Billiggeldpolitik

Im Grunde wissen wir es seit langem: Was da an den Geld- und Finanzmärkten abläuft, ist ein reines Vabanque-Spiel. Ein Spiel mit immer höheren Einsätzen, immer absurderen Transaktionen und einem Regelwerk, das eher an Spielanleitungen für Casinobetreiber, als an reguläre Marktordnungen erinnert. Dass wir uns das Ganze trotzdem immer noch „schönrechnen“ können, hat mit einer Art „Kollapsverzögerung“ zu tun, die wie ein allmähliches Herabgleiten auf der schiefen Ebene wirkt und die es den Verantwortlichen seit vielen Jahren ermöglicht die wahren Folgen ihres Tuns gegenüber der breiten Öffentlichkeit zu camouflieren. – Ins Trudeln kommt das wacklige Projekt immer dann, wenn die Blasen platzen, wie zuletzt 2007/08  oder wie jüngst, als Politik, Finanzwirtschaft und Medien zugeben mussten, dass die heftig rotierende Preisspirale auch auf den Konsumenten durchzuschlagen beginnt.

3,8 % Inflation! – so hallt es aus den heiligen Hallen der Wiesbadener Bundesstatistiker. Die höchste Steigerungsrate beim Verbraucherpreisindex seit 25 Jahren. Dazu ein Plus bei den Großhandelspreisen von 10,7 % und bei den Erzeugerpreisen von 8,5 %. Beides Spitzenwerte, die laut Statistischem Bundesamt, seit 40 Jahren nicht mehr erreicht wurden. In den USA, dem Mekka des Easy Money, stiegen die Verbraucherpreise bereits im Juni um 5,4 %. Ebenfalls ein Rekordwert, wie der Blick auf die Inflationsstatistiken der zurückliegenden Jahrzehnte belegt.

Camouflage

Wie auch früher schon, als der geldpolitische Coup aufzufliegen drohte, beeilten sich die Verantwortlichen in den Regierungs- und Notenbankzentralen, die unangenehmen Zahlen als „temporäre Ausschläge“ darzustellen. Diesmal wurde vor allem Corona bemüht. Die Aufhebung der Lockdown-Maßnahmen – so der verbreitete Tenor – habe eine neue Konsumlust ausgelöst und dabei hätten die Anbieter sich den Nachfragespitzen nur durch signifikante Preissteigerungen erwehren können.

Um weitere Nachfragen möglichst schon im Keim zu ersticken, wurde parallel eine zweite Argumentationsschiene aufgebaut, die die Ursachen für die „Preissignale“ zwar ebenfalls in der Corona-Lockdown-Krise verortete, dabei aber nicht den Nachfrageüberhang in den Mittelpunkt stellte, sondern die lockdown-bedingte Unordnung in der internationalen Warenlogistik als Problemursache heranzog.

Wie immer bei diesen medial verstärkten Erklärungs- bzw. Beschwichtigungsbemühungen taten sich die Skeptiker schwer das breit rezipierte Narrativ zu relativieren. Zu geschlossen wirkte der politisch-mediale Konsens, zu naheliegend schien die Begründung für den situativen Ausnahmezustand und zu plausibel schienen die Geschichten vom „nachholenden Konsum“, von Lieferproblemen im globalen Handel und von einem havarierten Frachter im Suezkanal, der die weltweiten Logistikketten ins Stottern gebracht hatte.*

Mehr als eine Schiffshavarie

Dass hinter der Sache doch mehr steckt als einige temporäre Probleme der maritimen Frachtlogistik wird allein daran deutlich, dass man sich im Frankfurter Eastend bereits auf eine länger anhaltende Hochinflations-Ära einstellt und sich längst daran gemacht hat, die löchrigen Leitplanken der Billiggeldpolitik noch weiter zu dehnen.

Während noch vor Jahresfrist das 2 %-Ziel (Inflationsobergrenze) in Stein gemeißelt schien, wollen Lagarde & Co nun plötzlich die Zügel auch auf diesem Felde lockern und den alten Zielwert nur noch als groben Richtwert verstanden wissen. Überschreitungen der 2%-Marke im Euro-Raum sind laut der neuen „Forward Guidance“ nun jederzeit möglich und zwingen den Zentralbankrat nicht zum Gegensteuern.**

Inflation auch im Regal

Fast alle Indizien sprechen dafür, dass die jahrelang zurückgestaute Konsumentenpreisinflation nun mit Wucht auf die Märkte durchschlägt. Die gigantischen Liquiditätsüberhänge haben mittlerweile Dimensionen erreicht, die das „Parken“ der Überschussliquidität auf den „Vermögensmärkten“ immer schwieriger macht.*** Die z.T. astronomischen Überbewertungen von Immobilien und Aktien verleiten Anleger zum Weiterziehen.**** Immer mehr Marktteilnehmer machen sich auf die Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten und entdecken dabei zum Beispiel die Terminmärkte für Agrarprodukte.

Lebensmittel werden teurer

Nach Einschätzung des langjährigen Chefvolkswirten der UNCTAD (UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung), Heiner Flassbeck, tummeln sich auf den Terminmärkten für Agrarrohstoffe längst nicht mehr vornehmlich die professionellen „Preisabsicherer“ – etwa US-amerikanische Farmer, die sich mit Termingeschäften gegen Marktschwankungen absichern wollen – sondern zunehmend Finanzinvestoren, die händeringend nach „Absatzmärkten“ für ihre Liquiditätsüberschüsse suchen und die Preise künstlich nach oben treiben.

So haben sich laut der FAO allein im Mai 2021 die Agrarrohstoffe im Jahresvergleich im weltweiten Maßstab um durchschnittlich 40% erhöht. Laut Statistischem Bundesamt werden diese Spitzenwerte zwar in Deutschland nicht erreicht, aber die aktuellen Zuwächse bei den Erzeugerpreisen für Salat (+ 30,9 %), für Obst (+28,9 %), für Getreide ( +25,2 %) und für Gemüse (+ 13,9 %) sind beispiellos.

Frei floatende Finanzströme

Die Terminmärkte quellen über vor Liquidität und sind geprägt von einem gefährlichen Mißverhältnis zwischen Geldüberhang und Warenangebot. Laut Experten ist aktuell 20 bis 30mal mehr Geld im Markt als Ware im Angebot. Mit der Folge, dass sich die Finanzströme mittlerweile völlig von den Warenströmen „abgekoppelt“ haben und die Preise auf diese Weise in die Höhe katapultieren.

Die Auswirkungen dieser Preis-Bonanza sind vor allem in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu spüren und führen dort zu einem kaum mehr übersehbaren Anschwellen sozialer Konflikte. Die Billiggeldpolitik mit ihrer schrankenlosen Geldschwemme hat damit über die Transmissionsmechanismen der globalisierten Märkte auch die Länder erreicht, in denen nur eine ganz dünne Oberschicht in der Lage ist, die steigenden (Import-)Preise durch notenbankgeneriertes Easy-Money oder börsengeneriertes Vermögen zu kompensieren.

Wenige echte Profiteure

In welch gefährlichem Maß sich dieser Inflationierungsprozess auch in den Ländern der entwickelten Welt auf die politische und soziale Stabilität auswirken kann, läßt sich nicht allein an den Preissteigerungsraten oder an den Verwerfungen in der Warenallokation durch hohe Inflationsaufschläge ablesen.

So hat sich in den zurückliegenden Jahren das Vermögens- und Einkommensgefälle zwischen den Immobilien- und Aktienbesitzern auf der einen Seite und den Gesellschaftsschichten, die sich vor allem über klassische Arbeitseinkommen refinanzieren, auf der anderen Seite dramatisch erhöht. Wenn 1 % der Bevölkerung über annähernd 50% des Privatvermögens verfügt und die klassischen „Sparformen“ bedingt durch Null-und Negativzinsen kontinuierlich entwertet werden, droht das stetig weitere Aufklaffen sozialer Gräben.

Wenn dann auch noch eine signifikante Verteuerung von Gütern des täglichen Bedarfs hinzu kommt und die Notenbanken – in der selbst gewählten Easy-Money-Falle – systematisch auf Stabilisierungsmaßnahmen in Form von Zinsanpassungen oder Geldmengen-Reduktion verzichten, ist eine weitere Zuspitzung der Lage absehbar.

Erodierende Vermögensbasis

Die durchschnittliche Vermögenssubstanz in Deutschland ist – entgegen landläufiger Einschätzungen – über alle Schichten hinweg kaum für längere Durststrecken (anhaltende Geldentwertung) geeignet. Das Medianvermögen der Deutschen liegt bei gerade einmal bei 65.000 € und damit etwa auf dem Niveau von Slowenien.***** Andere europäische Länder, wie Italien und Frankreich, die z.B. im Rahmen der Corona-Hilfsmaßnahmen der EU signifikant von deutschen Nettozahlungen profitieren, sind mit Medianvermögen von rd. 119.000 € und 133.500 € deutlich besser gestellt. Spürbar erhöht, hat sich in Deutschland über die akute Coronaphase hinweg, die Zahl der Vermögensmillionäre, von 2,31 Millionen auf 2,95 Millionen.

Es wird spannend sein, zu beobachten, wie lange das Kartenhaus der Billiggeldpolitik noch künstlich stabilisiert werden kann. Die Schmerzgrenzen in den Bereichen (Fehl-)Allokation, Vermögensumverteilung und Geldentwertung kommen näher und der Unmut auch bei denjenigen, die bisher vom Überlauf der prall gefüllten Liquiditätsreservoire profitieren konnten, wächst.

Auch das Heruntergleiten auf der schiefen Bahn des Easy Money-Projekts kommt irgendwann einmal an ein Ende. Hoffen wir nur, dass der Aufprall nicht zu heftig wird.

*Am 23. März 2021 war der unter panamaischer Flagge  fahrende Container-Frachter „Ever Given“ bei der Durchfahrt durch den Suez-Kanal havariert und hatte die Fahrrinne bis zum 29. März blockiert. Der Schiffs-Rückstau löste sich erst am 3. April 2021 vollständig auf. Das mediale Narrativ im Zusammenhang mit der Havarie war – orientiert am apokalyptischen Grundtenor der Zeit – erwartungsgemäß schrill und katastrophistisch. „Evergiven-Fiasko der letzte Sargnagel: Frachtschiff-Chaos beeinflußt bereits Weihnachten“, in FOCUS, 19.7.2021.

** Mit der Anpassung des Zinsausblicks hat sich die EZB selbst neue, zusätzlichen „Freiheiten“ gewährt und das Auslösen der Zinsbremse an dehnbare Bedingungen geknüpft. Das Kleid, das sich die EZB hier geschneidert hat, ist so weit, dass die Easy Money-Politik auch bei Hochinflation fortgesetzt werden kann, sofern der EZB-Rat es für notwendig hält. vgl. u.a. „Die Europäische Zentralbank manövriert sich in einen Teufelskreis“ in NZZ, 24.7.2021.

*** Seit der letzten großen Finanzkrise, also seit Ende 2007, hat sich die Bilanzsumme der US-amerikanischen Notenbank um 793 % erhöht. Die Bilanzsumme der EZB erhöhte sich im gleichen Zeitraum um 408 %. Der Hauptgrund für das „Zurückstauen“ bzw. für das späte Übergreifen der Vermögensinflation auf die Konsumgüterinflation dürfte vor allen darin liegen, dass die Kreditinstitute als Oligopolisten bei der Allokation von Zentralbankliquidität den Transmissionsmechanismus zwischen Geldbasis und Konsumgüterinflation unterbrochen haben, in dem sie die überschüssige Liquidität in die Finanz- statt in die Gütermärkte gepumpt haben. Zu diesem Phänomen, zu den Umverteilungseffekten und zum Thema Reallohnrepression vgl. Gunther Schnabl: Die gefährliche Mißachtung der Vermögenspreisinflation, in Leviathan, Jg. 43 2/2015.

**** Die Liquiditätsschwemme führt an den Börsen zu fantastischen Mondpreisen, die kaum noch etwas mit den realen Markt- und Unternehmensdaten zu tun haben. So beträgt z.B. die Marktkapitalisierung der Fa. Tesla das 330fache des Gewinns. Die „profitabelsten“ DAX-Konzerne (Adidas, SAP, VW etc.) erreichen max. Kurs-Gewinn-Verhältnisse zwischen 20 und 30. Der Börsenwert der Fa. Apple (derzeit rd. 2470 Mrd. Dollar) entspricht in etwa dem BIP von Frankreich (2550 Mrd. Dollar) und der aufsummierte Marktwert aller börsennotierten italienischen Unternehmen erreicht nicht einmal den Börsenwert der Fa. Tesla. Näheres hierzu unter „Absurditäten und wertvolle Indikatoren. Ein kritischer Blick auf die Aktienbewertung und mögliche Übertreibungen an den Börsen lohnt sich“, in NZZ, 31.7.2021.

***** Der Vermögensaufbau wird in Deutschland vor allem durch die hohe Steuerbelastung erschwert. Hinzu kommt, dass die Eigenheimquote in der Bundesrepublik lediglich bei 46 % liegt. In Italien liegt diese Quote bei 72,4 %, in Frankreich immerhin noch bei 65 %.