Das gesamte Wahlvolk in einem landesweiten Referendum exklusiv über eine zentrale politische Weichenstellung abstimmen zu lassen, ist urdemokratisch, aber ohne Zweifel auch riskant. Im Juni 2016 als die Briten sich zwischen „Remain“ und „Leave“ entscheiden konnten, war dieses Risiko nur den wenigsten Beobachtern wirklich bewußt. Was sollte da schon passieren, nach fast einem halben Jahrhundert EU-Mitgliedschaft? Angesichts eng geknüpfter Vertragsbeziehungen? Und in Anbetracht eines dichten Geflechts aus wechselseitigen Abhängigkeiten? Um so größer war der Schock, als es am 23. Juni 2016 doch anders kam und sich das Leave-Lager im Abstimmungskampf durchsetzte.
Dass die Briten nun seit dem 1. Januar 2021 – also 1.653 Tage nach dem Referendum – endgültig draußen sind aus der Europäischen Union, will uns deshalb immer noch nicht so recht einleuchten. Dass es triftige Gründe gegeben haben muss, scheint evident. Auch für die These, dass nicht nur Downing Street und Whitehall Verantwortung für den Exit tragen, sondern auch die EU und das deutsch-französische Tandem nicht schuldlos sein können, gibt es zumindest deutliche Anhaltspunkte. Dass wir darüber trotzdem nicht offen debattieren wollen, ist fast ein bißchen tragisch, aber angesichts der Fallkonstellation doch auch wieder verständlich, denn: Wer spricht schon gern über Niederlagen und ihre Folgen?
Aus Niederlagen lernen
Im politischen Raum selbstbewußt und konstruktiv mit Niederlagen umzugehen, ist wahrlich eine Kunst. Selten gelingt es den Protagonisten dem Unvermeidlichen offen ins Auge zu sehen und vor aller Öffentlichkeit das Faktum des Scheiterns einzugestehen. Dass sich die Europäische Union mit dem Abgang Großbritanniens und dem Abschied der zweitgrößten Ökonomie aus dem Verbund besonders schwer tut, kann niemanden verwundern. Eine Gemeinschaft, die von Anfang an auf fortschreitende Erweiterung gepolt war, tut sich schwer mit „Rückschritten“ dieser Art. Die EU konnte im Laufe ihrer rund 70jährigen Geschichte nie einschlägige Erfahrung bei der Bewältigung von Phantomschmerzen sammeln.
Mit diesem ehrgeizigen Verbund musste es gerade zwangsläufig immer bergauf gehen. Nicht so sehr, weil es in den Verträgen stand, auf die man sich nach schier endlosen Konferenzen und Nachtsitzungen immer wieder geeinigt hatte, sondern weil es zum Gründungsnarrativ dieses historisch einmaligen Experiments gehörte, empor zu wachsen und nie zu rasten, ehe ganz Europa in den Scheuer eingebracht sein würde.
Ever wider Union
Erschwerend kommt hinzu, dass das Konzept der „Immer größeren Union“ zwar – wie beschrieben – von Beginn an expansive Züge trug, es aber niemals die Schwelle zum „Imperium“ überschreiten durfte oder gar wollte. Politisch eng verwoben und ökonomisch eng verflochten, wollte man sein. Auch Trittbrettfahrerei und unterschiedliche Geschwindigkeiten sollten möglichst vermieden werden. Niemals jedoch sollte jemand zum Verbleib gezwungen sein. Warum auch? Dass es ein Mitgliedsstaat wagen würde, etwas so schönes, so erfolgreiches mit einem „Exit“ zu bestrafen, konnten sich selbst die nicht vorstellen, die im eigenen Land leidvolle Erfahrungen mit Abspaltungen und Separatismen gesammelt hatten.
Bruch im Narrativ
Nun ist es – entgegen dem Narrativ und entgegen dem politischen Leitbild – doch passiert. Das heißt, nicht nur die Briten sind draußen, sondern auch die schöne Geschichte hat eine ihrer zentralen Pointen verloren. Das nächste Kapitel wird anders geschrieben werden müssen, wenn es die Hoffnung auf eine weitere Folge geben soll. Ein schlichtes „Weiter so“ wird nicht reichen, um die Bühne zu erhellen und das Publikum bei Laune zu halten.
Deshalb die Frage: Sind die, die an Bord geblieben sind, seetauglich genug, um die fehlenden Ruder zu ersetzen und das Schiff in neue Gewässer zu manövrieren? Hat die geschrumpfte Gemeinschaft der 27 genug Kraft, um sich die Niederlage einzugestehen und den Kurs an die geänderten Verhältnisse anzupassen?
Fehlwahrnehmungen
Wer auf die Webseiten mit den Politikerkommentaren blickt oder die Zeitungen aufschlägt, kann sich momentan nur schwer vorstellen, dass es auf dem Kontinent echte Lehren aus dem Brexit-Debakel geben wird. Es dominiert nach wie vor das Bild des gefährlichen „Polit-Clowns“ (Boris Johnson), der das britische Volk „hintergangen“ und auf gemeine Weise „fehlgeleitet“ hat. Die Briten – so das ständig wiederholte Credo – haben „verloren“. Sie haben das Schlaraffenland verlassen und die Isolation gewählt. Und nicht wir, sondern sie sind es, die den Kanal wieder mit Wasser gefüllt haben. Sie sind es, die das „Chaos“ ausbaden müssen.
Dass vor solch einer politisch-medialen Kulisse keine Selbstprüfung oder gar Selbstkritik reifen kann, liegt eigentlich auf der Hand. Wenn die anderen verloren haben, müssen wir gewonnen haben. Und wenn die anderen im „Chaos stecken“, ist bei uns alles „im Lot“. Oder?
Corona-Katalysator
So übel uns die Sache mit Corona allesamt erwischt hat – diesseits und jenseits des Kanals. Und so heftig uns das Virus und die Lockdown-Maßnahmen vor allem wirtschaftlich und sozial zurückwerfen werden. Ein Gutes scheint diese Krise zu haben: Sie beschleunigt Lernprozesse! Und zwingt uns Dinge zu hinterfragen, die bisher unter dem dicken Mantel der Alternativlosigkeit verborgen waren.
Schuldenunion
Nehmen wir – um die Sache auf den Punkt zu bringen – zwei aktuelle Fallbeispiele: Was wurde nicht alles unternommen, um eine „Vergemeinschaftung“ von Schulden auf EU-Ebene zu vermeiden? Wie oft wurde vor einer Endlos-Schuldenspirale gewarnt, die zwingend entsteht, wenn man die Schuldner aus der Verantwortung nimmt und den Schuldendienst „sozialisiert“? – Ergebnislos! In den Wind gesprochen! Plötzlich alles Schnee von gestern! Brüssel bekommt den fiskalischen Goldesel vor die Tür gestellt und wird ihn zu reiten wissen.
Überregulierung unter dem Normenteppich
Zweites Beispiel: Aufbau einer demokratisch nur unzureichend legitimierten Gesetzgebungsmaschinerie, die keinen Tag stillsteht und sich immer weiter in Details der Überregulierung verliert. Entscheidender Motor hier ist die als riesiger Paragraphenkonverter agierende EU-Kommission, die den Prozess der Normenproduktion stetig vorantreibt. Dabei legitimieren sich die rd. 30 Kommissare und ihre Generaldirektionen fast ausschließlich über ihren Beitrag zu dieser fragwürdigen Produktivität.
Das ursprünglich positiv besetzte Motto „Mehr Europa“ wird von den Bürgern auf diese Weise zunehmend als Begleitmusik einer ausufernden Gesetzgebungsmaschine empfunden. Statt sich z.B. um mehr Handlungsfähigkeit nach außen zu kümmern, treibt die Union auf diesem Wege immer mehr in Richtung auf eine Subsidiarität und regionale Vielfalt hemmende Homogenisierung.
Verordnete Strukturbrüche
Geradezu bedrohliche Ausmaße nimmt diese Überregulierungstendenz mittlerweile im Bereich der Klima- und Umweltgesetzgebung an. Hier drückt der dicht geknüpfte Normenteppich zentralen Wirtschaftsbereichen – vor allem der Automobilindustrie – zunehmend die Luft ab. Sind bereits die Abgasnormen und Emissionsgrenzwerte für 2021 kaum erfüllbar, macht sich die EU-Kommission mit ihren schier aberwitzigen Vorschlägen für eine Abgasnorm Euro 7 zwischenzeitlich daran, den Verbrennungsmotor endgültig vom Markt zu drängen. Dass hier insbesondere in Deutschland Hunderttausende von Arbeitsplätzen auf dem Spiel stehen, scheint in Brüssel, aber leider auch in weiten Teilen der Berliner Politik kaum jemand ernsthaft zu interessieren.*
Also doch etwas, aus dem wir Lehren ziehen können? Und doch etwas, was uns den Ausstieg der Briten aus der EU und ihr Pochen auf nationale Souveränität erklärt? – Ja, mit Einschränkungen, möchte man sagen! Denn Voraussetzung für einen echten Lernprozess wäre die Einsicht, dass die Briten in ihrer Mehrheit nicht gegen „Europa“ votiert haben. Wie sollen sie auch, sie sind ein Teil davon. Sondern explizit gegen Brüsseler Demokratiedefizite, gegen Regulierungswut, gegen Fremdbestimmung und gegen eine Schuldenunion.
Notwendige Reformen
Erst wenn wir uns klar darüber werden, wie immens der Reformbedarf der Europäischen Union ist, werden wir die richtigen Lehren aus dem Brexit ziehen können. Die Briten werden in Zukunft von außen auf uns schauen, ihr „Global Britain“** voranbringen und sich neu einrichten zwischen Kontinentaleuropa und den beiden anderen Triade-Märkten.
Geben wir denjenigen, die schon in wenigen Jahren Großbritannien als „Vorbild“ nachahmen könnten, keine Argumente in die Hand. Und hören wir auf uns etwas vorzumachen. Wir haben nicht über Uneinsichtige triumphiert, sondern einen großartigen Mitstreiter verloren.
Die Insel als Spiegel
Die Insel vor unserer Haustür ist nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch historisch ein Teil von uns. Und das was wir jenseits des Kanals sehen, ist kein fernes Ausland, sondern ein durch die Gischt der Nordsee etwas eingetrübter Spiegel, der uns helfen kann, das phantastische Experiment eines geeinten Europa wieder auf seinen Kern zurückzuführen, nämlich auf eine Friedens- und Wertegemeinschaft aus souveränen Staaten zur Erhaltung von Sicherheit und Wohlstand.
*Die Einführung der Abgasnorm Euro 7 würde nicht nur nach Auffassung von Verbandsvertretern, sondern auch von namhaften Automobilexperten dazu führen, dass bereits ab 2025 europaweit kein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden kann.
** Die von Boris Johnson zwischenzeitlich mehrfach genutzte Wendung vom „Global Britain“ ist nicht – wie vielfach in deutschen Medien kolportiert – der Versuch einer Wiederbelebung imperialer Expansionsträume, sondern der wiederholte Verweis auf die zurückgewonnene handelspolitische Kontrahierungsfreiheit Großbritanniens. Die Briten haben seit dem Referendum mittlerweile mit rd. 60 Staaten außerhalb Europas Handelsabkommen unterschiedlichster Art geschlossen.