Geschichte oszilliert zwischen Kontinuität und Wandel. Selbst das, was über Jahrhunderte hinweg in Stein gemeißelt scheint, wird plötzlich und unerwartet Opfer von dramatischen Brüchen. Vor allem die jüngere Geschichte des entwickelten Westens ist voll von solchen politischen, gesellschaftlichen und technischen Umbrüchen. Tiefgehende Regimewechsel, die das gesamte politisch-weltanschauliche Decorum umwälzten und ihre Spuren nicht nur in den Regierungszentralen, den Parlamenten und den großen Institutionen, sondern auch auf den Straßen und Plätzen hinterließen.* – Sind Denkmalstürze, wie wir sie aktuell in einzelnen Metropolen des Westens erleben, Vorboten eines solchen Regimewechsels? Für wen oder was steht der markante Bildersturm der letzten Wochen? „Bilderstürme“ weiterlesen
Autor: Ralf Langejürgen
Die fragmentierte Gesellschaft
Es war Anfang der 50er Jahre als der deutsche Soziologe Helmut Schelsky in einer bahnbrechenden Studie den Übergang der traditionellen „Klassengesellschaft“ in die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ konstatierte*: Im Zuge des anhebenden Nachkriegsbooms – so seine These – nivellieren sich gesellschaftliche Unterschiede, Konsumgewohnheiten und Lebensstile. An die Stelle des „Klassenantagonismus“ tritt eine weitgehend homogene „Mittelschichtsgesellschaft“ aus einer „verbürgerlichten“ Arbeiterschaft und einem kriegsbedingt erodierten Bürgertum. Dieses breit rezipierte Gesellschaftsmodell war nie unumstritten und rief in der Folge Heerscharen von Kritikern auf den Plan, blieb aber lange Zeit wegweisend für die Erklärung des gesellschaftlichen Wandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. – Was ist heute rund 70 Jahre nach diesem soziologischen Thesenanschlag von 1953 aus der damals mitgelieferten Vision einer mittig ausgerichteten, sozioökonomisch nivellierten Gesellschaft geworden? Sind wir noch auf Kurs oder droht das Ganze einer fortschreitenden Fragmentierung zum Opfer zu fallen? „Die fragmentierte Gesellschaft“ weiterlesen
Jay´s Market – Im Sog der großen Zahlen
Rückblickend betrachtet, war Geld seit den ersten Münzprägungen vor rund zweieinhalbtausend Jahren, ein ausgesprochen knappes Gut. Um gleichzeitig Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel sein zu können, war die Knappheit des Geldes geradezu systemimmanent. Man rechnete in „kleiner Münze“, ein „Batzen Geld“ entsprach vier Kreuzern und der „Dukatenesel“ trabte nur durchs Märchen. Erst als die ersten „Notenbanken“ im 17. Jahrhundert anfingen Papier zu bedrucken, erhöhten sich „Nennwert“ und „Stückelung“. Das Geld löste sich vom (seltenen) Edelmetall und wurde zum bedruckten „Schein“. – Und heute? Wo stehen wir heute? Schluss mit Hundert! Schluß mit Tausend, Schluß mit der Million. 1000 Millionen! 100 Milliarden!, 500 Milliarden! Wer bietet mehr? Keine halben Sachen! 1000 Milliarden müssen es schon sein. „Jay´s Market – Im Sog der großen Zahlen“ weiterlesen
Liberté
Spätestens seit der Französischen Revolution gehören Freiheitsdiskurse zum harten Kern politischer Debatten. Das heißt, wer seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert über Politik redet, redet gleichzeitig immer auch über Freiheit. Besser gesagt, über ein Freiheitsversprechen, das sich im Sog der Demokratisierung moderner Gesellschaften, Schritt für Schritt vom Elitenprivileg zum allgemeinen Grundrecht entwickelt hat. Dass etwas Allgegenwärtiges, etwas tausendfach Kodifiziertes trotzdem störanfällig sein kann, zeigen die aktuellen Debatten im Umfeld der Corona-Krise. Das liegt ohne Zweifel an der ambivalenten Geschichte des Freiheitsbegriffs und an der Tatsache, dass die Botschaft der Freiheit von Anfang an im Spannungsfeld zu anderen konkurrierenden Botschaften stand. Das Verlangen nach Liberté stößt unweigerlich auf das gleichzeitig artikulierte Verlangen nach Sécurité. Und was wäre die Geschichte der bürgerlichen Freiheit ohne die ewige Dualität zwischen Liberté und Égalité? „Liberté“ weiterlesen
Konsens statt Kontrolle
Viele Millionen Individuen in großen Gemeinwesen aneinander zu binden bzw. zusammenzuhalten, gehört zu den größten Herausforderungen moderner Gesellschaften. Wer Grundrechte gewährt und Mitbestimmung aktiv fördert, muss sich immer wieder mühsam den tragenden Grundkonsens erarbeiten, ja erkämpfen. Dabei setzt der systemimmanente Pluralismus Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt zwingend voraus. – Was aber ist, wenn zentrale Institutionen in pluralistischen Systemen das Prozessuale der Meinungsbildung mißdeuten und den Konsens nicht ans Ende der Prozesses stellen, sondern ihn gerne schon ganz am Anfang aktiv „herbeiführen“ wollen? Geht das? Funktioniert das? Hilft das nicht sogar, um „unnötigen“ Dissens zu vermeiden und „der Wahrheit“ schon gleich in der Anfangsphase des demokratischen Diskurses zum Durchbruch zu verhelfen? Oder gehört der zivilisiert ausgetragene Dissens nicht doch zum Lebenselixier demokratischer Gemeinwesen? „Konsens statt Kontrolle“ weiterlesen
Weltwirtschaftskrise 2.0?
Was passiert mit Volkswirtschaften, deren Wirtschaftsleistung etwa zur Hälfte über mehrere Wochen hinweg administrativ blockiert wird? Oder anders: Was geschieht mit großen, weltweit verflochtenen ökonomischen Organismen, die über Wochen ins künstliche Koma gelegt werden? Schwierige Fragen, denn die Vorgänge, wie wir sie momentan erleben, sind beispiellos. Niemals zuvor in der industriellen Moderne wurden die ökonomischen Vitalfunktionen der entwickelten Volkswirtschaften auf so drastische Weise künstlich heruntergefahren.* Das heißt, um abschätzen zu können, was uns erwartet, hilft uns nicht die eine historische Referenz, sondern nur ein breiter angelegter Blick auf die diversen Wirtschafts- und Konjunkturkrisen der vergangenen Jahrzehnte. „Weltwirtschaftskrise 2.0?“ weiterlesen
Starker Staat
„L´ État c`est moi!“ – Diese, Ludwig XIV. zugeschriebene, Wendung ist zwar quellenmäßig schlecht belegt, umschreibt aber auf herausragende Weise den Blickwinkel der Fürsten auf die Staatsgewalt in der Hochphase des Absolutismus. „Der Staat, das bin ich!“ – Mit dieser Herrschaftsformel erreicht die absolute Monarchie an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ihren Kulminationspunkt und setzt die entscheidenden Wegmarken für die Entfaltung exekutiver Staatsmacht im alten Europa. – Lange her, möchte man meinen! Angestaubter Stoff aus alten Folianten? Botschaften aus dem Totenreich des Ancien Regime? Denn wir sind doch Gott sei Dank längst weiter: Gewaltenteilung, Volkssouveränität, garantierte Grundrechte und ein Katalog von individuellen Freiheitsrechten, der seinesgleichen sucht. Also nur was für die Archive oder doch brauchbares, historiographisches Anschauungsmaterial für ein besseres Verständnis von Gegenwart und (naher) Zukunft? „Starker Staat“ weiterlesen
Politics by Bazooka
Während die galoppierende Pandemie immer neuen Höchstständen entgegenstrebt und sich im breiten Strom der Medien noch fast alle Augen auf das mikrobische Corona-Virus selbst richten, zeichnet sich im Schlachtenlärm eine zweite gewaltige Front am Horizont der Ökonomie und des Sozialen ab. Vom Sperrfeuer der Medien regelrecht paralysiert, schauen wir zwar immer noch mehrmals täglich mit starrem Blick auf die neueste Corona-Statistik, ahnen aber zumindest vage, dass schon bald Konkurs- und Arbeitslosenstatistiken ihre Stelle einnehmen werden. Die Regierungen in den betroffenen Ländern haben diese bittere Kausalkette längst antizipiert und begonnen ihr Krisenmanagement auszuweiten. Neben dem Virus sollen mit schwerem Geschütz nun auch seine Folgen bekämpft werden. Das geld- und finanzpolitische Arsenal, dass da aufgefahren wird, ist alles andere als neu. Wir kennen es aus vorangegangenen Krisen und hören die mitgelieferten Kampfbegriffe wie ein Echo aus vergangenen Tagen. Doch was können die mächtigen „Bazookas“*, die überall in den Regierungszentralen durchgeladen werden, wirklich ausrichten? Läßt sich die aktuelle Krise wirklich mit dem ausgeleierten Arsenal der letzten großen Finanzkrisen bekämpfen? Oder haben wir unsere Munition nicht längst leichtfertig verschossen? „Politics by Bazooka“ weiterlesen
Europa und das Virus
Als das vereinte Europa vor fast genau 70 Jahren gerade einmal 5 Jahre nach Kriegsende – mit dem sog. „Schuman-Plan“ vom 9. Mai 1950 – den Geburtskanal erreichte, war allen politischen Geburtshelfern von vornherein klar, dass es eine Risikogeburt werden würde. Natürlich waren auch schon in den Jahrhunderten zuvor maßgebliche Denker mit der europäischen Idee schwanger gegangen. Zumindest als Kopfgeburt hatte die europäische Einheit schon bei griechischen Philosophen und mittelalterlichen Theologen eine Rolle gespielt. Was lag näher, als die gemeinsame geistig-intellektuelle Vaterschaft des christlichen Abendlandes auch politisch in eine tragfähige Form zu gießen. Dass es trotzdem zweier Weltkriege bedurfte, um den waidwunden Kontinent auf eine höhere Ebene der Einheit zu heben, macht deutlich, dass selbst naheliegende, vielfältig durchdachte Ideen oft nur unter schmerzhaftesten Wehen vorankommen. „Europa und das Virus“ weiterlesen
Angriff aus dem Hinterhalt
Erst der große Börsencrash (2008), dann Fukushima (2011) und nun seit dem Jahreswechsel 2019/20 Corona. Droht dem 21. Jahrhundert ein ähnlich vermaladeiter Start wie dem 20. Jahrhundert? Erst noch Belle Époque und boomende Wirtschaft und dann der tiefe Fall (1914)? Laut dem Publizsten und Börsenbroker Nassim Nicholas Taleb („The Black Swan“, 2007) mangelt es uns einfach an einem wirkungsvollen Risikomanagement. Wir „rechnen“ im buchstäblichen Sinne einfach nicht mit den oben erwähnten „externen Schocks“. Unsere ausgefeilten Risikokalküle schreiben Vergangenes in der Regel einfach nur fort und behandeln das „gänzlich Unwahrscheinliche“ (den „Schwarzen Schwan“) wie eine Unbekannte in einer ansonsten ungestört verlaufenden Aufwärtsentwicklung. „Angriff aus dem Hinterhalt“ weiterlesen