Der große Rückstau

Nachhaltige Problemlösungen in komplexen politischen und ökonomischen Systemen sind in der Regel nicht ohne schmerzhafte Nebenfolgen zu haben. Realiter lässt sich das exemplarisch vor allem an schmerzhaften Roßkuren zur Bewältigung von Wirtschaftskrisen beobachten, wo erfolgreiche Therapien immer mit Marktbereinigungen, Ausgabenkürzungen und/oder Firmenschließungen verbunden sind. Besonders schmerzhaft sind die Folgewirkungen, wenn die Problemlösung über Jahre hinweg verschleppt wurde. Das heißt, wenn nur an den Symptomen kuriert wurde, aber die eigentliche „Erkrankung“ in ihrer spezifischen Virulenz unbehandelt blieb. Was wir dann erleben, ist ein klassischer Problem- bzw. Therapie-Rückstau, der sich hinter einer hermetisch wirkenden Staumauer bedrohlich auftürmt, für die Menschen jenseits der Barriere unten im Tal in der Regel aber nur schwer erkennbar ist. Obwohl gelegentlich an der einen oder anderen Stelle Risse im Mauerwerk erkennbar werden und manchmal sogar einige Beunruhiger oben von der Mauerkrone herab Warnungen herunterrufen, bleibt es merkwürdig still im trockenen Tale.

Probleme, die sich hinter Staumauern auftürmen? Was ist das für ein merkwürdiges Bild? Politiker sind doch keine Hydrologen oder Statiker, die steinerne Talsperren errichten, um Probleme dahinter abzulagern. Heißt Politik nicht machtgestützte Bewegung, fluide Kommunikation und ständig wechselnde Strömungen.? Ist das Bild von der Problem-Staumauer da nicht viel zu statisch?

Nur auf den ersten Blick! Denn wie konkrete Beispiele zeigen, gehört das „Zurückstauen“ von Problemlagen zu den integralen Grundelementen politischer Handlungsmuster. Was da passiert und welche Kräfte dabei wirken, möchte ich hier an drei Beispielen verdeutlichen:

Anomale Finanzmärkte

Obwohl der Erregungszyklus schon gut ein Jahrzehnt zurückliegt, können sich manche von uns sicher noch an die Finanzkrise der Jahre 2007/08 und an die dadurch ausgelöste Euro-Schuldenkrise 2010/11 erinnern. An den Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarktes, an den Kollaps der westlichen Leitbörsen und an die (What ever it takes-)Rettungsschwüre der Notenbankgouverneure am Morgen danach. Was damals nur am Rande in den Blick geriet, war die Tatsache, dass es sich bei der Subprime- bzw. Lehman-Krise nur um eine weitere Etappe auf einem langgezogenen Krisenpfad handelte. Wieder – wie schon in den diversen Überhitzungskrisen zuvor – war auch diesmal die (Vermögens-)Blasenbildung bzw. die Entkoppelung von Geld- und Realwirtschaft entscheidender Krisenauslöser. Und wieder hatte eine überbordende Liquiditätsschwemme, riesige Spekulationsblasen auf den Wertpapier- und Immobilienmärkten erzeugt.

Doch statt im Nachgang endlich den gefährlichen Teufelskreis aus „Billigem Geld – Spekulationsgewinnen – Kontraktion – und noch mehr billigem Geld“ zu durchbrechen, blieb auch nach der letzten großen Finanzkrise – abgesehen von einigen verschärften Eigenkapitalregeln für Geschäftsbanken – im Kern alles beim Alten. Aus den geplatzten Blasen entstanden neue Blasen, aus dem Nullzins wurde der Negativzins und aus den Kellern der Notenbanken quillten nicht mehr neunstellige, sondern fortan zwölfstellige Easy-money-Tranchen. Das heißt, heute Anfang der 2020er Jahre stehen wir genau wieder da, wo wir damals in den Jahren 2007, 2000, 1987 etc. standen: Problem erkannt, aber nicht gelöst, sondern nur zurückgestaut. Wieder nur mit ganz viel billigem Geld an den Symptomen kuriert. Statt echte Strukturreformen durchzusetzen, haben wir einfach noch mehr Easy-Money aus noch großkalibrigeren Geldkanonen in den Markt geballert.

Aktenzeichen Energiepolitik ungelöst

Anders gelagert, aber für unser Erkenntnisziel mindestens genauso erhellend, präsentieren sich die Problemlagen rund um die sogenannte „Energiewende“. Im Gegensatz zur fortscheitenden Anomalie der Finanzmärkte eher ein Sekundäreffekt der Klimadebatte, bei dem es in doppeldeutiger Weise zwar ebenfalls um „Überhitzung“ geht, der aber – trotz guter Absichten – ebenfalls das Zeug hat, eine ganze Volkswirtschaft in eine tiefe Folgekrise zu stürzen.

Da momentan so gut wie niemand ernsthaft nachfragt, wie eine moderne Volkswirtschaft ohne eigene Grundlast-Kraftwerke dauerhaft funktionieren soll, ist das Problem der deutschen „Stromlücke“ zwar mittlerweile zumindest in Ansätzen auf den Agenden der Fachöffentlichkeit gelandet, bleibt aber dennoch für weite Teile der Normalbevölkerung weitgehend unsichtbar. Dass die Energiepreise in Deutschland zwischenzeitlich in die „Weltspitze“ vorgerückt sind*, dürfte zwischenzeitlich manchen hellhörig gemacht haben, dass aber – wenns so weitergeht mit dem gleichzeitigen Ausstieg aus Atomkraft und Kohleverstromung – bald Schluß sein könnte auch mit der Sicherheit der Stromversorgung ganz generell, dürfte nur den allerwenigsten wirklich gegenwärtig sein.**

Das mysteriöse E ohne Strom

Ähnliche Probleme offenbaren sich im Zusammenhang mit der  E-Mobilität, die staatlich administriert und hochsubventioniert, mit großer Wucht in einen Markt gedrückt wird, auf dem es aktuell kaum Nachfrage für E-Autos gibt und auf dem für die zentralen Problemfelder Rohstoffversorgung (ohne Kinderarbeit), Ladeinfrastruktur und Entsorgung (hochgiftiger Batterienschrott) noch keine wirklich tragfähigen Lösungen gefunden worden sind. Ganz zu schweigen, von den gravierenden Folgen für die Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindustrie. Auch hier stehen wir vor einem enormen Problemstau, temporär zurückgedämmt durch den steigenden Import von französischem Atomstrom und polnischem Kohlestrom, aber ebenfalls ungelöst und für die Leidtragenden jenseits der Mauer mit ganz viel Potential für „böses Erwachen“ verbunden.

Migration übers Asylrecht

Ein letztes Beispiel bietet das Thema „Migration“. Ebenfalls ein altes Problem, das im Kern auf eine bedauerliche Mißinterpretation des Asylparagraphen im Grundgesetz zurückgeht und dass auch deshalb immer wieder aufkeimt, weil Art. 16a GG nur noch nachrangig als Schutzklausel für politisch Verfolgte, sondern primär als generelle migrationspolitische „Öffnungsklausel“ interpretiert wird. Hatte man in den Reihen der politischen Analysten bis vor kurzem noch gehofft, dass der Schock des Jahres 2015 einen gewissen Einigungsdruck auf die Verantwortlichen auslösen würde, wurde man vor wenigen Wochen im Zusammenhang mit dem Fall „Moria“ leider erneut enttäuscht. Statt handfester Migrationssteuerung auf der Basis organisierter Grenzkontrollen und einer konsistenten Einwanderungspolitik, erleben wir wieder – wie schon 2015ff. – hochgradig polarisierende Schwarz-Weiß-Debatten ohne echte Chancen auf dauerhaft tragfähige Lösungen.

Kaum Lösungen in Sicht

Wenn man das Beschriebene alles zusammennimmt und sich die Dimension der schlummernden Großrisiken vergegenwärtigt, dann müsste eigentlich längst ein lautes Rumoren nicht nur im politischen, sondern vor allem auch im medialen Raum vernehmbar sein. Alle, die sich die Mühe machen oben auf die Mauerkrone zu klettern und auf die andere Seite zu schauen, hätten längst Alarm schlagen müssen. Dass es dennoch so ruhig bleibt und auch die katalystische Wirkung der weltweiten Corona-Shutdown-Krise an diesem Schweigen auf absehbare Zeit nichts ändern dürfte, hat vor allem zwei Gründe.

Keine Probleme, sondern Chancen

Erstens gibt es tatsächlich einen nicht unerheblichen Teil von politischen Akteuren, medialen Beobachtern und wissenschaftlichen Analysten, die auf den drei genannten Feldern gar keine nennenswerten Probleme wahrnehmen. Volkswirtschaften, die Tag und Nacht mit „frischem Geld“ versorgt werden und in denen der Zinsstress auf Null gefahren wird, sind regelrecht zu beneiden, so der Grundtenor, und wer das anders sieht, hat keine Ahnung von den vielversprechenden Verheißungen der Modern Monetary Theory. Und was das Thema Energiewende anbetrifft, müssen wir allein schon aus klimapolitischer Sicht völlig neu denken. Auch wenn ein „klimaneutrales“ Deutschland zur weltweiten CO2-Reduktion nur im Promillebereich beiträgt, müssen wir handeln und zwar ohne Zeitverzug. Und außerdem, wer bei weltweit rd. 80 Millionen Menschen auf der Flucht nicht bedingungslos für offene Grenzen plädiert, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.***

Wie sag ichs dem Kinde

Zum zweiten – und das betrifft vor allem die Gefahr von krisenbedingten Wohlstandseinbußen – wird es vor allem unter dem Eindruck der letzten rd. 20 bis 25  „Boomjahre“ immer schwieriger die westliche Menschheit daran zu gewöhnen, dass Wirtschaftsentwicklung per se zyklisch ist und dass selbst der moderne Wohlfahrtsstaat mit hohem Steuerungsanspruch seinen elementaren Funktionen auf Dauer nur nachkommen kann, wenn er an ein erfolgreich installiertes gewinnwirtschaftliches System gekoppelt ist.

Wenn dieses System anfängt zu stottern oder gar von seinen existentiellen Kraftquellen (fossile Energie in Tateinheit mit marktwirtschaftlicher Ordnung) entkoppelt wird, fehlen – nach einer zeitlich limitierten Phase der öffentlichen „Überschuldung“ – nicht nur die unverzichtbaren Grundlagen für  wohlfahrtsstaatliche Absicherung, sondern mittelfristig auch die Voraussetzungen für einen ökologischen Umbau unserer Industrie- und Mobiltätstechnologien.

Wohlstandsversprechen

Leider hat das alte Fortunatus-Motiv**** von der wundersamen Geldschöpfung in der Geldbörse mittlerweile seinen Siegeszug nicht nur in der Welt der Schatzsucher und Börsenspekulanten angetreten, sondern zwischenzeitlich auch gewichtige Teile der breiteren Öffentlichkeit erreicht. Immer mehr Menschen träumen von leistungslosen Einkommen, halten – trotz Corona-Rezession – sprudelnde Überschüsse für normal und verkennen die Selbstgefährdung hochentwickelter Komfortsysteme durch chronische Problemverschleppung.

Hochgradig entlasteten und in einer Multioptionsgesellschaft sozialisierten Populationen offen und ehrlich zu erklären, dass ständige Entlastungssteigerung, der fortschreitende Verzicht auf individuelle Vorsorge und die Ausdehnung öffentlicher Auffangnetze auf natürliche Weise endlich sind, – vor allem wenn man gleichzeitig ganze Volkswirtschaften in ökologische Reinräume und die Staatenwelt in grenzbefreite Freiräume verwandeln will – ist enorm schwer. Die Kraft, die das erfordert, läßt selbst hochentwickelte Demokratien mit solider Wohlstandsbasis an ihre Grenzen stoßen.

Die aktuelle Anwendung des klassischen Rückstauprinzips, z.B. im Zusammenhang mit der weiteren Verlängerung der ausgesetzten Insolvenzantragspflicht als zentrale Anti-Corona-Maßnahme, lässt leider hinsichtlich der notwendigen Lernprozesse nichts Gutes erwarten. Und auch die weitere Verschärfung der EU-„Klimaziele“ bis 2030 mitten in der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit lässt bezüglich der Auflösung der energie- und verkehrspolitischen Staulagen wenig Aussicht auf Besserung.

Warnungen ernst nehmen

Zugegebenermaßen ist das Ende von alldem offen. Niemand kann heute letztgültig vorhersagen, welche Folgen die Geldschwemme, der Minuszins, die „Energiewende“ und das Offenhalten der Migrationsfrage wirklich nach sich ziehen werden. Was ist, wenn sich am Schluss doch noch alles auf harmonische Weise zusammenfügt? Hoffen wir zumindest, dass es glimpflich ausgeht, denn selbst wenn nur einige der oben artikulierten Warnungen in den akuten Ernstfall münden, dürften die Folgen gravierend sein. Auf eine Talsperre aus gedrucktem Geld, guten Worten und riskanten Wetteinsätzen allein sollten wir uns jedenfalls nicht verlassen. Denn niemand weiß, wie lange das gewagte Konstrukt dem (Problem-)Rückstau standhalten wird.

*Im Rahmen der G20 führt Deutschland kaufkraftbereinigt im Staatenvergleich die Liste der Stromkosten pro Kwh mit weitem Abstand an. Quelle: https://www.spiegel.de/wirtschaft/strompreis-deutsche-zahlen-weltweit-fast-die-hoechsten-preise-a-855acda7-44b8-4995-be8e-5c58e4ae2e84

** Bereits im vergangenen Jahr ist Deutschland nur knapp an einem größeren „Blackout“ vorbeigeschrammt. Quelle u.a.: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/energiewende-blackout-gefahr-im-deutschen-netz-wurde-der-strom-knapp/24515468.html?ticket=ST-1633709-ui2CI5Cbv3T9QxYZAn7V-ap3

***Nach Umfragen des panafrikanischen Forschungsnetzwerks Afrobarometer aus dem Jahre 2019 denken rd. 37 % der Afrikaner über eine Emigration nach. Rund ein Viertel dieser Ausreisewilligen präferiert eine  Emigration nach Europa. Quelle: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/fast-40-prozent-der-afrikaner-denken-ans-auswandern-16113117.html

** **Fortunatus ist eine fiktive Figur aus einem frühneuzeitlichen Volksbuch (erstmals erschienen in Augsburg, 1509). Im Mittelpunkt steht eine Geldbörse, die der Held von einem Glücksengel geschenkt bekommt, und die, sooft man sie öffnet, immer 40 Goldstücke in der jeweiligen Landeswährung, enthält. Noch ganz in der mittelalterlichen Superbia-Kritik verhaftet, gibt Fortunatus am Ende die unversiegbare Geldquelle preis und flüchtet sich reumütig ins Kloster.