Aus Geschichte lernen

„Aus Erfahrung wird man klug!“ Mit dieser alten Volksweisheit im Gepäck wandert Homo faber seit Generationen durch die Welt. Wunderbar geeignet als Selbstvergewisserungsformel für eine Gesellschaft unter permanenter Vertikalspannung, kommt uns dieser Satz immer wieder in Erinnerung. Fast wäre man geneigt, die Wendung als Universalformel für das menschliche Lernen schlechthin zu preisen. Wenn da nicht ihre etwas eindimensionale Praxislastigkeit wäre. Ihre einseitige Ausrichtung auf praktisches Üben und ihre Inkompatibilität mit innovativem Erfindergeist und jugendlicher Kreativität. Dass Fortschritt auch ohne Erfahrung-sammelnde Ochsentouren möglich ist, wissen wir seit langem. Noch enger wird das Anwendungsfeld, wenn man bedenkt, dass Erfahrung in der Regel individuell und bezogen auf ein Menschenleben „gesammelt“ wird. Was ist, wenn wir das Lernen von großen Kollektiven, von Gesellschaften, von Völkern in den Fokus nehmen und den Blick über mehrere Generationen, ja Jahrhunderte hinweg, weiten? Geht das überhaupt: Lernen von den toten Vorvätern oder kollektives Üben am historischen Objekt?

Begonnen hat alles in der Prähistorie, mit den Geschichtenerzählern am Lagerfeuer. Oral History im Feuerschein unter freiem Himmel. Früh angereichert durch die Gesänge der Schamanen und Schritt für Schritt übersetzt in bildhafte Darstellungen an kahlen Höhlenwänden. Mit dem Aufkommen der Schriftkulturen verstetigt sich diese Überlieferung und weitet sich zu einem breiten Strom aus beschriebenen Tontafeln, Pergamenten und anderen Schriftzeugnissen. Schrittmacher hierbei sind die frühen Imperien an Euphrat, Trigris und Nil und wegweisend für die okzidentalen Völker, die mächtigen Kraftzentren des griechisch-hellenistischen und des römischen Kulturkreises.

Antike Lehrstücke

Überragende Bedeutung für die Etablierung einer manifesten Historiographie erlangten die mythischen Dichtungen des Homer. Sie gaben für Jahrhunderte den Takt vor und prägten als Mixtur aus Sittengemälde, Heldenepos und Kriegsberichterstattung sowohl die griechische als auch die römische Geschichtsschreibung. Generationen von Schülern und Studenten an den antiken Akademien repetierten den „Peloponnesischen Krieg“ von Thukydides, die Berichte über die „Punischen Kriege“ von Polybios und natürlich Cäsars „De bello Gallico“. Diese Geschichten wurden als „Lehrbücher“ rezipiert und verfolgten das feste Ziel, die männliche Jugend der gebildeten Schichten in die Geheimnisse von Staats- und Kriegskunst einzuweihen.

Mit diesen antiken Schriften und den im Mittelalter hinzutretenden Ritterepen und Heiligenviten sind die wesentlichen Medien der traditionellen „Geschichtsvermittlung“ bereits genannt.  Mit von Epoche zu Epoche schwankender Gewichtsverteilung sind sie die entscheidenden Träger des historischen Bildungskanons und prägen – späterhin vor allem vermittelt über das humanistische Gymnasium – selbst noch die bürgerliche Jugend des 19.  und weiter Teile des 20. Jahrhunderts.

Nationale Erinnerungsgemeinschaften

Eine ganz neue Dimension erlangt die geschichtliche Überlieferung im Zuge der Alphabetisierung breiter Volksschichten und mit dem Aufkommen des modernen Nationalismus. Erst auf diesem Wege wird Geschichte als Identitätsmittler quasi universell und als Mobilisierungsinstrument für die politischen Eliten virtuos nutzbar. Es entstehen breit ausgeschmückte Erinnnerungskulturen mit ausgesuchten Erinnerungsorten, markanten Nationaldenkmälern und hochgradig imaginierten, bis in die mythische Vorzeit zurückreichenden Geschichtsnarrativen.

Vom Grunde her wirkt dieser nationalgeschichtliche Prägestock bis heute nach und teilt die Welt in knapp 200 Nationen mit jeweils eigenem, container-artig abgeschotteten Kollektivgedächtnissen. Globale oder kontinentale, sprich übernationale Identitäten konnten sich bis in die Gegenwart selbst im alten Europa nur rudimentär ausbilden. Damit bleiben die historischen „Lehrstücke“ nationalgeschichtlich konnotiert und entwickeln sich keineswegs – wie vielfach erhofft – in Richtung auf eine transnational verankerte Universalgeschichte. Die „Globalisierung“ erfasst zwar die Politik, die Ökonomie und auch große Teile unseres gesellschaftlichen Lebens, bricht sich aber – was die historische Überlieferung anbetrifft – bis heute an den Grenzen der Nationalstaaten.

Bilderstürme

Dass es in unserer Zeit dennoch universelle Strömungen gibt, die das „Lernen aus Geschichte“ nachhaltig beeinflussen, belegen der aktuelle Denkmalsstreit und die damit zusammenhängende Tendenz historische Straßennamen umzubenennen und Bücher von politisch inkorrekten Begriffen zu befreien. Das dahinter stehende Motiv des „Bildersturms“ ist alles andere als neu und ist uns vor allem aus dem Zeitalter der Reformation und der großen Revolutionen überliefert.

Nachdenklich stimmt hier vor allem der Dogmatismus und der Missionseifer des Vorgehens. Was sich zunächst nur auf einige wenige Protagonisten, z.B. aus der US-amerikanischen Bürgerkriegs-Vergangenheit oder aus der Hochzeit des Kolonialismus, fokussierte, entwickelt sich zu einem immer breiteren Strom einer zunehmend ausufernden „Damnatio memoriae“.

Cancel History

Unabhängig von der Einzelfrage, welche Namen, welche Ereignisse oder welche politischen Richtungen aus der Vergangenheit zu tradieren sind, bleiben erhebliche Zweifel, ob das Ausblenden von Geschichte, das aktuell vielerorts zelebrierte „Cancel History“, wirklich zielführend ist, wenn es darum geht, ernsthaft aus „Geschichte zu lernen“. Wer versucht Vergangenheit einfach auszuXen und sich nicht die Mühe macht, das Geschehene aus dem zeitlichen Zusammenhang heraus zu verstehen, sprich zu kontextualisieren, begibt sich auf einen sehr schmalen Grat mit offenem Ende. Wer einmal anfängt, Plätze von Denkmälern zu „befreien“, Straßen umzutaufen oder historische Literatur nach weltanschaulichen Kriterien zu „bereinigen“, der stellt das Vergessen an die Stelle von kritischer Auseinandersetzung und riskiert eine nicht enden wollende Kettenreaktion.

Lernen aus dem Schrecken

Dass das Erinnern auch als Negativ-Erinnerung seinen Stellenwert haben kann, beweist der Umgang mit unserer eigenen Geschichte. Statt die baulichen Überreste des Dritten Reiches, allen voran die vielen Orte der Gewaltausübung und des Schreckens, zu tilgen, haben wir sie erhalten und für unsere Nachkommen zugänglich gemacht. Getragen von dem Bewußtsein, dass die Erinnerung an das Geschehene nur dann wirksam vor Rückfällen oder Wiederholungen schützen kann, wenn uns die Überreste als (kommentierte) Mahnmale auch weiterhin vor Augen stehen.

Noch besser wäre es natürlich, wenn diese Erinnerungsarbeit auch in Zukunft den Auswüchsen von beiden Extremismen gelten würde. Die Mauer ist weg und auch die Beschäftigung mit dem dunklen Erbe der zweiten Diktatur auf deutschen Boden wirkt seit Jahren merkwürdig insuffizient. Die Nachfolgepartei der alten SED sitzt zumindest in einigen neuen Ländern wieder an wichtigen Schalthebeln der Macht und lässt keine Gelegenheit ungenutzt, um sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Wenn wir von unserer jüngeren Vergangenheit nicht doch noch irgendwann eingeholt werden wollen, sollten wir konsequent beide Augen und beide Erinnerungskanäle offen halten.

Echt was gelernt!

Wie heilsam geschichtliche Erinnerung in Verbindung mit „kollektiver Erfahrung“ sein kann, zeigt exemplarisch der Umgang der alten Bundesrepublik mit den Weimarer Erfahrungen. Dass „Bonn“ – entgegen aller Befürchtungen – „nicht Weimar wurde“ (Fritz René Allemann), hat ganz wesentlich mit einem historisch motivierten Erfahrungsschub zu tun. Obwohl es damals Ende der 40er Jahre keine ernsthaften Zweifel an der demokratisch-rechtsstaatlichen Fundierung der Weimarer Reichsverfassung geben konnte, wichen die Väter und Mütter des Grundgesetzes in wesentlichen Punkten von ihrem „Vorbild“ ab. Neben dem Verzicht auf eine konkurrierende Gesetzgebung von Volk und Parlament auf zentralstaatlicher Ebene, dem Beharren auf einer starken Stellung der Länder und der Garantie von unveräußerlichen Grundrechten blieb der Bonner Republik vor allem die Inthronisierung eines vom Volk gewählten „Ersatzkaisers“ erspart.

Am Ende war es der Reichspräsident und die ihn umgebende Entourage, die verstärkt seit 1930/31 die politisch-staatsrechtliche Aushöhlung der Weimarer Republik betrieb. Gestützt auf eine in Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung verankerte Notstandsgesetzgebung wurde die Legislative strukturell entmachtet und politisch matt gesetzt. Knapp zwei Jahre später war die Republik am Ende und die Weichen Richtung Diktatur bzw. permanenten Ausnahmezustand gestellt.

Institutionell geronnene Erfahrung

Die fundamentale Erkenntnis hieraus lautet: Noch besser als die kollektive Erfahrung, die sich in den Köpfen der Menschen festsetzt, ist die zur Institution geronnene Erfahrung. Ihr Erbe aus historischer Einsicht zu bewahren, ist Zeichen hoher Staatskunst. Nutzen wir die institutionellen Fundamente unserer freiheitlichen Grundordnung, die unsere Vorväter vor fast genau 70 Jahren aus tiefer Überzeugung für uns gelegt haben. Halten wir sie fest! Wir haben nur diese!