Die fragmentierte Gesellschaft

Es war Anfang der 50er Jahre als der deutsche Soziologe Helmut Schelsky in einer bahnbrechenden Studie den Übergang der traditionellen „Klassengesellschaft“ in die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ konstatierte*: Im Zuge des anhebenden Nachkriegsbooms – so seine These – nivellieren sich gesellschaftliche Unterschiede, Konsumgewohnheiten und Lebensstile. An die Stelle des „Klassenantagonismus“ tritt eine weitgehend homogene „Mittelschichtsgesellschaft“ aus einer „verbürgerlichten“ Arbeiterschaft und einem kriegsbedingt erodierten Bürgertum. Dieses breit rezipierte Gesellschaftsmodell war nie unumstritten und rief in der Folge Heerscharen von Kritikern auf den Plan, blieb aber lange Zeit wegweisend für die Erklärung des gesellschaftlichen Wandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.  – Was ist heute rund 70 Jahre nach diesem soziologischen Thesenanschlag von 1953 aus der damals mitgelieferten Vision einer mittig ausgerichteten, sozioökonomisch nivellierten Gesellschaft geworden? Sind wir noch auf Kurs oder droht das Ganze einer fortschreitenden Fragmentierung zum Opfer zu fallen?

Auf dem Felde der Ökonomie schien es – trotz gelegentlicher konjunktureller Rückschläge – lange Zeit so, als würden sich die Voraussetzungen für eine sozioökonomische Angleichung der unterschiedlichen Wohlstandsniveaus stetig verbessern. Das Wirtschaftswunder der „25 goldenen Jahre“ erzeugte bisher ungeahnte Aufstiegsdynamiken und etablierte eine neue Form der Wohlstandsgesellschaft auf breiter Basis. Selbst mit dem Ende des großen Nachkriegsbooms ab Mitte der 70er Jahre vollzog sich die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung der westlichen Ökonomien zwar langsamer, aber dennoch stetig.

Globalisierungsboom

Haupttreiber dieses anhaltenden Wirtschaftswachstums war seit den 80er Jahren – begleitet von einer massiven Liberalisierungswelle – die ökonomische Globalisierung. Das Ausnutzen von Kostenvorteilen internationaler Arbeitsteilung, die in Billiglohnländer verlängerten „Werkbänke“ und das schier unaufhaltsame Anwachsen der grenzüberschreitenden Finanzströme verliehen den entwickelten Volkswirtschaften immer wieder neue Wachstumsflügel.

Das generierte Mehrprodukt aus diesem Globalisierungsboom landete erneut vor allem in den Ländern der sog. „Ersten Welt“ –  jedoch deutlich ungleichmäßiger und erratischer als in der Phase des Nachkriegsbooms. Vor dem Hintergrund gestiegener Anforderungen an Sprachkenntnisse, akademische Bildung und Habitus profitierten vor allem die Bevölkerungsgruppen von den Globalisierungsschüben, die aufgrund von Qualifikation und Sozialisation in der Lage waren, die Veränderungsdynamik zu adaptieren und für das eigene Fortkommen nutzbar zu machen.

Dreigeteilte Gesellschaften

Die Folge war die Herausbildung einer eher liberal, kosmopolitisch ausgerichteten, neuen Mittelschicht aus „Wissensarbeitern“ und urbanen Bildungseliten, die sich ab den 80er Jahren zunehmend von den alten, eher ländlich-kleinstädtisch geprägten Mittelschichten absetzte und zum gesellschaftlichen Leitmilieu entwickelte. Zusätzlich getrieben vom  „Nachwendeboom“ Anfang der 90er Jahre verfestigte sich eine Dreiteilung der Gesellschaft in die beiden erwähnten „Mittelschichtsfraktionen“ und in ein wachsendes „Dienstleistungsproletariat“, bestehend aus einer gering qualifizierten, überwiegend bildungsfernen „Service Class“.**

Dieser Schlüsseltrend der Fragmentierung hält bis heute an und hat im Globalisierungssog der 2010er Jahre weiter an Dynamik gewonnen. Sichtbar wird das nicht nur im gesellschaftlichen Kontext, sondern auch in den politischen Arenen, wo die „Parteien der Mitte“ stetig weiter erodieren, und einer fragmentierten Konkurrenz an den politischen Rändern Platz machen. Die zunehmende Politisierung gesellschaftlicher Differenzen macht sich dabei nur vordergründig an politischen Galionsfiguren wie z.B. Trump, Bolsonaro oder Orban fest. Viel entscheidender ist der vornehmlich kulturell determinierte Ursprung der Konfliktlagen.

Konflikt um die Kultur

Dabei geht es nicht – wie man annehmen könnte – primär um einen „Kampf der Kulturen“ (Samuel Huntington), sondern um einen „Konflikt um die Kultur“ – und zwar zwischen Vertretern eines „Hyperkulturalismus“ auf der einen Seite und eines „Kulturessenzialismus“ auf der anderen Seite. Während die eine Fraktion („neue Mittelschicht“) für eine kosmopolitische, marktförmige Modellierung der Kultur steht, plädiert die Gegenseite („alte Mittelschicht“) für ein essenzielles, nach innen gerichtetes Kulturverständnis. Das heißt, beide Fraktionen leiten ihr Selbstverständnis aus kulturellen Horizonten ab, kommen aber zu konträren Schlußfolgerungen, was die Konsistenz des Kulturbegriffs anbetrifft. Was für die einen das „Sowohl-als-auch“ ist, erscheint für die anderen eher als klares „Entweder-Oder“.

Kosmopoliten gegen Essenzialisten

Der kosmopolitische Flügel setzt in diesem mittlerweile hochgradig konfrontativen Kontext nicht auf das Prinzip Begrenzung, sondern ausdrücklich auf den Modus der „Entgrenzung“ – und zwar sowohl bezogen auf Staatsgrenzen, wie auch auf interkulturelle Grenzziehungen. An die Stelle eines festgefügten Kulturkanons à la Bildungsbürgertum tritt eine bunte Pluralität kultureller Güter: Orientalisches Essen, indisches Entspannungs-Yoga, karibische Musik, afrikanischer Schmuck, und das alles angereichert mit Urlaubsreisen in alle nur denkbaren Weltgegenden. Jedes Individuum kämpft dabei um „seine“ spezifische Einzigartigkeit und „stückelt“ sich seine Weltanschauung aus einem vielfarbigen Kaleidoskop aus kulturellen Versatzstücken zusammen. Besonderes Charakteristikum dieser „Handmade-Philosophy“ ist ein weitgehend abstandsloses Nebeneinander unterschiedlicher kultureller Formen, die sich virtuos kombinieren und konsumieren lassen.

Das über Jahrhunderte hinweg dominierende Gegenmodell wendet sich genau gegen diese, als „verwaschen“ und „beliebig“ empfundene Hybridität des Kulturbegriffs. In alter kulturnationalistischer Manier bringen sich eine ganze Vielzahl von Gegenbewegungen zum Prinzip der „Hyperkultur“ in Stellung und betonen in wechselnden Formationen die ethnische, religiöse oder schlicht traditionelle Essenz „ihrer“ Kultur.

Tiefe Konfliktzone

Was sich hier offenbart, ist mehr als nur eine bipolare Konfrontation von ehemals weitgehend homogenen Mittelschichtmilieus. Das Konfliktterrain ist deutlich breiter und was die Konfliktzonen anbetrifft auch deutlich tiefer. Zu nennen sind hier zum einen die (post-)kolonialen Dimensionen des Konflikts. Was sich im Inneren der westlichen Gesellschaften als Antagonismus gegensätzlicher Mittelschichtmilieus offenbart, manifestiert sich in der globalen Dimension als Neuauflage der Konfrontation zwischen „Erster Welt“ und „Globalem Süden“. Die Leitmilieus der westlichen Hemisphäre sind aufgrund ihrer liberal-kosmopolitischen Ausrichtung in ihrer Mehrheit zwar eher auf Aussöhnung zwischen Nord und Süd programmiert, bilden aber für ethnozentrisch bzw. fundamental-religiös geprägte Strömungen, z.B. aus Nordafrika oder dem Nahen Osten, die zentralen Antipoden.

Für unseren Kontext noch erheblich folgenreicher, ist die Tatsache, das sich die Abschottungsphänomene, die von Wissenschaft und Politik gemeinhin nur im Lager der „Kulturessenzialisten“ verortet werden, zunehmend auch in den Milieus verbreiten, die bislang nur als Referenzzonen für harmlos-bunte Lebensstil-Differenzen reserviert schienen. Das hyperkulturalistische Modell des friedlichen Nebeneinanders von Kulturformen gerät zunehmend in Konflikt mit einem Versteifungsphänomen, bei dem die individuelle Vielfalt einer Segmentierung in Klein-Kollektive weicht.

Identitätspolitik

Das verstärkt seit etwa zwei Jahrzehnten vor allem aus den USA in die westliche Welt hinüberschwappende Prinzip der „Identity Politics“ führt zu einer ganz neuen Dimension gesellschaftlicher Fragmentierung. Dabei geht es in erster Linie um die identitäre Selbstfindung einer wachsenden Zahl von Minderheiten im Kontrast zur (weißen) Mehrheitsgesellschaft. Jede Gruppe erklärt ihre spezifischen Merkmale und Eigenschaften als eigene, singuläre Identität und bringt sich wechselweise als „diskriminierte Minderheit“ oder als „Anspruchsgruppe“ gegenüber einer imaginären gesellschaftlichen Majorität in Stellung. Endziel dabei scheint nicht die Integration oder gar die Assimilation, sondern der Rückzug auf eine geschützte Insel des Singulären.

Black lives matter

Besonders offensichtlich wird dieses Phänomen vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse im Nachgang zum gewaltsamen Tod des Afro-Amerikaners George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis. Die Entrüstung über die Gewalttat hat einerseits berechtigten Protest ausgelöst, andererseits aber auch einer Bewegung neue Nahrung gegeben, die sich genau in dem oben erwähnten Spannungsfeld zwischen dem Verlangen nach Gleichberechtigung und Integration und dem Bedürfnis nach kultureller Abgrenzung bewegt.

Auffällig dabei ist die große Sympathie, mit der die liberale Öffentlichkeit aktuell auf Bewegungen wie „Black lives matter“ reagiert. Einerseits nachvollziehbar und begrüßenswert aufgrund der anti-rassistischen Frontstellung der Protestbotschaft, andererseits aber auch problematisch, weil die Demonstrationen an vielen Stellen in massive Gewalt umschlagen und weil sich  – neben der dezidiert „antikapitalistischen“ Stoßrichtung führender Exponenten von BLM – auch deutliche Anzeichen für eine „innere Schließung“ bzw. ethnisch-kulturell begründete Abkapselung  beobachten lassen.

Insulare Minderheiten

Sorgenvoll stimmt dabei vor allem die Tatsache, dass sich im Windschatten von „Black lives matter“ mittlerweile eine ganze Reihe von weiteren, ähnlich gelagerten Gruppierungen bewegen, die in ihrer Grundausrichtung nicht integrativ,  sondern tendenziell eher fragmentierend wirken. Neben den verschiedenen Gender-Bewegungen und den diversen „Mikromilieus“ vor allem an US-amerikanischen Universitäten, sind es vor allem die kleinen BLM-Schwestern „Latino lives matter“ und „Native lives matter“, die auf einen wachsenden Trend hindeuten. Problematisch ist hier nicht das Phänomen der Diversität oder der kulturellen Vielfalt an sich, sondern die sich abzeichnende fortschreitende Zersplitterung der Gesellschaft in eine Vielzahl von engen Subkulturen und selbstgewählten Nischen.

Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Not, in die die westlichen Gesellschaften im Zuge des Corona-Shutdowns hineinlaufen, könnten sich die oben beschriebenen Fragmentierungsphänomene zu gefährlichen Katalysatoren eines gesellschaftlichen Erosionsprozesses entwickeln. Die in einer Sandwich-Position zwischen den kosmopolitisch-urbanen Mittelschichten und der prekären Service Class eingeklemmten traditionellen Mittelschichten werden in der Krise weiter massiv unter Druck geraten. Das vor allem seit Mitte der 2010er Jahre spürbare Anwachsen der politischen Ränder wird sich unter den Bedingungen zunehmender Arbeitslosigkeit und sozialer Not eher noch verstärken.

Mehr Kohäsion

Vor allem hochentwickelte Gesellschaften mit komplexen politischen, ökonomischen und sozialen Grundstrukturen brauchen ein hohes Maß an innerer Kohäsion, um in Balance zu bleiben. Es wäre schon ein Erfolg, wenn es gelänge den Fragmentierungstrend, wenn schon nicht umzukehren, dann doch zumindest zu stoppen. Hieran sollten die, auf die es ankommt, gemeinsam arbeiten!

* Eine guten Überblick über die Gedankengänge von Helmut Schelsky liefert Hans Braun im Archiv für Sozialgeschichte.

**  vgl. hierzu und im Folgenden Andreas Reckwitz: Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019 sowie ders.: Hyperkultur versus Kulturessenzialismus: Der Kampf um das Kulturverständnis prägt zentrale Konflikte der Gegenwart, in Deutschlandfunk, 2017