China first

„China boomt!“; „Die industrielle Produktion läuft auf Hochtouren!“; „Die Exporte erreichen neue Rekorde!“ So oder so ähnlich hallt es in diesen Tagen stakkatoartig durch den Äther. Weltwirtschaftskrise? Globale Rezession? Ja! Vielleicht in Europa! Oder in Nordamerika! Aber im Reich der Mitte? Nein! Fehlanzeige! Im Gegenteil: Die chinesischen Exporteure kommen mit dem anschwellenden Nachfrageboom kaum zurecht. Müssen sich mächtig strecken, um die Kundenwünsche zu erfüllen und die Lockdown-geschädigte Konkurrenz aus Übersee zu ersetzen. – Aber halt? War da nicht was? Anfang 2020? Lebendtiermärkte mitten im Großstadtgewimmel? Fledermaus-Carpaccio aus Wuhan? Geisterstädte und leere Straßenschluchten. Chinesische Rettungskräfte mit Blaulicht im gespenstischen Vollschutz? Alles irgendwie nur noch Bilder aus der Konserve! Wie aus einem schlechten Film. Die neue Wahrheit sieht anders aus: Der chinesische Drache spreizt seine Schwingen, während Europa und die USA dabei sind ihr wirtschaftliches und soziales Leben erneut auf Shutdown-Niveau herunterzufahren.

Es ist wahrhaftig paradox. Das Land, in dem vor fast genau einem Jahr alles begann, schwelgt im Boom, während fast alle anderen höher entwickelten Industrieländer Einbrüche beim BIP in historischem Ausmaß erleiden. Wie ist das zu erklären? Die höchste monatliche Steigerungsrate beim Export seit Februar 2018, ein Plus von rd. 21 % bei den Ausfuhren gegenüber November 2019. Und statt Rezession, ein Wachstumsplus beim Bruttoinlandsprodukt für 2020 von geschätzt rd. 2 %.

Auf den ersten Blick mutet das an, wie Zauberei. Wie ein Hokuspokus über dem schwarzen Zylinder! Erst bei genauerem Hinsehen wird klar: Es ist kein Wunder. Es ist auch keine wundersam erhöhte Resistenz der Chinesen gegenüber dem Virus. Es ist – um es möglichst bündig zu formulieren – der Startvorteil einer Autokratie im Ausnahmezustand.

Autokratie im Durchgriff

Beispiele für solche Startvorteile lassen sich im historischen Kontext dutzendfach benennen. Vor allem in Kriegs- und Konfliktsituationen hat das autoritäre System mit seinen weit gespannten Durchgriffsmöglichkeiten eine Art Mobilisierungsvorteil gegenüber freiheitlich-liberal verfassten Systemen. Die exekutive Staatsgewalt kann ohne aufwändige Konsultation der konkurrierenden Gewalten (Legislative, Judikative) unmittelbar und direkt „durchgreifen“. Es muss weder Rücksicht auf Grundrechtskataloge noch auf Rechtsstaatsmechanismen oder oppositionelle Strömungen genommen werden. Die Macher in den Staats- und Parteizentralen müssen weder auf eine freie Presse noch auf Oppositionskritik Rücksicht nehmen. Der Zug, einmal in Schwung gebracht, rollt und walzt Hindernisse, sobald sie sich in den Weg stellen, einfach nieder.

Der chinesische Weg

In der Pandemielage heißt das, das „chinesische Modell“ muss nicht aufwändig auf einen exekutiven „Durchgriffsmodus“ umgestellt werden. Es ist systemisch betrachtet schon da, wo der freiheitliche Rechtsstaat seine innere Mechanik erst auf den Modus namens „Ausnahmezustand“ umstellen muss. Das heißt, keine Rücksicht auf intermediäre Gewalten. Der Staatsapparat reagiert wie ein monolithischer Block. Rettungskräfte, Polizei, Militär, aber auch Unternehmensführungen, Stadtverwaltungen und Gesundheitsdienste funktionieren auf Befehl und werden auf Weisung von oben wie Schachfiguren auf dem Brett der Pandemiebekämpfung hin und her geschoben.

In erstem Moment möchte man in die Hände klatschen. Mensch! Toll! Wie die das machen! Einfach mit dem Finger geschnipst und ganze Städte abgeriegelt und dicht gemacht. Elektronische Überwachung auf Schritt und Tritt und keine Gnade für jede Form der Dissidenz. Und auf diese Weise das Virus einfach platt gemacht. Einfach so! Auf Befehl von oben.

Scheinerfolge

So unbestreitbar die temporären Erfolge dieses Modell sein mögen, so verlockend ein über Nacht handlungsfähiges Notstandsregime sein mag, so problematisch wäre es, sich auf einen solchen Weg einzulassen. Denn der Preis für diesen Mobilisierungsvorteil ist extrem hoch. Nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich.

Denn es geht nicht nur um die Aufrechterhaltung eines funktionierenden, Machtballungen vermeidenden Systems aus Checks and Balances oder um mühsam erkämpfte Grundrechte, sondern es geht um die Existenz unserer pluralen Gesellschaft mit ihrer Vielfalt an Lebensmodellen und Lebensentwürfen schlechthin. Wir würden uns – wie in einer Zeitmaschine – rund 250 Jahre zurückbeamen, in eine autoritäre Untertanengesellschaft, in der es weder Raum für staatsbürgerliche Autonomie noch für privat organisierte Rückzugsräume gäbe.

Nicht irre machen lassen

Wir sollten uns also, selbst in größter Notlage, nicht irre machen lassen, von dem was da an Sirenenklängen aus dem Reich der Mitte zu uns herüber schallt. China ist nicht das erstrebenswerte Modell für die Lösung unserer Probleme. Es ist noch nicht mal ein Experiment wert, was die aktuelle Pandemie angeht. Seien die Jubelmeldungen von der chinesischen Coronafront auch noch so siegessicher und seien die Kolumnen einzelner „China-Versteher“ in westlichen Medien auch noch so verlockend, ein „China first“ in europäisch-nordamerikanischer Übersetzung sollten wir tunlichst vermeiden.

Nicht zu zaghaft

Was wir aber auf jeden Fall tun sollten, ist, wachsam zu bleiben, was den chinesischen Großmachtanspruch und was unser Verhältnis zu der aufstrebenden Macht im Osten Asiens anbetrifft.  Wir werden – so wie es ausschaut – keine Anstalten unternehmen, „Schuldige“ für das Pandemie-Desaster in China zur Rechenschaft zu ziehen. Die problematische Trumpsche Formel vom „chinesischen Virus“ hat sich in Europa bislang nicht breit gemacht.

Die Sorgen hier in ein Wespennest zu stechen, chinesische Investoren zu verprellen oder gewachsene Handelskontakte zu gefährden, sind auf dem alten Kontinent viel zu stark verbreitet. Eine gewisse Fahrlässigkeit beim Umgang mit Zoonosen bzw. mit tierischen Virusträgern möchte man der chinesischen Lebensmittelaufsicht durchaus unterstellen, aber von Absicht oder gar Vorsatz möchte aktuell in den europäischen Hauptstädten niemand sprechen.

Gegenverkehr

Im historischen Kontext lässt sich das verschiedentlich gebrauchte Bild vom „Gegenverkehr“ nutzen, um besser zu verstehen, was sich hier im Grundsatz zu wandeln beginnt. Waren die Europäer in der Hochphase des Kolonialismus im 19. Jahrhundert eher die Exporteure von Krankheitserregern* und die Kraftzentren politischer und wirtschaftlicher Expansion („Zeitalter des europäischen Imperialismus“), so entwickelt sich der „Verkehr“ in beiden Zusammenhängen Anfang des 21. Jahrhunderts – zumindest zwischen Europa und China – vor allem in Gegenrichtung.

Symbolhaft für diese säkulare Gegenbewegung steht – neben COVID 19 – die Asien und Teile Europas durchziehende „Neue Seidenstraße“.** Diese mit viel Geld und politischem Druck entstehende Handelstrasse ist einerseits Teil eines von Peking gesteuerten Handelsexpansionismus, andererseits aber auch die Kopie europäisch-imperialer Expansionskonzepte aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Der „Kap-Kairo-Plan“ eines Cecil Rhodes oder der Versuch der Franzosen Ende des 19. Jahrhunderts eine durchgehende (Handels-)Route vom Atlantik zum Roten Meer zu errichten („Faschoda-Krise“) stehen nicht umsonst Pate für dieses ambitionierte Mega-Projekt.

Neue Seidenstraße

Dass Europa auf diesen seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts andauernden Expansionsdrang Pekings immer noch nicht vorbereitet ist, lässt für die kommenden Jahre und Jahrzehnte Zweifel am richtigen Kurs aufkommen. Die US-Amerikaner sind auf diesem Feld deutlich weiter und werden nach Trump, dem offensiven „China first“ weiterhin ein ebenfalls nicht minder offensives „America first“ entgegenstellen. Die europäische, sprich vor allem auch die deutsche Neigung, geopolitische und ökonomische Interessen nicht offen auszusprechen, sondern eher diplomatisch zu verklausulieren und des öfteren auch mit viel moralischem Lametta auszuschmücken, dürfte als politische Marschroute für die nächsten Jahrzehnte kaum ausreichen, um Peking zu beeindrucken.

Ob es im Gegenzug ratsam wäre einem „China first“ ein „Europe first“ entgegenzustellen, scheint jedoch mindestens ebenso fraglich. Der ökonomische Multilaterialismus à la WTO hat sich für die Europäer über Jahrzehnte hinweg bewährt. Obwohl er in den zurückliegenden Jahren deutliche Auszehrungserscheinungen offenbart hat, sollte er aus europäischer Perspektive auch in Zukunft Leitschnur für die weltweiten Handelsbeziehungen bleiben.

Bitte keine Äquidistanz

Deutlich problematischer wirkt die Tendenz, an die Stelle der transatlantischen Wertegemeinschaft eine Art Äquidistanz des alten Kontinents zwischen den USA einerseits und der VR China andererseits zu setzen. Wenn sich Europa nicht vom „Gegenverkehr“ überrollen lassen will, muss es handelspolitisch, aber auch außen-und sicherheitspolitisch deutlich selbstbewußter auftreten. Nicht – wie in den letzten vier Jahren versucht – gegenüber dem Verbündeten in Washington, sondern gegenüber den Brandherden an seiner meditteranen Südflanke und vor allem gegenüber den Zudringlichkeiten der asiatschen Weltmacht in spe, die Geopolitik nicht als historische Archivalie betrachtet, sondern in den vergangenen Jahren gelernt hat auf dieser Klaviatur virtuos und primär interessengesteuert zu spielen.

Pekings Vorsprung wächst und wenn wir als Deutsche und Europäer in Zukunft weitere dramatische Wohlstandseinbußen und Einflußverluste vermeiden wollen, dann sollten wir baldmöglichst aus der Corona-Defensive wieder in die Offensive übergehen. China jedenfalls, das ist sicher, wartet nicht auf uns und wird seine Chance nutzen.

* Besonders hervorheben, lässt sich in diesem Zusammenhang das „Einschleppen“ von Krankheitserregern (Pocken, Masern, Fleckfieber, Typhus etc.) durch europäische Kolonisatoren nach Süd- und Nordamerika. Als ein markantes Beispiel hierfür sei die Pockenepidemie an der nordamerikanischen Westküste erwähnt, der im Jahre 1862 schätzungsweise 14.000 Menschen indianischer Herkunft zum Opfer fielen.

** Näheres hierzu unter https://www.capital.de/wirtschaft-politik/was-sie-ueber-die-neue-seidenstrasse-wissen-muessen