Erhards Erbe

Wer sich heute, fast genau 70 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, nach den ehernen Fundamenten unseres Gemeinwesens erkundigt, stößt unweigerlich auf das Erhardsche Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Ein leider mittlerweile verblaßtes Konzept, das zwar in Sonntagsreden immer wieder bemüht wird, dessen tragende Elemente in der öffentlichen Debatte aber nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Stattdessen liest man im deutschen Blätterwald aktuell viel über die angeblich notwendige Renanimation sozialistischer Wirtschaftskonzepte. Statt Erhard scheint eher Marx wieder als Vordenker populär. Und statt sich zu fragen, welche marktwirtschaftlichen Impulse notwendig sind, um die vom Abschwung bedrohte Volkswirtschaft vor dem Abgleiten in die Rezession zu bewahren, wird breit über Enteignungen, Vergesellschaftungen und Kollektivierungen diskutiert. – Was ist da los? Wollen wir nach den verheerenden Resultaten der DDR-Ökonomie wirklich ein Marx-Revival?  Warum ist die Lernkurve bei diesem wiederholten Selbstbetrug so dramatisch flach?

Aus Geschichte lernen

Die Erkenntnis, dass der Mensch nur selten aus Geschichte lernt, ist zu einem Allgemeinplatz der Historiographie geworden. Zu oft sind ganze Nationen, Kulturen oder Religionsgemeinschaften im Laufe ihrer Geschichte immer wieder in die gleiche Sackgasse gelaufen. Der Sozialismus, in seiner von Marx ersonnenen Variante, gehört ohne Zweifel in diesen Kontext. Kein weltanschauliches System hat im Laufe seiner (über 150jährigen) Geschichte auf so schlagende Weise seine Untauglichkeit in der politischen Praxis und der sozioökonomischen Wirklichkeit unter Beweis gestellt. Der sog. „Wissenschaftliche Sozialismus“ ist politisch, ökonomisch und gesellschaftlich das wohl am nachhaltigsten widerlegte ideologische Konstrukt der Moderne. Trotzdem – und die aktuellen politischen Einlassungen von Bundespolitikern wie Habeck (Die Grünen) und Kühnert (SPD) belegen das überdeutlich – scheint nicht das Erhardsche Erfolgsmodell im Fokus, sondern vorgestrige Politikrezepte aus der sozialistischen Mottenkiste.

Liberales Fundament

Warum ist Erhard, warum ist das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, auch nach einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte nicht zum unumstrittenen Leitkonzept der bundesrepublikanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik geworden. Warum kommt es vor allem von links immer wieder unter Beschuss? – Vereinfacht gesagt, ist es sein wirtschaftsliberales Fundament, das es in den Augen weiter Teile der politischen Linken verdächtig macht. Marktwirtschaft heißt Wettbewerb auf der Basis von Privateigentum und freier Preisbildung. Wie in allen marktwirtschaftlichen Systemen ist der Staat zunächst einmal außen vor. Er setzt den rechtlichen Rahmen, präzisiert – wie von Erhards ordoliberalen Vordenkern gefordert – die Grundlagen der Wettbewerbsordnung, hält sich aber ansonsten aus der privatwirtschaftlich organisierten Entscheidungsfindung und dem wettbewerblichen Entdeckungsverfahren heraus. Er maßt sich – wie in zentralplanwirtschaftlichen Systemen üblich – kein höheres Wissen an und läßt die Wirtschaftssubjekte so weit wie möglich unbehelligt agieren.

Höheres staatliches Wissen

Genau hier beginnt das latente Mißtrauen der Linken. Als Marktkritiker und bewaffnet mit der These, Marktresultate seien chronisch ungerecht, vertrauen sie per saldo nicht dem Wettbewerb, sondern der staatlichen Steuerung. Letztlich, so die verbreitete Sicht, ist nur der Staat in der Lage, eine gerechte Verteilung des Sozialprodukts zu gewährleisten. Der Markt ist blind! Nur der Staat hat den Gesamtüberblick. Nur er kann die Volkswirtschaft so steuern, dass am Ende „soziale Gerechtigkeit“ herrscht.

Soziales Korrektiv

Nun setzt das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft eigentlich genau hier an und sucht den Kompromiß zwischen wettbewerbswirtschaftlich erzeugten Marktresultaten und staatlicher Umverteilung. Erhard und seine ordoliberalen Vordenker waren sich bewußt, dass das Wirtschaftsmodell der Nachkriegszeit ein Kompromissmodell sein muss, wenn es politische und gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen will. Das sozialstaatliche Korrektiv war für sie von Anfang unstrittig und Teil des Konzepts.

Dass auch dieses genial erfolgreiche Kompromissmodell aus sozialistischer Perspektive nicht befriedigen kann, liegt, wie erwähnt, an seinem liberalen Fundament. Es ist, wenn man so will, nicht symmetrisch. Der Markt ist die Dominante! Seine Ergebnisse müssen zwar aus politischen und sozialen Gründen zumindest partiell korrigiert werden, aber er gibt den Takt vor und schafft die eigentlichen Basisvoraussetzungen für alles Weitere.

Systemunterschiede

Genau das will vielen Kritikern auf der Linken nicht einleuchten. Sie wollen, dass Staat und Gesellschaft direkt an der Quelle – in den Schaltzentralen der Großunternehmen, der Immobiliengesellschaften, der Verkehrs- und Versorgungswirtschaft – unmittelbar einwirken können, sei es über strenge Regulierung oder wie jüngst gefordert über den Weg der „Vergesellschaftung“. Politfunktionäre oder Beamte sollen das Heft in der Hand haben, weil vermeintlich nur sie in der Lage sind für „Gerechtigkeit“ zu sorgen.

Was dabei von den Protagonisten eines solchen Systemwechsels chronisch übersehen wird, ist die Grunderkenntnis, dass erfolgreiches Wirtschaften Privateigentum an Produktionsmitteln, dezentrale Pläne und wettbewerbliche Anreizmechanismen voraussetzt. Es gibt keine Ökonomie auf der Welt, die ohne diese Essentialia Erfolg hat. Alle gegenwärtigen (z.B. Venezuela) und vor allem alle historischen Beispiele – die Sowjetunion, Rotchina, der gesamte Ostblock, die unzähligen sozialistischen Experimente in der sog. Dritten Welt – sind kläglich gescheitert. Sie haben ökonomisch, ökologisch und gesellschaftlich gigantische Flurschäden hinterlassen und ihr Negativbeispiel müsste eigentlich jeden Anreiz zur Reanimierung solcher „Fehlübungen“ zunichte machen.

Erhard statt Marx

Warum wir heute im Jahre 2019 dennoch nicht über die Erfolgsbedingungen des Erhardschen Wirtschaftsmodells, sondern über das Für und Wider von Enteignungen diskutieren, ist und bleibt rätselhaft. Dass soziale Gerechtigkeit ein politisches Dauerthema ist und demokratische Systeme immer wieder aufgefordert sind durch ein soziales Korrektiv für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen, steht grundsätzlich außer Frage.

Wer aber die Kuh, die die Milch gibt, schlachtet und glaubt, er könne allein durch die Installierung einer gut geölten Honigpumpe Wohlstand und Gerechtigkeit erzeugen, irrt gewaltig. Erhard hat gewußt, wie Wirtschaft funktioniert und wie elementar eine marktwirtschaftliche Ordnung für das Erzeugen von Massenwohlstand ist. Wir sollten sein Erbe bewahren und mehren, statt es durch leichtfertige Gedankenspiele und Systemexperimente zu verjubeln.