Bilderstürme

Geschichte oszilliert zwischen Kontinuität und Wandel. Selbst das, was über Jahrhunderte hinweg in Stein gemeißelt scheint, wird plötzlich und unerwartet Opfer von dramatischen Brüchen. Vor allem die jüngere Geschichte des entwickelten Westens ist voll von solchen politischen, gesellschaftlichen und technischen Umbrüchen. Tiefgehende Regimewechsel, die das gesamte politisch-weltanschauliche Decorum umwälzten und ihre Spuren nicht nur in den Regierungszentralen, den Parlamenten und den großen Institutionen, sondern auch auf den Straßen und Plätzen hinterließen.* – Sind Denkmalstürze, wie wir sie aktuell in einzelnen Metropolen des Westens erleben, Vorboten eines solchen Regimewechsels? Für wen oder was steht der markante Bildersturm der letzten Wochen?

Geradezu exemplarische Ziele der Bilderstürme sind seit Tagen und Wochen, Statuen und Denkmäler von Cristobal Colon, alias Christoph Kolumbus, dem eigentlichen Stammvater des großen, transozeanischen Ausgriffs der Europäer in die „Neue Welt“. Noch steht er auf unzähligen Plätzen hoch aufragend auf Säulen und Postamenten dieseits und jenseits des Atlantiks. Und noch wird er in unseren Geschichtsbüchern als Heros des frühneuzeitlichen Entdeckertums gefeiert.

Denkmalstürze

Doch wie lange noch? Bilder von geköpften Kolumbus-Statuen flimmern durch den Medienäther. Die Stimmen, die seine Absetzung, seine zeitnahe Emeritierung fordern, mehren sich und werden lauter. In Boston, Richmond, San Francisco und New York, aber auch in Barcelona und Palma de Mallorca rollen Köpfe und fliegen rote Farbbeutel.** Die gewaltsamen Anschläge auf die Symbolfigur des europäischen Kolonialismus geschehen am hellichten Tage, vor laufenden Kameras und nicht selten begleitet vom zustimmenden Applaus geneigter Medien und vom unverhohlenen Wohlwollen so mancher Stadtoberhäupter.

Regimewechsel?

Was ist da los? Was hat „Black Lives matter“ mit Christoph Kolumbus zu tun? In welchem Zusammenhang stehen die Protestdemonstrationen im Anschluß an den Tod von George Floyd in Minneapolis mit Attacken der BLM-Aktivisten auf das Churchill-Denkmal nahe Westminster-Palace? Und was hat die Kolumbus-Kontroverse mit der Entfernung des Namenszuges des US-Präsidenten Woodrow Wilson von einem Fakultätsgebäude der Princeton-University zu tun? Muss man das ernst nehmen? Oder gibt sich das wieder?

Vor allem: Wo ist die Revolution, wo ist der Regimewechsel, der solche Denkmalstürze begründen könnte? Wo ist der „Sturm auf die Bastille“, der verlorene Krieg, die große Reformation? Wo ist das, was mit den „Epochenjahren“ 1517, 1789, 1848, 1917/18, 1945 oder gar 1989/91 Schritt halten könnte? Gabs überhaupt in den letzten Jahren irgendetwas, was die Heftigkeit der Bilderstürme und die polarisierende Gereiztheit der momentanen Konfrontation erklären könnte?

Postkolonialismus

Um das aktuelle Geschehen wenigstens in seinen Umrissen begreifen zu können, muss man sich zumindest kurz mit den Windungen einer geschichtspolitischen Generaldebatte befassen, die in den 70er Jahren im akademischen Milieu US-amerikanischer Universitäten begann, in den 80er und 90er Jahren die großen Leitmedien erfasste und mittlerweile auf breiter Front im politischen Raum angekommen ist.

Was Mitte der 70er Jahre, nach dem Abebben der letzten großen Welle des wissenschaftlichen Sozialismus, noch sehr rudimentär in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften als „Postcolonial Studies“ anhob, hat sich – gefördert durch eine breite Koalition aus Politikern, Zeitungsredakteuren, Kirchenvertretern und NGOs – über die Universitätsmauern hinweg in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit etabliert. Eingebettet in einen mittlerweile nicht mehr primär akademisch, sondern prononciert politisch geführten, „postkolonialen“ Diskurs geraten seit einigen Jahren fast alle wesentlichen Exponenten des „europäischen Kolonialismus“, aber auch alle als „rassistisch“ eingestuften Personen und Institutionen aus Geschichte und Gegenwart in die Schußlinie einer dezidiert kulturrevolutionär auftretenden Bewegung.

Neues Geschichtsbild

Die Schärfe mit der hier agiert und phasenweise heftig agitiert wird, hat wesentlich mit einem Geschichtsbild zu tun, das quasi alle großen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen „Expansionen“ der (weißen) Führungsschichten der europäisch-nordamerikanischen Hemissphäre unter einen diskriminatorischen Generalverdacht stellt. Hier wurde – so die Sicht auf die Dinge – über Jahrhunderte hinweg ausgebeutet, geplündert und versklavt. Ethnische Minderheiten, nicht-christliche Religionen und soziale Randgruppen wurden systematisch einem weißen Dominanzstreben unterworfen. Dies – so das Credo – ist nun vorbei. Die diversen „Minorities“ haben ihre Identität entdeckt, ihr Selbstbewußtsein gefunden und holen nun – nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Zurücksetzung – zum Gegenschlag aus.

In diesem Kontext stehen historische Figuren wie Robert E. Lee, maritime Pioniere und Eroberer wie Christoph Kolumbus, politische „Rough Rider“ wie Theodore Roosevelt oder „Kriegspremiers“ wie Winston Churchill nicht mehr für mehr Durchsetzungskraft, Stehvermögen und Entdeckermut, sondern für Unterdrückung und Ausbeutung überwiegend farbiger Minderheiten.  Aus dem verehrungswürdigen Heros wird der „Täter“ und aus den „zivilisierten“ und „missionierten“ Völkern der „entdeckten“ Territorien in Übersee werden Opfergruppen, deren traumatische Erlebnisse sich quasi über Generationen hinweg vererben.

Vertiefte Gräben

Auf den ersten Blick scheint dieses um 180 Grad gewendete Geschichtsbild wie gemalt für eine Welt, in der Politik und Gesellschaft immer stärker von moralischen Begriffen und Kategorien geprägt werden. Wer möchte sich heute noch in die Tradition der großen Täterfiguren des europäischen Expansionismus stellen? Müssen die „Bilder“, die diesen Tätern geweiht sind, nicht allesamt verschwinden und die Geschichtsbücher, in denen ihre Taten gewürdigt oder gar heroisiert werden, nicht dringend korrigiert oder besser noch von ihrem Andenken „befreit“ werden?

So einleuchtend diese Weltsicht entlang klarer Fronten zwischen (bösen) Tätern und (guten) Opfern erscheinen mag, so problematisch wirkt ihre Umsetzung in der politischen Realität. Wer heute auf die USA, auf Frankreich, auf Großbritannien, aber mittlerweile auch auf Deutschland schaut, also auf die Gesellschaften, in denen die beschriebene Konfrontation wohl am vehementesten geführt wird, sieht zunehmend gespaltene, in sich zerrissene Gesellschaften vor sich. Die Gräben, die zwischen den Lagern verlaufen, werden nicht nur politisch-gesellschaftlich immer tiefer ausgeschachtet, sondern immer mehr zu hermetischen Trennlinien zwischen gegensätzlichen „Kulturkreisen“.

Was dabei auf drastische Weise unter die Räder kommt, ist der gruppenübergreifende Grundkonsens bezogen auf gemeinsame Werte des gesellschaftlichen Miteinanders und des demokratischen Pluralismus. So hinterlassen die jüngsten Denkmalstürze zwar ein gutes Gefühl aufseiten der „Bilderstürmer“, verhindern und sabotieren aber einen zivilisierten Austausch über die Gesinnungsgrenzen hinweg. Hinzu kommt die wachsende Radikalisierung von Teilen der bilderstürmerischen Bewegung, die sich immer neue Zerstörungsziele setzen und bisweilen die Schallmauer zum fundamental-religiösen Eiferertum überschreiten.

Was muss alles weg?

Wo ist der Anfang, wo ist das Ende?  Wenn das eine Denkmal verschwunden, die eine Straße umbenannt, das eine Wort getilgt sind, müssen dann nicht  auch die anderen Statuen verschwinden, die anderen Straßenschilder abmontiert und die anderen Bücher „bereinigt“ werden? Wer den Konföderiertengeneral Robert E. Lee vom Sockel stößt, müsste eigentlich auch George Washington und Thomas Jefferson in den Orkus schicken, denn auch sie haben auf ihren Farmen Sklaven gehalten. Wer die Mohrenstraße umbenennt oder den „Mohren“ aus dem Stadtwappen entfernt***, muss der nicht auch das „Schwarz-Weiß-Spiel“ auf dem Schachbrett beenden, das „Dschungelbuch“ aus den Regalen entfernen und den „Heiligen Mauritius“ aus der christlichen Überlieferung streichen?

Flurschäden

Kurz gesagt, wer daran geht Denkmäler zu stürzen, anfängt Straßen und Plätze umzubenennen, dazu übergeht Archive und Bibliotheken zu reinigen und sich schließlich dabei ertappen läßt, wie er Bilder und Fotos retouchiert, kann sich selbst zwar als moralisch erhöht, als fortschrittlich, ja als emanzipatorisch feiern, aber das Ergebnis sind nicht Wahrhaftigkeit und Aussöhnung, sondern massive Flurschäden auf den Arealen der gesellschaftlichen und politischen Polarisierung.

Noch besteht die Chance, die unwiderrufliche Spaltung der westlichen Gesellschaften in zwei unversöhnliche Lager zu verhindern. Noch sind es nur die Radikalen, die den Konflikt auf die Spitze treiben und den Kompromiss verweigern. Heilung der Wunden verspricht allein der gegenseitige Respekt vor unterschiedlichen Erinnerungskulturen und die Einsicht in die zwingende „Kontextualisierung“ der historischen Protagonisten. Wer die Maßstäbe des beginnenden 21. Jahrhunderts 1:1 an die Handlungsmaximen und Gedankenwelten früherer Jahrhunderte anlegt, degradiert Geschichte zum reinen Wunschkonzert.

Das heißt natürlich nicht, dass sich der Blick in die Vergangenheit in einer unkritischen Apologie erschöpfen darf. Sinnstiftende Erinnerungskultur lebt von der kritischen Auseinandersetzung mit den Fehlern und den Fehlleistungen vorangegangener Generationen, nicht aber von strengen Tribunalen über das Handeln der Altvorderen vom moralischen Hochsitz aus.

Entfasziniert Euch!

Entscheidend ist, die fremde Erinnerungskultur als unveräußerlich zu akzeptieren und Wege des gegenseitigen Verstehens zu ebnen. Kulturelles Gedächtnis wächst aus unterschiedlichen Quellen und wird sich – je nach Herkunft, Kulturkreis und Sozialisation – immer unterschiedlich ausprägen. Der Versuch „falsche Erinnerung“ durch das Zerstören und Abtragen von Denkmälern, Gedenkstätten oder repräsentativen Erinnerungsorten gewaltsam auszulöschen, führt auf Abwege. Nicht der eine stromlinienförmige Erinnerungskanal mit festen Rändern kann das Ziel sein, sondern nur das wechselseitige Verständnis für gewachsene Erinnerungswelten. Entfasziniert Euch, ehe es zu spät ist!

* Die historisch markantesten „Bilderstürme“ ereigneten sich in Byzanz im 8./9. Jahrhundert („Ikonoklasmus“), im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert („Calvinismus“ und „Täuferbewegung“) sowie im Zusammenhang mit der Französischen Revolution („Jakobinertum“) und im Kontext des Afghanistan-Krieges („Buddha-Statuen von Bamiyan“, März 2001). Die „kleine Schwester“ des Bildersturms ist die sog. „damnatio memoriae“ (lat. „Verdammung des Andenkens“). Dabei geht es um das möglichst vollständige „Auslöschen“ der Erinnerung an eine einzelne Person (z.B. im antiken Rom und im Stalinismus).

* * Während in Boston die Kolumbus-Statue von Demonstranten geköpft und dann abgetragen wurde, geht die Stadtverwaltung von San Francisco einen Schritt weiter und entfernt die Statue proaktiv.

*** Exemplarisch für die „Blüten“, die die aktuelle Debatte treibt, ist der Streit über das Coburger Stadtwappen, das das Bild eines „Mohren“ trägt. Heraldiker wissen, dass sich hinter dieser Figur der Heilige Mauritius verbirgt, ein antiker Märtyrer aus Oberägypten, der in der christlichen Ikonographie in der Regel als Ritter mit dunkler Hautfarbe dargestellt wird und vor allem im Mittellalter als Schutzpatron für diverse Gewerke und als Nothelfer im Falle von Krankheiten („Mohren-Apotheke“) in weiten Teilen des (weißen) Europa hohes Ansehen genoß. Dennoch verlangt aktuell eine Petition seine Eliminierung aus dem Stadtwappen und belegt damit lediglich ein krasses Informationsdefizit. Verschlimmernd kommt hinzu, dass es die Nationalsozialisten waren, die den Mohren während des Dritten Reiches aus dem Wappen tilgten. Dazu der langjährige Heimatpfleger der Stadt Coburg.