Überraschenderweise gibt es weltweit nur wenige Länder, in denen der Nationalfeiertag mit dem Verfassungstag zusammenfällt. In Europa würdigen nur die Dänen, die Norweger, die Polen* und die Serben ihre Verfassung mit einem offiziellen Nationalfeiertag. Selbst die beiden ältesten Verfassungsstaaten USA und Frankreich geben ihrem Unabhängigkeitstag bzw. ihrem „Revolutionstag“ den Vorzug. – Wie ist das bei uns? Wäre der 23. Mai eine ernstzunehmende Alternative zum 3. Oktober? Eignen sich „Verfassungen“ überhaupt als nationale Gedenkobjekte? Welchen Rang nimmt das Grundgesetz in unserer Erinnerungskultur ein? Für was steht eigentlich der 23. Mai 1949? Müssen wir diesem Tag erinnerungspolitisch nicht einen deutlich höheren Stellenwert einräumen?
Staatsrechtliches Grundgerüst
Orientiert am westlichen Entwicklungsmodell haben sich Verfassungen weltweit als konstitutive, staatsorganisatorische Grundnormen durchgesetzt. Fast alle Mitglieder der Vereinten Nationen haben sich Verfassungen gegeben und damit ihr staatsrechtliches Grundgerüst normativ fixiert. Dass dennoch so wenige Staaten ihrer Verfassung offiziell gedenken, dürfte zunächst vor allem mit der eigentümlichen Nüchternheit von kodifizierten Rechtsnormen zu tun haben.** Rechtstexte, seien sie auch noch so perfekt formuliert, strahlen keine Wärme aus. Sie binden die staatlichen Gewalten, legen zentrale Organisationsprinzipien staatlicher Ordnung fest und fixieren im Idealfall sogar anspruchsvolle Grundrechtskataloge, sind aber dennoch nur bedingt als Wärmepole für heterogene Solidargemeinschaften geeignet.
„Provisorium“
Im bundesrepublikanischen Fall kommt hinzu, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die das Grundgesetz am 23. Mai 1949 verkündeten, der festen Überzeugung waren, vor dem Hintergrund der drohenden, dauerhaften Teilung Deutschlands, nur ein Provisorium auf den Weg bringen zu dürfen. Gegen den hinhaltenden Widerstand der westlichen Siegermächte sollte die Verfassung des neuen „Weststaates“ unbedingt als „Übergangslösung“ erkennbar bleiben. Der Parlamentarische Rat wollte partout keine „Verfassungsgebende Nationalversammlung“ sein. Zwar wurde der damals eigentlich favorisierte Begriff „Organisationsstatut“ Gott sei Dank vermieden, aber eine vollwertige „Verfassung“ sollte das Grundgesetz dennoch nicht sein. Selbst auf die in den Frankfurter Dokumenten der Westalliierten eigentlich vorgesehenen Verfassungsreferenden in den Bundesländern wurde vor diesem Hintergrund bewußt verzichtet.
17. Juni statt 23. Mai
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die junge Bundesrepublik in den 50er Jahren gar nicht auf die Idee kommen konnte, den Verfassungstag in den Rang eines Nationalfeiertages zu heben. Ein „Tag der deutschen Einheit“ musste es sein. Ein Gedenktag, der alljährlich alle Deutschen an die klaffende Wunde der deutschen Teilung erinnerte. Damals noch der 17. Juni, in Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR, und später dann in der gleichen Traditionslinie, der 3. Oktober, als Gedenktag für die Unterzeichnung des Einigungsvertrages.
Ist damit die Frage nach dem Rang des Verfassungstages im Konzert der nationalen Gedenktage nicht bereits beantwortet? Oder anders: Erübrigt sich damit nicht schon die Frage nach einer Rangerhöhung des 23. Mai? – Ich meine, nein! Das Grundgesetz ist nämlich definitiv mehr als nur eine gut formulierte, solide ausgearbeitete Rechtsquelle. Es ist die eigentliche Gründungscharta der Bundesrepublik Deutschland. Wegweisend für eine bisher beispiellose Erfolgsgeschichte und Ursprung einer phänomenalen Reputationssteigerung in den Nachkriegsjahrzehnten.
§ 146 GG
Im Zusammenhang mit dem 40. Jahrestag des Grundgesetzes, der mit dem Jahr des Mauerfalls zusammenfiel, wurde intensiv darüber debattiert, ob die Wiedervereinigung sich auf der Basis von Art. 23 oder Art. 146 GG vollziehen sollte. Für beide Varianten gab es gute Gründe. Noch heute, 30 Jahre später, spüren wir, dass eine neue Verfassung, die sich das wiedervereinigte Deutschland auf der „Grundlage freier Selbstbestimmung“ gegeben hätte, durchaus eine wichtige katalytische Wirkung auf das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands gehabt hätte. Das Grundgesetz ist – daran ist nicht zu zweifeln – ein „westdeutsches“ Konstrukt und noch heute gibt es kritische Stimmen, die in der Wiedervereinigung nach Art. 23 GG (Beitritt der „Ostländer“ zum Geltungsbereich des Grundgesetzes) einen schmerzlichen Akt der Fremdbestimmung sehen.
Die Tatsache, dass der Bundesgesetzgeber nach der Wiedervereinigung zwar einige wichtige Passagen des Grundgesetzes überarbeitet hat, den Art. 146 GG aber nicht gestrichen, sondern nur leicht umformuliert hat, deutet unmissverständlich auf diese offene Wunde, die immer noch nicht gänzlich verheilt ist. Das heißt, der Wiedervereinigungs-Vorbehalt des Grundgesetzes gilt paradoxerweise trotz vollzogener Einheit auf merkwürdige Weise fort und dürfte nicht nur in den Kreisen eingeweihter Verfassungsrechtler weiterhin für Diskussionsstoff sorgen.
Chance genutzt
Was bleibt, ist eine tiefe Genugtuung über eine weitsichtige Grundsatzentscheidung an der Wiege der Bundesrepublik Deutschland. Wer hätte damals, als die Ruinen der Bombennächte noch sichtbar waren, viele Millionen Flüchtlinge noch in Übergangslagern und Wellblechbaracken saßen und den meisten Zeitgenossen noch der Untergang der ersten deutschen Republik im Jahre 1933 vor Augen stand, daran geglaubt, dass die Deutschen ausgerechnet diese Chance nutzen würden. Die Startvoraussetzungen hätten angesichts der gewaltigen materiellen Zerstörungen und der riesigen mentalen Verwüstungen nicht ungünstiger sein können.
Dass es trotzdem gelang aus dem Inferno etwas Neues, etwas Zukunftsfähiges zu bauen, hat wesentlich mit dem positiven Leitbild zu tun, dass damals im Parlamentarischen Rat in der rheinischen Provinzstadt Bonn geschaffen wurde. Das Grundgesetz hat die richtigen Lehren aus Weimar gezogen, hat mitgeholfen Deutschland in die Familie der zivilisierten Völker zurückzuholen und Prosperität in Frieden und Sicherheit lebbar zu machen.
Unser Verfassungstag
Allem Anschein nach wird es auch nach 70 Jahren keine Mehrheit für einen deutschen Nationalfeiertag am 23. Mai geben. Auch ein schlichter „Verfassungspatriotismus“**, der sich einzig und allein auf die schriftliche Rechtsquelle bezieht, wird eine echte emotionale Bindung an das eigene Land nicht ersetzen können. Dennoch sollten wir dem 23. Mai eine deutlich größere Beachtung schenken. Er steht nicht nur für einen der glücklichsten Momente in der jüngeren Geschichte unseres Landes, sondern bildet das Wertefundament auf dem wir stehen. Halten wir es mit beiden Händen fest, solange es irgend geht!
* In Polen fällt der Nationalfeiertag auf den 3. Mai 1791 und würdigt damit die erste polnische Verfassung.
** Angesichts der kolonialen Vergangenheit det meisten Staaten Asiens, Afrikas und Südamerikas verwundert es nicht, dass die weit überwiegende Mehrheit der Nationalstaaten auf der Erde ihren Nationalfeiertag auf ihren „Unabhängigkeitstag“ legt. Das emotionale Moment der Loslösung von der Kolonialmacht stellt die nüchterne Verfassungsproklamation in der Regel deutlich in den Schatten.
*** Dolf Sternberger, der eigentliche Vordenker des „Verfassungspatriotismus“ ging wie selbstverständlich davon aus, dass die Hochachtung gegenüber der Verfassung untrennbar mit der demonstrativen Hinwendung zum eigenen Land verbunden sein muss. Ein isoliertes patriotisches Verhältnis zur eigenen Verfassung – nach Jürgen Habermas – ist kaum vorstellbar und wäre weltweit einmalig.