mittlerweile wohl auch verstärkt auf ukrainischem Boden. b) die Bereitstellung von Flugabwehrsystemen, die in der Lage sind tief in russisches Territorium hineinzuwirken (Patriot-Raketensysteme), c) die Lieferung schwerer Panzer (Marder), die sich aufgrund Bewaffnung und Panzerung auch für die offensive Kriegführung eignen und d) umfassende Bereitstellung von NATO-Aufklärungsdaten zur Bekämpfung russischer Stützpunkte und Truppenansammlungen auch im tieferen Hinterland.
Logistikdrehscheibe Wiesbaden
Fast alle diese Maßnahmen werden mittlerweile zentral über NATO-Hauptquartiere vor allem in Belgien und Deutschland gesteuert. So hat sich zwischenzeitlich am US-amerikanischen Militärflughafen Wiesbaden-Erbenheim eine der größten Logistikdrehscheiben der Kriegsgeschichte etabliert, über die – unter unmittelbarer Beteiligung ukrainischer Verbindungsoffiziere – alle Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine koordiniert bzw. abgewickelt werden. Laut NZZ wurden allein über diese Steuerungszentrale seit August 2022 rd. 250.000 Tonnen an Waffen und Munition vor allem über Transitzentren in Polen, Rumänien und der Slowakei an die ostukrainische Front geliefert.
Vieles deutet darauf hin, dass sich die Schraube bei der Auswahl des Waffenarsenals in den nächsten Wochen und Monaten weiter drehen wird. Nachdem die Bundesregierung in der ersten Januarwoche bereits die zeitnahe Lieferung von 40 Marder-Schützenpanzern an Kiew zugesichert hat, bekommt damit gleichzeitig die Diskussion über die Lieferung von schweren Kampfpanzern vom Typ Leopard 2 neue Nahrung. Obwohl in dem Zusammenhang weiterhin vom Ausbau der Selbstverteidigungsfähigkeit der ukrainischen Armee die Rede ist, scheint der NATO-Zug zunehmend in Richtung Stärkung der Offensivkraft der ukrainischen Streitkräfte zu rollen.
Wie gehts weiter?
Da der Konflikt weiter in vollem Gange ist und zumindest momentan auch keine Entspannungs- bzw. Verhandlungssignale erkennbar sind, fällt es schwer eine stichhaltige Prognose über den Fortgang des Krieges anzustellen. In den westlichen Medien wird abwechselnd über eine russische Winteroffensive und über ukrainische Gegenoffensiven gemutmasst. Die Verluste auf beiden Seiten sind nach wie vor hoch und intensivere Kampfhandlungen werden momentan fast ausschließlich aus der Region rund um die ostukrainische Stadt Bachmut gemeldet.
Bezogen auf das Leitthema des Beitrages wird es in naher Zukunft vor allem darauf ankommen, die rote Linie vor einer unmittelbaren NATO-Kampfbeteiligung am Ukraine-Krieg zu halten. Die russische Seite – das belegt vor allem die Neujahrsansprache Putins – wirkt zunehmend gereizt und gefangen in der selbst gewählten Bunkermentalität. Waren die verbalen Ausfälle der Vormonate noch primär gegen Selensky und sein Umfeld gerichtet, schießt sich der Kreml spätestens seit Dezember zunehmend allein auf die NATO und den Westen ein.
Die letzte rote Linie
Am Ende bleibt – bei aller Zurückhaltung bezüglich spekulativer Katastrophenszenarien – die rote Linie des Atomwaffeneinsatzes durch die russische Seite. Gott sei Dank sind die Hürden, die vor einer solchen Eskalation liegen, gewaltig. Momentan scheint es ausgeschlossen, dass der Kreml gewillt sein könnte, die enormen politischen und militärischen Folgewirkungen eines solchen Schritts in Kauf zu nehmen.
Andererseits dürfte der in westlichen Medien immer wieder beschworene „Sieg“ der Ukraine über den Aggressor mit einem unmittelbaren Sturz des Putin-Regimes einhergehen. Zu welchen Kurzschlusshandlungen der Kremlherrscher vor dem endgültigen Fall bereit wäre, lässt sich aktuell nur spekulieren.
Verständigungsfrieden
Fest steht jedenfalls, jeder kriegerische Konflikt – sei er auch noch so verlust- und folgenreich – endete bislang durch Waffenstillstandsverhandungen oder im Best case durch Friedensschlüsse. Ein Marsch der Ukraine in Richtung „Siegfrieden“ würde – so bitter es klingen mag – unkalkulierbare Eskalationsrisiken in sich bergen. Deshalb bleibt – trotz aller gegenteiligen Signale – die ferne Hoffnung auf einen Verständigungsfrieden ohne eingebaute Revanche. Drücken wir fest die Daumen, dass der Weg dahin noch lange offen bleibt.
(1) Ein besonders markanter Fall des zu späten Aufzeigens roter Linien bot sich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre, wo die beiden westlichen Großmächte Großbritannien und Frankreich auf alle Vertragsbrüche und Gebietserweiterungen des Dritten Reiches (Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, 1935, Besetzung der entmilitarisierten Rheinlande, 1936, Anschluss Österreichs und handstreichartige Lösung der Sudetenfrage, 1938) mit einem ausgeprägten Appeasement, statt mit dem unmissverständlichen Aufzeigen roter Linien reagierten.
(2) Das klassische Beispiel für den Übergang einer kriegerischen Auseinandersetzung von der Bewegungsphase in die Erstarrung liefert der 1. Weltkrieg, wo der auf eine schnelle Entscheidung ausgerichtete Schlieffenplan bereits nach wenigen Wochen Makulatur wurde („Wunder an der Marne“) und der Krieg im Westen zum Ermattungskrieg mutierte. Die „Materialschlacht“ um das ostukrainische Bachmut erinnert in vielerlei Hinsicht nicht umsonst an die Schlachten vor Verdun und an der Somme.
(3) Beim Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hatte die russische Militärführung an den Grenzen zum Nachbarland geschätzt etwa 180.000 Mann zusammengezogen (30.000 davon in Weißrussland). Bei einer Gesamtstärke der russischen Streitkräfte von rd. 1 Mio aktiven Soldaten und ca. 2 Mio Reservisten. Die Russen hatten damit zu Beginn des Feldzuges gerade einmal 6 % der verfügbaren Streitkräfte für den Angriff mobilisiert.