Deutsche Panzer vor Kursk

Was haben wir in den letzten Jahrzehnten in Deutschland nicht alles getan, um unsere „Erinnerungskultur“ zu pflegen und auszubauen. Das Grauen der nationalsozialistischen Verbrechen, die Untaten des „Dritten Reiches“ sollten unauslöschlich in den Köpfen der Bundesbürger verankert werden. Jeder Jahrestag, jeder auch noch so kleine „Erinnerungsort“ wurde breit rezipiert, nicht nur in den Historischen Seminaren, sondern flächendeckend im politischen und medialen Raum. – Um so verwunderlicher ist es, dass ausgerechnet das mediale Nachrichtengewitter, das uns aktuell aus den alten Kampfzonen des europäischen Ostens erreicht, so gut wie keinerlei nennenswerten Widerhall im heimischen Erinnerungsdiskurs findet. Alles, was wir von den landläufig bekannten Medien hören, wirkt rein gegenwartsbezogen, losgelöst von historischen Bezügen, gelegentlich noch das Jahr 2014 (Krim-Annexion) bemühend, aber jede tiefere geschichtliche Reflexion peinlich vermeidend.

Wie weit diese merkwürdige Geschichtsvergessenheit in diesem Kontext reicht, lässt sich auf geradezu exemplarische Weise anhand der jüngsten Drehung in der Eskalationsspirale des Ukraine-Krieges verdeutlichen. Am 6. August 2024 drangen ukrainische Truppen im Raum Sudscha in den Oblast Kursk ein und rückten kilometerweit auf russisches Staatsgebiet vor. Ähnliche Offensivaktionen hatte es bereits verschiedentlich während des russisch-ukrainischen Krieges gegeben. Dabei waren es zuvor jedoch eher begrenzte Kommandoaktionen. Kurze, punktuelle Vorstöße, vorgetragen insbesondere von russischen Legionären in ukrainischen Diensten.

Neue Qualität

Die neue Qualität des ukrainischen Angriffs von Anfang August besteht jedoch nicht allein nur in der zahlenmäßigen Stärke der Offensivkräfte und in der Tatsache, dass erstmals seit Kriegsbeginn in größerer Zahl reguläre ukrainische Streitkräfte auf russisches Territorium vorstoßen, sondern darüber hinaus in dem massiven Einsatz von schweren Waffen aus westlichen Rüstungsarsenalen auf russischem Boden.

In ersten Reaktionen bemühten sich die Redaktionen fast aller deutschen Medien, um eine Art Schadensbegrenzung. „Völkerrechtlich nicht zu beanstanden!“, hieß es landauf und landab. Ein überfallenes Land sei, so der Grundtenor, berechtigt auch auf dem Territorium des Aggressors zurückzuschlagen. Wieso sollte ein Angreifer auf seinem eigenen Staatsgebiet von Gegenschlägen des Angegriffenen verschont bleiben?

Historische Dimension

Soweit, so richtig! – Während also Völkerrechtler in Fernsehen, Radio und Printmedien in großer Zahl zu Wort kamen, machte sich kaum eine Redaktion die Mühe, auch mal einen Historiker nach seiner Einschätzung zu befragen. Das überrascht insofern, weil selbst oberflächliche Recherchen rasch zu der Erkenntnis geführt hätten, dass die aktuellen Ereignisse sich quasi mitten auf einem historischen Schlachtfeld abspielen, das aus dem Blickwinkel zumindest der russischen Seite mit erheblichem Erinnerungsballast beladen ist.

Im erinnerungspolitischen Diskurs der Russischen Föderation rund um den „Großen Vaterländischen Krieg“ dürfte die Region um Kursk zwar nicht ganz den Stellenwert von Stalingrad erreichen, aber der Wolgametropole im Erinnerungsranking zumindest hart auf den Fersen sein. Dass sich bis heute so viele Russen an die Schlacht um Kursk erinnern, hat wesentlich mit ihrem „Entscheidungsschlacht-Charakter“ zu tun. Das heißt, mit dem Umstand, dass es aus russischer Perspektive im dritten Kriegs-Sommer – nach dem Triumph über die Wehrmacht an der Wolga – wahrhaftig endgültig gelungen war, der deutschen Kriegsmaschine in blutigen Kämpfen die Offensivkraft zu nehmen.

Wie durch ein Wunder hatten sich im Südabschnitt der deutschen Ostfront – nach der Niederlage von Stalingrad und nach dem überstürzten Rückzug aus dem Kaukasus und von der Donfront – die deutschen Truppen noch einmal formiert und waren nach der Rückeroberung von Charkow im Frühjahr 1943 am 5. Juli 1943 aus dem Raum Belgorod noch einmal zu einem Großangriff auf den weit vorspringenden Frontbogen von Kursk angetreten.

Angeführt von Verbänden der Waffen SS und ausgerüstet mit neuen, gerade vom Band gelaufenen Panzertypen kam der Angriff damals jedoch schon nach wenigen Kilometern zum Stehen und prallte nach  tagelangem erbarmungslosen Anrennen schließlich an der  eisernen Front der russischen Abwehrstellungen ab.

Kursk 2.0

Nun wäre es sicher historisch fragwürdig, wollte man die damaligen Ereignisse einfach 1:1 auf das aktuelle Geschehen übertragen. Allein die Dimension von „Kursk 2.0“ steht in keinem wirklich realistischen Verhältnis zu dem damaligen Kräfteeinsatz und den unsäglichen Opfern auf beiden Seiten. Allein die Russen setzten im Sommer 1943 an den nördlichen und südlichen Scharnieren des Kursker Bogens rund 1,35  Millionen Mann ein und verloren in der entscheidenden Phase der Schlacht rd.  180.000 Gefallene.

Historische Parallelen lassen sich hier vor allem an der symbolischen Front ziehen, an der in der Völkerpsychologie ohnehin die härtesten Positionskämpfe ausgefochten werden. Wenn heute wieder deutsche Panzer über russische Felder pflügen und mit ihren Bordkanonen auf russische Soldaten schießen, dann ist das aus russischer Perspektive mehr als nur der beiläufige Ausdruck eines einfachen Gefechts. Auch wenn die Panzer nicht mehr „Panther“ und „Tiger“, sondern „Marder“ und „Leopard“ heißen, und die deutschen Rüstungsschmieden die den Russen aus dem 2. Weltkrieg noch bestens bekannten “ Balkenkreuze“ fein säuberlich übertüncht haben, darf sich niemand wundern, wenn hier alte, längst überwunden geglaubte Erinnerungen auf russischer Seite buchstäblich wieder hochkochen.

Wirkungsmächtige Erinnerungsorte

Wer nur ansatzweise verstehen will, wie wach die Erinnerung der Russen an das Grauen des von Deutschland ausgehenden Vernichtungskrieges nach wie vor ist, dem sei ein Besuch der großen Mahnmale auf dem Mamajew-Hügel im Norden Stalingrads oder bei Prochorowka südlich von Kursk empfohlen, zu denen vor allem zu den Jahrestagen des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ immer noch Zehntausende von Russen pilgern.

Während sich zwischen Rhein und Oder so gut wie niemand mehr an die blutigen Kämpfe in den Tiefen Russland zwischen 1941 und 1944 erinnern kann und will, sind sie in den Köpfen der Russen noch auf vielfältige Weise präsent. Und zwar nicht nur als ferne Geschichtserzählung, sondern als unmittelbar nachwirkendes Trauma eines Krieges der nach groben Schätzungen rd. 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben gekostet hat.

Blinde Flecken des Kalten Krieges

Im deutschen Nachkriegsnarrativ waren genau diese  Erinnerungsorte und die damit verbundenen Opferzahlen über Jahrzehnte hinweg klassische „blinde Flecken“. Der Kalte Krieg ab etwa Ende der 40er Jahre ließ jede Form der nachhaltigen Aufarbeitung an der Mauer des alles dominierenden Systemkonflikts abprallen. Überlagert durch die Gräuel der Roten Armee an der deutschen Zivilbevölkerung in den deutschen Ostgebieten im Jahre 1945 und blockiert durch eine jahrzehntelang grundlegend negativ konnotierte Sicht auf „die Russen“ blieben das Leiden und die Traumata fast aller Ostvölker bis in die jüngste Vergangenheit unbehandelte Lücken im Aufarbeitungsfuror der deutschen Erinnerungspolitik.

Nun könnte man sich – trotz solcher Erkenntnisse – fragen: Muss uns das historische Bauchgefühl russischer Soldaten beim Anblick deutschen Kriegsgeräts wirklich interessieren? Was können wir dafür, wenn „der Russe“ unzulässige historische Parallelen zieht? Und vor allem :  Können wir den Ukrainern in ihrem verzweifelten Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren die schweren Waffen tatsächlich vorenthalten?

Oder speziell an die Adresse der einfachen russischen Soldaten: Im Grunde geht es doch gar nicht gegen Euch persönlich. Es geht gegen den Kreml. Es geht gegen Putin und seine Entourage. Ihr habt die staatliche Integrität der Ukraine verletzt und die gilt es nun einfach wieder herzustellen. Auch wenn wir dazu mit unseren Waffen tief in Euer Land hinein vorstoßen müssen. Jede Verbindung mit historischen Ereignissen des vorigen Jahrhunderts – seien sie auch noch so furchtbar und einschneidend  – verbietet sich doch von Hause aus, oder?

Vergebliche Stoppsignale 

Historische Vergleiche sind stets mit Unsicherheiten verbunden und geben selten einen eindeutigen, widerspruchsfreien Anhalt für eine zukunftsgerichtete Politik. Ob die oben geschilderten Umstände jemals zu tiefergehenden Debatten hinter den verschlossenen Türen des Kanzleramtes geführt haben, wissen wir nicht. Dass es bei Kanzler Scholz und vor allem in der Führung der SPD-Bundestagsfraktion von Anfang an Bedenken gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gab, ist bekannt.

Die ursprüngliche Weigerung wurde erst scheibchenweise aufgegeben und ging von der Totalabsage über den „Ringtausch“ erst Schritt für die Schritt in Richtung Direktlieferung. Stets wurden Bedingungen formuliert, die aber weder bei Präsident Selensky noch bei den ukrainischen Kommandeuren nennenswertes Gehör fanden. Mit der jüngsten Entscheidung der ukrainischen Militärführung die deutschen Panzer nun auch auf russischem Territorium einzusetzen, ist – der gnadenlosen Logik lang anhaltender militärischer Auseinandersetzungen folgend – auch diese letzte rote Linie mit Schwung überschritten.

Was heißt das nun für die nähere und fernere Zukunft – vor allem für das grundlegende Verhältnis zwischen Deutschen und Russen? Nach allem menschlichen Ermessen wird es auf absehbare Zeit – trotz des erreichten Eskalationsniveaus – nicht zu einer unmittelbaren Konfrontation zwischen deutschen und russischen Streitkräften kommen. Auch wenn der als notorischer Scharfmacher bekannte engste Vertraute Putins, Dimitri Medwedew, als Reaktion auf den ukrainischen Vorstoß von „russischen Panzern auf dem Platz der Republik“ fabulierte, scheint die Schwelle für eine ganz große Eskalation Gott sei Dank immer noch zu hoch. Vor dem ultimativen Armageddon steht unübersehbar weiterhin die NATO mit ihrer auch Deutschland schützenden Beistandsklausel und mit dem nach wie vor glaubhaften Drohpotential des US-amerikanischen Atomschirms.

Trauma-Bewältigung

Weniger klar umrissen, erscheint das psychopolitische Terrain. Hier haben wir – trotz unserer fortwirkenden pazifistischen Disposition gewollt oder ungewollt  – in der Breite der russischen Bevölkerung alte Traumata wieder erweckt. Natürlich werden diese Traumata ganz bewusst von der russischen Staatspropaganda geschürt. Und natürlich nutzt der Kreml jede Gelegenheit um diese militärische Steilvorlage als Anknüpfungspunkt für propagandistische Kampagnen im Innern zu nutzen.

Der Kreml hat von Beginn des Konflikts an versucht, den Ukraine-Krieg geschichtsklitternd als eine Art „Großen Vaterländischen Krieg 3.0“ hochzustilisieren und hat auch die derzeit im Westen wieder inflationär gebrauchte Karte mit dem großen „N“ in der Mitte in diesem Konflikt bereits mehrfach offen ausgespielt.

Dass er sie jetzt, wo deutsche Panzer durch russische Dörfer rollen, noch eifriger auf den Tisch knallen wird, dürfte klar sein. Das hat aber nur zum Teil mit der momentan fast hermetischen Isolierung der russischen Bevölkerung an der Informationsfront zu tun. Mindestens so wuchtig lebt hier die traumatische Kriegs-und Leidenserfahrung der Russen wieder auf, die seit Jahrzehnten nachwirkt und deren Hebel beim Anblick deutscher Kriegswaffen reflexartig einschnappen.

Deutscher Lernvorsprung

Wie eingangs erwähnt, möchten wir Deutschen auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts beweisen, dass wir aus unserer Geschichte gelernt haben. Unser eigener großer Geschichtsmarker ist – so zumindest die Lesart unseres (post-)nationalen Geschichtsnarrativs – das Trauma eines gewaltigen Verbrechens. Dass wir die Erinnerung an dieses Menschheitsverbrechen im deutschen Namen wachhalten, ist schmerzhaft aber notwendig, nicht nur bezogen auf unsere Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Nachkommen, sondern auch in Bezug auf unsere Rolle als integraler Bestandteil des freien Westens.

Wir sollten uns aber – bei aller wünschbaren Einbettung in die westliche Solidargemeinschaft – klar darüber sein, dass wir nicht nur im Zusammenhang mit dem Holocaust, sondern auch im Zusammenhang mit unserem furchtbaren Vernichtungswerk an den Völkern des Ostens eine ganz besondere Verantwortung tragen. Eine Verantwortung, der wir uns auch dadurch nicht entziehen können, dass wir einfach so tun als genüge lediglich eine andere „Gebrauchsanweisung“ beim Einsatz deutscher Panzer auf russischen Boden und schon sei alles gut.

Kriegslogik überwinden

Dass es eine wachsende Zahl von Menschen in Deutschland gibt, die beim Wort „Siegfrieden“ eher zusammenzucken als applaudieren, sollte auch die deutsche Politik im Blick auf den eigenen diplomatischen Beitrag zur Friedensermöglichung nachdenklich stimmen. Nicht überall wo Frieden draufsteht, ist Putin-Propaganda drin. Und eine reine Kriegslogik, die Eskalation als Motor und immer mehr gepanzerte Waffen – auch ohne Balkenkreuz an den Flanken – als Treibstoff verwendet, hat noch nie zu einem guten Ende geführt.