Auf ganz schmalem Grat

Wer in diesen Tagen die Zeitungen aufschlägt, den Fernseher einschaltet oder sich durchs Internet klickt, den überfällt unweigerlich ein heftiges Gefühl der Beklemmung. Zunächst und zuvorderst sind es die Schreckensbilder aus den Kriegsgebieten der Ukraine, die einen beinahe fassungslos zurücklassen. Eine bis an die Zähne bewaffnete Streitmacht pflügt durchs Land, zerschmettert ganze Städte und hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Beinahe genauso verstörend, wie die Kriegsbilder, wirken jedoch die verbalen Eskalationen auf allen Begleitkanälen. An manchen Stellen überlagern die schrillen Töne sogar den fernen Gefechtslärm. – Was ist da los? Ist der schmale Grat auf dem da balanciert wird, den Protagonisten überhaupt noch bewußt? Erleben wir aktuell nicht geradezu ein Wettrennen um den schmalsten Grat? Sind wir überhaupt noch Herr des Geschehens?

Bei weitem am schmalsten ist momentan der Grat auf dem beträchtliche Teile unserer hiesigen Medien wandeln. Waren schon in früheren Konfliktlagen „klare Haltung“ und „kompromisslose Parteinahme“ gängige Praxis journalistischer Krisenkommunikation brachen an dieser Front mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar beinahe alle Dämme. Die berechtigte Empörung über den Angriff steigerte sich binnen weniger Tage in manchen Medien zu einer Art Dauerstakkato aus verbaler Generalmobilmachung und unverhohlener Kriegsrhetorik.*

Hatte man in den Redaktionen bei ähnlich gelagerten Konfliktszenarien (Afghanistan, Syrien, Irak etc.) bis dahin noch sehr bewußt zwischen moralischer Entrüstung einerseits und „Aufforderung zum aktiven Eingreifen“ andererseits unterschieden, zerbröselte diese Grenzlinie im aktuellen Konflikt quasi im Stundentakt. Aus der ehernen Doktrin „Keine (deutschen) Waffen in Krisengebiete“ – der man mindestens die letzten 30 Jahre eisern gefolgt war – entwickelte sich quasi über Nacht auf beängstigende Weise eine Art „Deutschland-muss-Kriegspartei-werden-Rhetorik“.

Spiel mit dem Feuer

Exemplarisch für diese fundamental veränderte Grundhaltung am Firmament des deutschen Politikjournalismus stehen einschlägige Statements von Matthias Döpfner, dem Vorstandschef des Springer-Verlags, der Anfang März in einem verbalen Rundumschlag, die NATO ultimativ zum Eingreifen in den Ukraine-Konflikt aufforderte. „Amerika, England, Frankreich und Deutschland“, so Döpfner, sollten „unmittelbar und sofort“ ihre Truppen „dorthin schicken, wo unsere Werte und unsere Zukunft noch verteidigt werden.“

Obwohl sich Herr Döpfner der Tragweite seiner Mobilmachungsaufforderung durchaus bewusst gewesen sein dürfte, legte er in diesem Zusammenhang sogar noch einmal nach und titulierte das Eingreifen als absolut alternativlos, weil – so der Springer-Chef – ein Zurückweichen einer „Kapitulation“ gleich käme. So als hätte er nicht den Hauch einer Vorstellung davon, welch ein apokalyptisches Desaster, das Aufeinanderprallen der NATO mit russischen Truppen unweigerlich nach sich ziehen dürfte.

Hazardspiele mit dem Weltenbrand

Was auf den ersten Blick wie das laute Rezitieren von Kampfversen durch einen einsamen Bellizisten anmutete, stellt sich bei fortgesetzter Zeitungs- und Internetlektüre in diesen Tagen als Teil einer weit verbreiteten Gedankenabirrung einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Kommentatoren und Kolumnisten heraus.**

Selbst im Vergleich zu der an Hazardspielen mit dem Weltenbrand nicht gerade armen Zeit des Kalten Krieges erreichen die aktuellen Einlassungen in Tonfall und Lautstärke durchaus das Niveau der großen Blockkonfrontation. Diktion und Aufhänger ähneln sich. Nur in der Wortwahl wirkt das Stimmengewirr momentan deutlich kakophoner, weil die Verwünschungsformeln weniger ideologisch eng, sondern internetbedingt deutlich plakativer und vielstimmiger daher kommen.

Bewußtes Herunterfahren

Eine ganze Tonlage leiser, aber nicht weniger grenzwertig, wirkt die zweite, hier zu thematisierende Gratwanderung. Gemeint ist der schmale Grat auf dem die deutsche Verteidigungspolitik aktuell zu wandeln versucht. Ähnlich wie das publizistische Begleitorchester hat auch die Hardthöhe in den letzten rund 30 Jahren fast ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das Einstreichen der sog. Friedensdividende gelegt. Niemand konnte und niemand wollte mehr etwas mit dem Thema Abschreckung zu tun haben. Allein schon der Begriff selbst schien irgendwie kontaminiert und aus der Zeit gefallen.***

Zu lange – so die verbreitete Einschätzung der Verantwortlichen für das deutsche Sicherheitsdispositiv – hatte man in Mitteleuropa auf die Rüstungskarte gesetzt, auf „hard power“ statt auf „soft power“, auf schwere Panzer und wuchtige Artillerie statt auf „uniformierte Entwicklungshilfe“. Man wollte das „alte Denken“ endlich überwinden und die Bundeswehr zu dem machen, was sie schon immer hätte sein sollen, nämlich eine echte „Friedenstruppe“, offen, divers, zivil im Auftreten und natürlich auf ein erträgliches Minimum abgerüstet.

Kehrt marsch?

Und jetzt, was ist jetzt? Jetzt, wo die ehrgeizigen Abbauziele fast allesamt erreicht sind und die Bundeswehr endlich ihre gesellschaftlich akzeptierte (Neben-)Rolle gefunden hat? – Alles retour? Alles auf Anfang? Das Ganze halt und dann einfach kehrt marsch?

Wer über Jahrzehnte hinweg eine ganze Gesellschaft bewußt und mit Überzeugung pazifiziert hat, sollte sich davor hüten, sie über Nacht mit lauter Kampf- oder Mobilmachungsrhetorik wieder „wehrfähig“ machen zu wollen. Die Therapie hat gewirkt. Der Patient ist zum Inbegriff des Zivilisten geworden. Für eine irgendwie geartete Rückfahrt gibt es keine Tickets. Die Wagen sind leer, der Dampf ist raus.

Wir sind wie wir sind!

Wenn die Politik das Roll Back dennoch versuchen sollte, wird sie – so die Prognose – folgendes erleben: Viele Menschen dürften – angesichts der Bilder aus den Kriegsgebieten – im ersten Moment tatsächlich so etwas empfinden, wie eine Art „Mut zum Beistand“. Gemeint ist hier nicht der in solchen Situationen immer wieder zu beobachtende „Gratismut“, der sich schon aktuell in großen Schüben übers soziale Netzwerk ergießt. Gemeint ist eine im Kern ehrliche Gefühlsaufwallung, die alle Menschen guter Gesinnung empfinden, wenn sie mit dramatischer Hilfsbedürftigkeit konfrontiert werden.

Dieser Moment, das ist sicher, wird dann angesichts der unglaublichen Entbehrungen einer militärischen Konfrontation  innert weniger Tage, möglicherweise innert weniger Stunden ganz schnell in sich zusammenfallen. Denn kollektiver Mut, gepaart mit robustem Durchhaltewillen, braucht, wenn er denn länger tragen soll, dicke patriotische Halteseile und zähen emotionalen Kitt. Beides ist in Deutschland aus vielerlei Gründen lange verschwunden und die verbliebenen Reste davon wurden erst kürzlich – unter dem großen Beifall von Medien und Öffentlichkeit –  über Bord gekippt.

Blanke Waffen

Daran ändert auch das plötzliche 100 Milliarden-Geschenk an die Bundeswehr nichts.****  Die Truppe, das wissen die Generäle längst, ist „blank“ und was aktuell passiert, hat eher mit rhetorischem Handauflegen zu tun, denn mit echter Erneuerung. Die Politik sollte sich ehrlich machen und nicht versuchen die klaffenden Lücken durch medial flankierte Kraftmeierei zu ersetzen. Der von der Bundesregierung eingeschlagene Kurs der konsequenten Nichteinmischung „out of (NATO-)Area“ ist richtig und sollte im engen NATO-Verbund fortgeführt werden.

Noch eine dritte Gratwanderung soll uns am Schluss beschäftigen: Wie in den beiden vorangegangenen Fällen hat dieses Balancieren auf schmalem Grat auch hier etwas mit einer beachtlichen Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Rhetorik einerseits und ganz banaler Realität andererseits zu tun. Auch hier sickert der Unmut über den (plötzlichen) Zusammenprall zwischen Anspruch und Wirklichkeit erst langsam in die Köpfe der Menschen.

Wir retten das Klima

Was gab es in den letzten Jahren nicht alles an hehren Plänen für eine von Deutschland ausgehende Rettung des Weltklimas. Vorreiter wollten wir sein. Taktgeber und Vordenker. Atomausstieg bei gleichzeitigem Aus für die Kohleverstromung. Das Land sollte flächendeckend mit Rotoren zugepflastert werden und der E-Motor den Verbrennungsmotor in die Mottenkiste verbannen.

Bei all dem sollte uns der Kreml helfen. Nicht direkt natürlich, sondern indirekt über ganz viel Erdgas. Eine Art „Brückentechnologie“ von Putins Gnaden sollte das Tor zur Klimarettung ganz weit aufstossen. Da es ohne Atomkraft und ohne Kohle gehen sollte, mussten Gas-Kraftwerke her. Nicht nur ein paar, sondern ganz viele. Überall in Deutschland. So lange bis uns Wind und Sonne autark macht, sollten uns die gasgetriebenen Power-Häuser als unverzichtbare Back-up-Kraftwerke über Dunkelheit und Flaute hinweg helfen.*****

Nun auch ohne Gas

Und jetzt, was ist jetzt? Sackgassen noch und nöcher, egal wohin man schaut. Das Gas, dass man ursprünglich massenhaft einkaufen wollte, soll nun auch im Übergang nicht mehr fließen. Die große Pipeline wird eingemottet und zur Not- so unser ehemaliger Bundespräsident Joachim Gauck –  müssen wir halt „für die Freiheit frieren“. Nicht nur wegen den Sanktionen, die uns selber deutlich härter treffen als den Sanktionierten selbst, sondern weil wir ja schon immer wußten, dass auch das Verbrennen von Gas, CO2 verursacht.

Doch – Hand aufs Herz – was bleibt denn dann eigentlich noch. Holz aus dem Wald zum Heizen? Windmühlen im Vorgarten für die Waschmaschine und den E-Roller? Selbst gezogene Kartoffeln statt Weizen aus der wohl bald russisch besetzten Ukraine?  – Die Aussichten sind trübe, weil der Erkenntnisprozess trotz der Notlagen immer noch mächtig lahmt und das Verlassen schmaler Grate ganz viel Trittfestigkeit und Schwindelfreiheit erfordert.

Ob der Leidensdruck bei 2,50 € für den Liter Diesel und bei einer weiterhin galoppierenden Inflation nicht nur im Energiesektor soweit steigt, dass Alternativen wieder ernsthaft diskutiert werden, ist fraglich. Zu sehr sind wir Opfer unserer eigenen klima- und energiepolitischen Projektionen geworden.

Zurück zu Maß und Verstand

Wir können also nur hoffen, dass am Schluss wieder Vernunft einkehrt, nicht nur an den realen Fronten des Ukraine-Krieges, sondern auch an den publizistischen Frontlinien. Und nochmals: Dass am Schluss keiner auf die Idee kommt, ein Volk, das im 20. Jahrhundert 2mal durch die Feuerhölle gegangen ist, erneut in ein, diesmal thermonukleares Abenteuer, zu stürzen. Es reicht! Und zwar endgültig.

Am Ende werden wir – so schwer es angesichts der Bilder aus Kiew, Charkiv und Mariupol auch erscheinen mag – wieder miteinander reden müssen. Vielleicht diesmal sogar so ernsthaft und so lange, bis die gegenseitige, seit mindestens 200 Jahren währende Negativfaszination endlich verschwunden ist.******

Verlassen wir den schmalen Grat. Die Abgründe links und rechts sind viel zu tief, um sie auszuloten. Maß und Verstand sind die einzigen echten Waffen gegen das Unheil des Krieges. Nutzen wir sie, solange wir es noch können.

* Fast gebetsmühlenhaft wird aktuell in vielen Medien immer wieder eine von der NATO gesicherte Flugverbotszone über der Ukraine gefordert. Begründet wird das vor allem mit hinkenden historischen Vergleichen. Haben wir nicht auch die Albaner im Kosovo auf diese Weise vor der serbischen Luftwaffe schützen können? Dass die Russen über eine der stärksten Luftstreitmächte der Geschichte verfügen und sofort mit einem Übergreifen der Kämpfe auf NATO-Gebiet zu rechnen ist, blenden die Protagonisten weitgehend aus.

** Die Rhetorik und die eingesetzten Stilmittel erinnern in weiten Zügen an historische Vorbilder. Zu erwähnen, ist hier vor allem das Vorgehen der Hearst-Presse im Zusammenhang mit dem Eintritt der USA in einen Krieg mit Spanien Ende des 19. Jahrhunderts. Dem US-amerikanischen Medienmogul Randolph Hearst gelang es durch eine umfassende Mobilisierung seiner Leserschaft heftigen Druck auf Washington auszuüben. Der US-amerikanisch-spanische Krieg von 1898 hätte ohne das ständige Insistieren der Presse  wohl vermieden bzw. diplomatisch entschärft werden können.

*** Die Truppenstärke der Bundeswehr wurde – unter Einbeziehung der NVA – von rd. 680.000 Mann im Jahre 1990 bis zum Jahre 2020 auf „nominell“ 183.000 Mann reduziert. Die Abrüstung sowohl bei Panzern, als auch bei Hubschraubern und Kampfflugzeugen war drastisch. Neben der Reduzierung der schieren Anzahl hat sich in den zurückliegenden Jahren vor allem die mangelnde Einsatzfähigkeit zum größten Manko entwickelt. So waren z.B. 2020 von 284 Puma-Schützenpanzern im Schnitt nur ein Viertel einsatzfähig. Die Luftransportkapazitäten sind stark reduziert und deutsche Truppenverbände, z.B. für die Rapid Reaction Forces der NATO, müssen in der Regel erst aus Beständen anderer Bundeswehr-Truppenteile „einsatzfähig“ gemacht werden.

**** Der unmittelbar im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg aufgelegte 100 Milliarden-Sonderfonds zur Stärkung der Bundeswehr wird Jahre brauchen um Wirkung zu zeigen. Die Fristen für die Entwicklung von neuen Waffensystemen sind nicht nur aus technischen Gründen z.T. extrem lang, sondern vor allem auch wegen massiven Verzögerungen bei den bürokratischen Entscheidungs- bzw. Beschaffungsprozessen.

***** Im Jahre 2020 kamen 55,2 % der deutschen Erdgasimporte aus Russland. Seit 2012 ist der Anteil um ein Drittel gestiegen (von 40 auf 55%). Die beiden anderen Lieferländer Norwegen (rd. 30 %) und die Niederlande (rd. 13 %) produzieren bereits am Anschlag. Die Niederlande werden aufgrund drohender Erdbeben ihre Gasförderung nur noch bis 2026 fortsetzen. Die Möglichkeiten zur Kompensation möglicher Ausfälle durch Flüssiggas sind aufgrund von Transport- und Lieferengpässen begrenzt. Interessant ist, dass Russland aktuell auch Deutschlands wichtigster Eröllieferant ist. Bei den Erdöleinfuhren stieg der russsische Anteil zwischen 2012 und 2020 von 38 auf 42 %.

***** Empfehlen möchte ich an dieser Stelle das Kapitel zur „Faszinationsgeschichte“ entlang der europäischen Ost-West-Achse aus meinem Buch Entfasziniert Euch, das sich vor allem auch mit dem europäischen Russlandbild befasst. (vgl. Ralf Langejürgen: Entfasziniert Euch! Das Phänomen der Verfeindung oder wie Entfeindung gelingen kann, Marburg 2016, S. 359ff.)