Der Mensch – wer will es bestreiten – ist ein Herdentier. Geprägt vom Leben in der gefahrvollen Wildnis haben bereits unsere hominiden Vorfahren die Nähe zu anderen Menschen gesucht und dabei über Jahrtausende hinweg die Solidarität in der kleinen Einheit eingeübt. Um so größer die gesellschaftlichen Einheiten wurden und um so anspruchsvoller das Leben in den sich herausbildenden Hochkulturen, um so herausfordernder wurden die Aufgaben der Solidaritätsvermittlung. Einsame Höhen erreichte dieser humane Vermittlungseifer in den modernen, säkularen Demokratien, die bekanntlich – so Ernst-Wolfgang Böckenförde – „die Voraussetzungen ihrer Existenz nicht selbst garantieren können“. Die Triumphe der bürgerlich-liberalen Demokratien über die feudale Ständegesellschaft und den real existierenden Sozialismus waren somit alles andere als vorhersehbar. Und wenn sich heute in den befriedeten Zonen des entwickelten Westens neue mächtige Spaltpilze emporrecken, dann ist das für die sensiblen Systeme aus dem gleichen Grunde mindestens ebenso gefahrenträchtig. Vor allem deshalb, weil sich die innergesellschaftliche Spaltung nicht nur entlang von zwei oder drei Trennungslinien vollzieht, sondern geradewegs in einen vielfarbigen Flickenteppich aus modernen Stämmen zu münden droht.
Stämme? Was soll uns das sagen? Der Begriff wirkt irgendwie antiquiert und hört sich mächtig nach Anachronismus an. Stämme in unseren Breiten Anfang des 21. Jahrhunderts? Bewegen wir uns da nicht auf gräulich verstaubtem Terrain? – Nur auf den ersten Blick! Denn trotz seiner anachronistischen Anmutung hat der Stammesbegriff den unbestreitbaren Vorteil, dass er im wissenschaftlichen Kontext strikte Unilinerarität (engl. Lineage) beschreibt und für vormoderne Zustände steht. Wenn wir heute über einlinig strukturierte Solidargemeinschaften mit ausgeprägter Gruppenidentität sprechen, dann kann uns die Rückbindung an den Stammesbegriff zusätzliche wichtige Erkenntnisse liefern.
Selbstreferentielle Gruppenidentitäten
Wie bei allen Vergleichen gibt es jedoch Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Denn was in Prähistorie und Antike sowie in den Weiten der nordamerikanischen Prärie immer irgendwie ethnisch konnotiert war, tritt uns heute viel bunter und vielgestaltiger entgegen. Neben den ethnischen Gruppenzugehörigkeiten und den Kategorien der Hautfarbe sind es heute vor allem geschlechtsspezifische Bezüge oder sexuelle Orientierungen, die zur weiteren Auffächerung des Spektrums führen. Allen gemeinsam ist ihre Minderheitenposition im gesellschaftlichen Kontext und ihre – und auch das ist anders als bei den „alten“ Stämmen – z.T. eminente politisch-emanzipatorische Aufladung im Konflikt mit der sog. Mehrheitsgesellschaft.
Der Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang lautet „Identity Politics“ und hat seine Wurzeln in den Vereinigten Staaten von Amerika. Aus kleinsten Anfängen im universitären Milieu Ende der 70er Jahre/Anfang der 80er Jahre in linksintellektuellen Zirkeln entstanden*, hat sich das von Anfang an sehr theorielastige Konzept namens „Identitätspolitik“ mittlerweile – zumindest in der westlichen Hemisphäre – zu einer breiten Strömung in Wissenschaft, Gesellschaft und Medien entwickelt.
USA als Vorbild
Wer sich heute in den USA und in jüngster Zeit auch in wichtigen Teilen des westlichen Europa zu Fragen der Kultur- und Gesellschaftspolitik, der Einwanderungs- bzw. Integrationspolitik oder auch zu Themen wie Gender, Postkolonialismus oder Diversity äußert, kommt an dieser Denkrichtung, an ihren Begrifflichkeiten, an ihrem semantischen Duktus, vor allem aber an ihrer politisch-medialen Präsenz nicht vorbei.
Was hat es mit dieser merkwürdigen Wiedergeburt des „Tribalismus“ auf sich? Was motiviert die intellektuelle Linke das ehemals übermächtige Proletariat durch ein Kaleidoskop von Minderheiten zu ersetzen? Gefährdet die politische Aufladung von monokausal begründeten Gruppenidentitäten nicht auf bedenkliche Weise die großen Errungenschaften der aufgeklärten, vernunftzentrierten Moderne? Wenn zukünftig alle nur noch um ihren eigenen Totempfahl tanzen, wo bleibt da der gesellschaftliche Zusammenhalt?
Thierse-Kontroverse
Was auf dem Spiel steht und wie weit sich die entsprechende Debatte mittlerweile verselbständigt hat, zeigt ein aktueller Disput an der Spitze der deutsche Sozialdemokratie. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und langjährige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse übte Ende Februar diesen Jahres in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. unter dem Titel „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“ deutliche Kritik an der immer offensiver artikulierten identitätspolitischen Grundausrichtung der eigenen Parteiführung.**
Die Partei und mit ihr weite Teile der Gesellschaft – so Thierse – geraten zunehmend in den Sog eines desolidarisierend wirkenden „Grabenkampfes“ zwischen gegensätzlichen Gruppenidentitäten. Die eigentlich begrüßenswerte gesellschaftliche Pluralität schlägt dabei – nach Auffassung Thierses – in doktrinäre Unversöhnlichkeit um und mindert auf drastische Weise den Spielraum für eine demokratische Streitkultur.
In einer ersten Reaktion titulierte die SPD-Parteichefin Saskia Esken den Vorstoß ihres Parteigenossen als Ausdruck eines „rückwärtsgewandten Bildes“ und zeigte zunächst wenig Bereitschaft sich offen und diskursiv mit der angesprochenen Problematik auseinanderzusetzen. Die nunmehr seit gut drei Wochen laufende Debatte, die zwischenzeitlich auch die elektronischen Medien und die Feuilletons anderer überregionaler Tageszeitungen erreicht hat, zeigt, wie schwer es den betroffenen Protagonisten und ihrer jeweiligen Anhängerschaft in diesem Konflikt fällt, die zum Gutteil bereits festgefahrenen Positionen zu relativieren bzw. die einmal aufgerichteten Meinungsbastionen zu räumen.***
Humboldt going public
Noch ein Stück weit kompromissloser stellt sich die ähnlich gelagerte Debatte über das museale Konzept des neu eröffneten Humboldt-Forums im Herzen von Berlin dar. Hatte schon die Rekonstruktion des alten Berliner Stadtschlosses für lebhafte Kontroversen gesorgt, geht es nun vor allem um die „koloniale Vergangenheit“ der ausgestellten Exponate. Angelehnt an vergleichbare Debatten in den USA (Smithsonian Institution) und Frankreich (Musée du quai Branly) entwickelte sich um das Humboldt-Forum eine heftige Auseinandersetzung nicht nur über die vordergründige Frage der Kulturgüter-Restitution, sondern verstärkt auch über den emotional stark aufgeladenen Themenkomplex der „(fremd-)kulturellen Aneignung“.
Wer diese Debatten verfolgt, spürt in fast allen Statements eine starke Tendenz zur Polarisierung zwischen den gegensätzlichen Lagern. Dabei geht es nur noch selten um museumsdidaktische oder ausstellungstechnische Fragen, sondern primär um Gefühlslagen und verletzte Selbstbilder. Die oft als latent „kolonialistisch“ gebrandmarkten Kuratoren fühlen sich verkannt und die überwiegend „weißen“ Vertreter der verschiedenen „postkolonialen“ Minderheiten fühlen sich bzw. ihre Klienten vernachlässigt oder falsch „repräsentiert“.
Emanzipationserfolge nicht aufs Spiel setzen
Nun wäre es ungerecht und auch historisch falsch, wollte man die ureigenen Motive der identitätspolitisch argumentierenden Betroffenengruppen und ihrer Anwälte generell in Zweifel ziehen. Das mit dem Kolonialismus verbundene historische Unrecht steht außer Frage und der emanzipatorische Impuls der großen „Anti-Diskriminierungs-Bewegungen“ des 19. und 20. Jahrhunderts zur Durchsetzung von Minderheitenrechten hat wesentlich zur Wiedergutmachung vergangenen Unrechts und zur Herausbildung pluralistisch-demokratischer Gesellschaften in der westlichen Welt beigetragen.
Problematisch sind nicht diese emanzipatorischen, auf Gleichberechtigung und Inklusion fokussierten Prozesse, sondern die überschiessenden Tendenzen zur Exklusivität, zur gruppenbezogenen Abschließung und zur selbstpräferentiellen Abschottung nach außen. Das kann soweit gehen, dass eigentlich gut gemeinte Hilfs- und Integrationsangebote seitens der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlagen werden, weil sie als unrechtmäßige „kulturelle Aneignung“ oder unangemessene „(Fremd-)Repräsentation“ empfunden werden. Die Folge sind identitätspolitisch motivierte Abkapselungstendenzen, die die innere Kohäsion, gerade von multiethnischen Gesellschaften, nachhaltig gefährden.
Gorman-Kontroverse
Wohin das führen kann, macht die sog. „Gorman-Kontroverse“ deutlich. Amanda Gorman, eine junge, aufstrebende, afroamerikanische Schriftstellerin, hatte im Januar diesen Jahres den wohl wichtigsten Auftritt ihrer noch jungen Karriere und zwar unmittelbar auf den Stufen des Washingtoner Kapitols. Mit ihrem sog. „Inaugurations-Gedicht“ anläßlich der Amtseinführung von Joe Biden sorgte sie international für Furore.
Für unser Thema interessant, ist weniger ihr Auftritt selbst, sondern das, was sich im Nachgang zu den Feierlichkeiten abspielte. Denn kaum war das Event beendet, rissen sich die Verlage um die Veröffentlichungsrechte für das kurze Poem und engagierten Übersetzer, um Amanda Gormans Gedicht in der jeweiligen Landessprache veröffentlichen zu können.
Was wie eine rein pragmatisch zu bewältigende Angelegenheit anmutete, wuchs sich schon nach kurzer Zeit zu einem handfesten Grabenkrieg um die Frage aus, wer denn überhaupt befugt sei, eine solche Übersetzung vorzunehmen und ob man hierfür ernsthaft eine „weiße“ Übersetzerin engagieren dürfe. Bei den Antworten auf dieses merkwürdige Rätsel stand am Ende – wie selbstverständlich – nicht mehr die professionelle Eignung oder gar das individuelle Talent potentieller Kandidaten im Vordergrund, sondern schlicht und einfach die Frage der Hautfarbe.
Konfessionskonflikte 2.0
Wie folgenschwer solche Entwicklungen sein können, ergibt sich allein unter dem Eindruck historischer Parallelen, die z.T. Jahrhunderte zurückliegen, deren wiedergängerisches Potential aber angesichts des oben Beschriebenen durchaus real ist. Manches von dem, was uns da heute ins Auge springt, erinnert auf bedenkliche Weise an das Zeitalter der konfessionellen Spaltung:
Katholiken durften keine Protestanten heiraten. Die Bibelübersetzung stand unter dem Vorbehalt konfessioneller Zugehörigkeit. Und alles Überlieferungsfähige wurde nicht an den Leistungen der Wissenschaftler oder am Talent der Künstler gemessen, sondern allein nach religiösen Kriterien gewichtet. Wer den Laienkelch nahm, war für den katholischen Bischof ohne weiteres Ansehen der Person ein bestenfalls zu ignorierender, eigentlich zu bekämpfender Outlaw, ausgestattet mit dem Stigma des Ungläubigen.
Destabilisierungsgefahren
Zusammenfassend beschleicht einen bei alldem ein ungutes Gefühl, vor allem im Blick auf die zunehmende Dynamik dieser Prozesse. Wenn sich unsere postmodernen Gesellschaften in wichtigen Kernbereichen zu vormodernen Stammesgesellschaften zurückentwickeln, droht nicht nur eine gefährliche Fragmentierung, sondern auch eine weiter zunehmende Polarisierung, die wiederum starke Gegenkräfte auf den Plan ruft. Die sich seit den 80er Jahren verstärkt formierenden „rechtspopulistischen“ Bewegungen erzeugen in Nordamerika und in Teilen Europas politische Stresslagen, die aktuell unter dem Eindruck der Corona-Lockdown-Krise zu weiteren ökonomischen und sozialen Destabilisierungseffekten führen könnten.
Begegnungszonen statt Safe Spaces
Hochkomplexe Gesellschaften, in denen die Bürger grundsätzlich in ein Netz von Mehrfachidentitäten eingesponnen sind, verlieren durch den Wildwuchs monostruktureller Stammespopulationen ihre innere Kohäsion und ihre natürliche Streßresistenz. Wer das verhindern will, sollte versuchen, künstliche Barrieren zu überwinden und die offene Kommunikation über die Stammesgrenzen hinweg wieder zu beleben. Wir brauchen keine „Safe Spaces“, sondern offene Begegnungszonen, in denen Menschen die Chance haben frei zu kommunizieren und unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Hautfarbe aktiv zu kooperieren.
* Aus diesen frühen Anfängen haben sich die Mehrzahl der US-amerikanischen Universitäten zu wahren Exzerierfeldern der Identity Politics entwickelt. Gegenwärtig werden mit viel Energie beinahe alle Jungakademiker(innen) – mit Ausnahme weißer, männlicher Mittelschicht-Studenten – von studentischen Pressure Groups in jeweils getrennte, eindimensionale Gruppenkorsetts einsortiert. Diese solchermaßen gegeneinander abgegrenzten Minoritäten haben entweder einen ethnischen Bezug, eine Genderdimension oder werden über die Kategorie der sexuellen Orientierung definiert.
** Bei der Identity Politics handelt es sich um ein dezidiert linkes Projekt, in dem eigentlich untypisch für die traditionelle Linke nicht die „soziale Frage“ im Mittelpunkt steht, sondern die kulturelle Ausrichtung. Im Unterschied zu „rechten“ Identitätskonzepten geht es hier grundsätzlich nicht um die „Nation“ als Fixpunkt identitärer Selbstvergewisserung, sondern immer um Minoritäten innerhalb der nationalstaatlichen Gebilde oder um ethnische Minderheiten im Kontext des „globalen Südens“.
*** An dieser Stelle sei auf die kritische Kommentierung der Vorgänge durch Eric Gujer, den Chefredakteur der NZZ, verwiesen: „Der andere Blick“ vom 12.3.2021 unter dem Titel „Identitätspolitik hält für Deutschland eine gefährliche Pointe bereit“.