Aus Zwei mach Eins

Wer heute im Jahre 2020 zu nationalen Gedenktagen einlädt, muss mit einer Fülle von Absagen rechnen. Nicht nur wegen Corona, sondern auch, weil das „Nationale“ in der Gedankenwelt des beginnenden 21. Jahrhunderts massiv an Strahlkraft und politisch-medialem Flankenschutz verloren hat. Zukunft, so der breite Tenor, ist heute entweder global oder auf diverse Art atomistisch. Wer hier trotzdem auf nationale Besinnung pocht, muss sich immer öfter den Vorwurf der politischen Einfalt und geistigen Enge gefallen lassen. – Wenn das aber so ist, warum begehen wir an Tagen wie dem 3. Oktober überhaupt noch Nationalfeiertage? Nur weil es noch keinen global anerkannten „Weltfeiertag“ gibt? Oder weil wir im Gegenteil – trotz des verheißungsvollen Modernisierungsversprechens unserer „Vordenker“ – doch noch im tiefsten Innern spüren, dass da etwas ist, was uns zusammenhält. Etwas was uns aneinander bindet und etwas was wir – um den Preis der fortschreitenden Desolidarisierung – doch nicht einfach leichtfertig verspielen sollten…?

Dass wir Deutschen mit unseren Nationalfeiertagen immer schon ein wenig auf Kriegsfuß standen, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es selbst in der Startphase des national-trunkenen Kaiserreichs Anfang der 70er Jahre des 19.Jahrhunderts zunächst nicht gelang einen konsensfähigen „Tag der deutschen Einheit“ zu finden. Regelrecht aufgedrängt, hätte sich eigentlich der 18. Januar (1871), der Tag der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles. Den aber wollte ausgerechnet der „Gekrönte“ selbst nicht akzeptieren. Der alte Wilhelm durfte sich zwar fortan mit dem Kaisertitel schmücken, sein Herz hing aber nach wie vor an seiner preußischen Königskrone. Und für diese war der 18. Januar bereits fest reserviert. Nichts sollte die Erstlings-Krönung seines Vorfahren am 18. Januar 1701 in Königsberg in den Schatten stellen.

Sedanstag

Nachdem man sich auch auf den 10. Mai (1871), den Tag des Friedensschlusses von Frankfurt am Main, nicht verständigen konnte, blieb schließlich der 2. September (1870) übrig, der sog. Sedanstag, der den kriegsentscheidenden Sieg der deutschen Truppen über die napoleonische Hauptarmee an der Maas markierte. Keine „Verfassung“, keine „Unabhängigkeitsurkunde“, sondern ein „Schlachtfeld“ als Bezugspunkt für nationales Gedenken. Kaum etwas könnte die Not oder besser die Orientierungsprobleme der Deutschen bei der symbolischen Unterfütterung ihrer nationalen Identität besser umschreiben, als die merkwürdig eingleisige Ausrichtung der deutschen Gedenkkultur an Preußens Gloria.

Weimarer Tragik

Die These, dass die Weimarer Republik bei der Auswahl „ihres“ Nationalfeiertages ein glücklicheres Händchen gehabt hätte, läßt sich nur bedingt belegen. Zwar fand sich nach viel Mühe mit dem 11. August (1919) ein echter „Verfassungstag“ als Kristallisationspunkt, aber kaum ein nationaler Jubeltag hatte in der Folgezeit mehr Anfeindungen zu ertragen, als der Tag der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung.  Außerhalb der Reichshauptstadt im bedrohten Weimarer Exil entstanden, war dieser Tag fortan Zielscheibe wilder Verwünschungen aus den Kreisen der Intellektuellen und der politischen Systemopposition von Rechts und von Links. Um so unruhiger die politische Gesamtlage und um so prekärer die wirtschaftliche Entwicklung, um so düsterer die Atmosphäre, die sich um den Gedenktag rankte.

Gestohlener Gedenktag

Vollends überrascht die Tatsache, dass es selbst den Nationalsozialisten mit ihrem lauten Hypernationalismus nicht gelang, einen anerkannten, allgemein akzeptierten Nationalfeiertag zu fixieren. Der 1. Mai, der ab 1934 den Titel „Nationaler Feiertag des deutschen Volkes“ trug, blieb auf merkwürdige Weise ein „gestohlener“ Tag. Als „Fest- und Demonstrationstag“ der Arbeiterbewegung war der 1. Mai längst politisch kodiert und sozusagen nur noch „gebraucht“ zu haben. Der 9. November (1923), der als „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“ mit viel Pomp alljährlich vor allem in München, der „Hauptstadt der Bewegung“, begangen wurde, war eine kaum über die Grenzen der Staatspartei hinausreichende Selbstbeweihräucherung der „Alten Kämpfer“ und deshalb als Bezugsquelle für nationale Identifikation ebenso ungeeignet wie der 30. Januar (1933), der „Tag der Machtergreifung“.

Geteiltes Gedenken

Richtig schwierig, wurde es mit den nationalen Gedenktagen aber erst, als das „Dritte Reich“ in Trümmer sank und zwei deutsche Staaten ab 1949 gleichzeitig daran gingen, auf der Basis ganz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen, den nationalen Gedenkhaushalt zu bewirtschaften. Die „geteilte Nation“, die 1870 (wieder-)vereinigt worden war, war erneut geteilt, wenn auch nur in zwei ungleiche Hälften. Jeweils nur halbsouverän und unter der Kuratel der jeweiligen Besatzungsmächte hatten die BR Deutschland und die DDR wenig Chancen und auch wenig Muße sich fundiert auf die Suche nach einem nationalen Haltepunkt im Jahreskalender zu machen.

Es verwundert deshalb nicht, dass es zunächst nur die „Ostzone“ war, die sich aus prekären Legitimationsgründen heraus den Ordensschmuck des „Nationalfeiertages“ anheftete. Der 7. Oktober (1949), der Tag, an dem die provisorische Volkskammer der Sowjetischen Besatzungszone eine Verfassung aufnötigte, wurde ab 1950 zum festen Bestandteil einer Art „Staatsinszenierung“ unter sozialistischen Vorzeichen. Paraden, Fähnchen-schwingende Abordnungen und greise Funktionäre auf VIP-Tribünen sollten bis zum Ende der tragischen Geisterfahrt Ende der 80er Jahre zum alljährlichen Ritual werden.

Provisorisches Gedenken

Deutlich schwieriger stellte sich die Lage für den bundesrepublikanischen „Weststaat“ dar. Als selbsterklärtes Provisorium wollte die Bonner Republik alles vermeiden, was dem neugeschaffenen Gebilde den Ausdruck von Endgültigkeit verlieh. Getragen von der Wendung „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ war das staatliche Konstrukt ganz und gar Transitorium und per definitionem nicht befugt, feste Anker zu werfen. So war es damals auch gänzlich unmöglich, den 23. Mai (1949), den „Verfassungstag“ der jungen Republik, zum Nationalfeiertag zu küren. Selbst als später in den 70er Jahren, die von Dolf Sternberger kreierte Idee des „Verfassungspatriotismus“ populär wurde, blieb der 23. Mai ein irgendwie randständiger Alltag im Gedenkhaushalt der inzwischen halbwegs erwachsen gewordenen Republik.

In dieser Konsequenz musste der Bonner Weststaat auf der Suche nach einem geeigneten Nationalfeiertag geradezu zwangsläufig einen kalendarischen Bezugspunkt aus dem „unerlösten“ Teil des Vaterlandes wählen. Auf dem Silbertablett serviert, wurde ihm dieser Gedenktag im Zusammenhang mit dem sog. „Arbeiteraufstand“ in der DDR am 17. Juni (1953). Das „Deutschland, einig Vaterland“, das damals bereits durch die frühsommerlichen Magistralen Berlins hallte, wurde am Rhein begierig aufgegriffen und ab 1954 unter dem Motto  „Tag der deutschen Einheit“ mit viel Verve, aber letztlich ohne echte Durchschlagskraft zelebriert.

Verschämtes Gedenken

Die Älteren von uns können sich noch daran erinnern, wie peinlich es für gewichtige Teile der politischen Elite unseres Landes in den 70er und 80er Jahren war, dem „Aufstand in der DDR“ öffentlich zu gedenken. Die neue Formel vom „Wandel durch Annäherung“ und die lange Kette der sog. Ostverträge hatte nicht nur die Detente nach Mitteleuropa gebracht, sondern auch die Teilung als deutsch-deutsche Normalität etabliert. Kaum jemand wollte da noch anecken und kaum jemand hielt es damals noch für opportun der Wiedervereinigung offen das Wort zu reden.

Dass wenige Jahre später alles anders kam, brachte manches Weltbild zum Wanken und wirbelte im Strudel der großen Wende auch die „Feiertags-Landschaft“ mächtig durcheinander. Der noch 1989 als trauriges Marionettentheater gefeierte 7. Oktober verschwand über Nacht im Orkus der Geschichte. Und der historische Zufall wollte es, dass im Jahre 1990 – erstmals in Deutschland – sogar zwei Nationalfeiertage in einem Kalenderjahr hintereinander gefeiert wurden. Angesichts des Gorbatschowschen „Gottesgeschenks“ kam man in der frisch vereinten Republik quasi aus dem Feiern gar nicht mehr heraus und gab sich sowohl am 17. Juni als auch dreieinhalb Monate später am 3. Oktober (Vollzug des Beitritts der fünf neuen Länder zum Geltungsbereich des GG) ein freudiges Stelldichein auf Straßen und Plätzen.

Auseinanderdriften

Heute, 30 Jahre später, wird zwar immer noch gefeiert, aber ganz offensichtlich deutlich gebremster. Bei vielen Ostdeutschen hat man – trotz aller wirtschaftlichen und infrastrukturellen Fortschritte – mittlerweile nach drei Jahrzehnten den Eindruck, als kämen sie vor allem mit der gesellschaftlichen Entwicklung des wiedervereinigten Deutschland nicht mehr wirklich zurecht. Das schlägt sich nicht nur im Wahlverhalten nieder, sondern macht sich vornehmlich auch dort bemerkbar, wo sich ostdeutsche Intellektuelle und ehemalige Dissidenten zur Situation im Lande äußern.

Einen ersten Höhepunkt hat diese offensichtliche Mißstimmung im 25sten Jahr der Wiedervereinigung, also 2015, erreicht, als sich innerhalb weniger Wochen die Tore für Hunderttausende von Migranten öffneten und die allgemein erwartete Willkommensstimmung in den neuen Bundesländern nicht so recht aufkeimen wollte. Während sich im Westen die Stimmung in den entscheidenden Septembertagen fast überschlug, wollte man den neuen Zeitgeist im Osten einfach nicht begreifen.

Westlich konnotierte „Nation“

Dieses sich in den vergangenen 5 Jahren weiter verfestigende Mißverständnis macht es zunehmend schwerer, die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands als vollendet bzw. abgeschlossen zu interpretieren. Trotz der Tatsache, dass eine gebürtige Ostdeutsche seit über 15 Jahren im Kanzleramt sitzt, sind Gegenwart und Zukunft Gesamtdeutschlands komplett „westlich“ konnotiert. Die Nation ist und bleibt aus der westlichen Elitenperspektive ein Auslaufmodell. Der Zeitpunkt an dem alte, überkommene Losungen, wie die über dem Westportal des Reichstags („Dem deutschen Volke“) verschwinden werden, rücken näher und es wäre ganz und gar verwunderlich, wenn der 3. Oktober in Deutschland nicht schon bald durch einen „Europatag“ ersetzt würde.

Ob wir den „Tag der deutschen Einheit“ auch im Jahre 2030 noch begehen werden, ist deshalb alles andere als sicher. Zu stark, sind die Kräfte, die in unserem Land bereits jetzt auf einen weiteren Rückbau nationaler Symbolik und nationalhistorischer Bezüge drängen. Ob die Pandemiekrise und der damit verbundene Druck auf die Globalsierung daran etwas ändert, ist schwer zu prognostizieren. Hier wird man sich eher Sorgen darüber machen müssen, ob die administrativ etablierten Kontroll- und Überwachungsmechanismen möglicherweise nicht auch nach der Pandemie noch weiterwirken.

Patriotischer Kitt

Die unbestreitbaren Vorteile eines zivilisierten Patriotismus für den inneren Zusammenhalt von komplexen Gesellschaften werden leider in den tonangebenden Kreisen von Politik und Medien zu wenig gewürdigt. Die Vorstellung, die Probleme der Zukunft, auch ohne nationalen Kitt lösen zu können, gewinnt zunehmend die Oberhand. Dass ein gemeinsam begangener Nationalfeiertag mit mutigen Appellen an nationale Solidarität und kollektives Selbstbewußtsein eine mächtige Kraftquelle sein kann, wird uns vermutlich erst wieder wirklich bewußt werden, wenn die heranrückende Krise ihrem Höhepunkt entgegenstrebt.