Europa hat die Wahl

„Unser Europa kann sterben, wenn wir die falschen Entscheidungen treffen!“ – mit dieser Wendung sorgte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron anlässlich seines jüngsten Staatsbesuchs in Deutschland  für erhebliche Aufmerksamkeit. Historische Bezüge geschickt nutzend, gerierte sich Macron in seiner „Rede an die europäische Jugend“ am 28. Mai auf dem Dresdner Neumarkt als „Retter Europas“ und überstrahlte seinen wie immer hanseatisch-kühl wirkenden Gastgeber Olaf Scholz nicht nur rhetorisch um Längen. – Ein Kontinent, der zu sterben droht und ein Präsident, der ganz nach französisch-etatistischer Manier kontinentale „Rettung“ anbietet? Eine merkwürdige Formel, die beinahe bonapartistische Züge trägt und im Europawahljahr 2024 so gar nicht zu dem Anspruch auf ein demokratisch verfasstes Europa von unten passt.

Wer will es bestreiten? – Europa war und ist ein Kontinent der Widersprüche, ein Archipel der politischen und territorialen Zerklüftung. Topographisch, ethnisch und sprachlich vielfach zergliedert, hat es sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder allen hegemonialen Vereinheitlichungsbestrebungen widersetzt.  Wenn Macron vor akuten, lebensbedrohlichen Gefahren für den alten Kontinent warnt, ist es wieder – wie schon in den Zeiten der großen Hegemonialwellen seit dem 16. Jahrhundert – diese explizite machtpolitische Polarität, die Europa schüttelt. Wieder stellt eine hegemoniale (Vor-)Macht europäische Grenzen in Frage und beschreitet den Weg der Gewalt zur Durchsetzung nationaler (Großmacht-)Interessen.

Putins Aggression

Dass Europa – und Macron meint natürlich EU-Europa – an seiner Ostflanke vor großen Herausforderungen steht, dürfte niemand ernsthaft bezweifeln. Putins militärische Aggression hat in der vorbehaltlosen politischen und militärischen Unterstützung Kiews seit Februar 2022 auch eine gesamteuropäische Antwort gefunden. Deutsche Kampfpanzer, französische Haubitzen, polnische Flugabwehrkanonen  und bald auch belgische Jagdbomber bevölkern die Schlachtfelder im Donbass und vor Charkiv. Doch was da brennt, sind – Gott sei Dank – noch nicht die europäischen Hauptstädte Berlin, Paris oder Brüssel, sondern eine Vielzahl von zwischenzeitlich zu Trümmerfeldern mutierte Ortschaften in den Randbezirken der alten „Killingfields“ des Zweiten Weltkrieges namens Bachmut, Awdijiwka und Wowtschansk.

So bitter das klingen mag: Die Zündschnur für den ganz großen Flächenbrand hält nicht nur der Autokrat im Moskauer Kreml in der Hand, sondern auch die politischen Eliten des Westens. Die Tatsache, dass Macron seit Wochen aktiv den Einsatz von NATO-Truppen auf ukrainischem Territorium fordert, weist ihn weniger als Staatsmann, denn als Hasardeur aus.  Vielleicht sollte sich der republikanische Ersatzkaiser im Elysée einfach mal an das Schicksal seines Urahnen Napoleon Bonaparte erinnern, der im Winter 1812 nicht nur sein Armageddon an der Moskwa erlebte, sondern Monate später auch mit ansehen musste, wie russische Truppen in die Seine-Metropole einrückten.  Kurz gesagt: Die Schlüssel für das Überleben Europas liegen nicht nur hinter den dicken Mauern des Kreml, sondern auch in den Tresoren der Regierungskanzleien an Seine, Spree, Themse und Potomac.

Gefahr von rechts

Ganz und gar innenpolitisch motiviert, ist der zweite Bezugspunkt der Macronschen Warnung. Nicht nur Putins Russland – so der französische Präsident – bedroht den alten Kontinent und seine Werte, sondern auch sein wichtigster innerfranzösischer Gegner, die französische Rechte. Marine Le Pen und ihr Rassemblement Nationale wollen „unser“ Europa zerstören und den Kontinent „mit falschen Entscheidungen“ in den Abgrund führen.

Macron weiß, dass er – im Gegensatz zu seiner deutlich konfrontativer angelegten Russland-Strategie – in diesem Kontext bei seinem deutschen Gesprächspartner offene Türen einrennt. Auch Olaf Scholz und seine „Ampel“ wähnen sich in einem erbitterten Abwehrkampf gegen die rechtspopulistische Opposition und nutzen den Europawahlkampf – ähnlich wie die französische Regierung – zur politischen, medialen und zwischenzeitlich auch geheimdienstlich forcierten Festigung der „Brandmauer gegen Rechts“.

Selbsterneuerung als Chance

Auch hier fällt der hohe Grad an Polarisierung auf, der wenig Wert auf Nuancen und ganz viel Wert auf „klare Kante“ legt. Wie schon in den vorangegangenen Europawahlkämpfen seit 1979 sucht der außenstehende Betrachter auch jetzt im Frühjahr 2024 wieder einmal vergeblich nach differenzierter, erklärender Auseinandersetzung oder gar nach einer selbstkritischen Debatte über den inneren Zustand der europäischen Staatenunion.

Dass es auch nach 45 Jahren „Europawahlen“ immer noch keine echten „europäischen“ Parteien gibt, bei denen die Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz machen können, sondern nur „nationale“ Parteilisten, die heimische „Europaabgeordnete“ portieren, ist und bleibt ein europapolitisches Armutszeugnis. Noch einschneidender ist der Umstand, dass das zwischen dem 6. und 9. Juni gewählte „Europaparlament“ auch nach dem Wahltermin wieder nur marginalen Einfluss auf die Besetzung der europäischen „Regierungsspitze“, sprich den Vorsitz in der EU-Kommission, haben dürfte. Viele Bürger stellen zurecht die Frage: Was ist eine Legislative wert, der ein signifikanter Einfluss auf die Auswahl des Regierungschefs verweigert wird?

Demokratiedefizit

Nimmt man noch die wenig demokratisch anmutende Zusammensetzung der „zweiten Kammer“ auf europäischer Ebene hinzu, die weder nach US-amerikanischen (Senat) noch nach Schweizer Muster (Ständerat) vom Volk gewählt, sondern von den nationalen Regierungen (Europäischer Rat) bestimmt wird, dann werden die nach wie vor erheblichen „Demokratiedefizite“ der EU sichtbar. Dass diese auch in den anderthalb Jahrzehnten nach dem letzten großen Reformprojekt (Vertrag von Lissabon, 2009) nicht abgebaut werden konnten, schwächt die Gemeinschaft und mindert ihre Legitimation.

Eigentlich, und das mutet angesichts der oft stereotypen Wahlkampfslogans unter dem Motto „Demokratie wählen!“ beinahe unwirklich an, dürfte ein Beitrittskandidat, der strukturell so aufgestellt ist, wie die Europäische Union zumindest keine unmittelbare Aufnahme in die Staatengemeinschaft beanspruchen können. Ein „institutionalisiertes Europa“, dem die EU-Institutionen den Beitritt zur Europäischen Union aus verfassungsrechtlichen Erwägungen verweigert müssten…? Was für ein krasses Paradoxon!

Wenn also die europäischen Bürgerinnen und Bürger in wenigen Tagen zur Wahlurne gerufen werden, dann werden sie sich zum wiederholten Male darauf einstellen müssen, dass ihr „Wahlakt“ nur wenig an der prekären Verfasstheit des europäischen Konstrukts namens EU ändern wird. Das heißt, kurz gesagt: Europäische Wähler werden sich auch nach dem 9. Juni mit der begrenzten Reichweite ihrer Wahlentscheidung abfinden müssen.

Machtverschiebung

Was jetzt schon fest stehen dürfte, ist eine signifikante Machtverschiebung im Europäischen Parlament, weg von der linken Mitte ins rechte politische Lager. Das seit den Anfängen des Europäischen Parlaments dominierende Tandem aus Christdemokraten (EVP) und Sozialdemokraten/Sozialisten (S&D) dürfte erstmals in der Parlamentsgeschichte seine dominierende Rolle verlieren. Die hinter den rechten/rechtspopulistischen Bündnissen (ID und EKR) stehenden Gruppierungen können mit erheblichen Stimmenzuwächsen rechnen und werden – wie sich jetzt schon abzeichnet – in Zukunft ein deutlich gewichtigeres Wort bei der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene mitreden können.

Deutlich mehr Gegenwind als noch vor wenigen Jahren erwartet, bläst den Grünen und ihren Verbündeten auf der Linken entgegen. Angesichts von Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und vor allem in Anbetracht der europaweit nach wie vor ungelösten Migrationsfrage sind „Klimathemen“ – zumindest außerhalb Deutschlands – im europapolitischen Themenranking deutlich zurückgefallen. Statt vom europäischen „Green Deal“ wird die anstehende Legislatur wohl eher von Themen wie Wirtschaftliche Stabilität, Migration und Innere Sicherheit geprägt werden. Ob grüne Herzensprojekte wie das „Verbrennerverbot“ die Legislaturperiode überstehen werden, ist mehr als fraglich.

Probleme lösen

Am Schluss bleibt die Erkenntnis: EU-Europa hat zwar wieder einmal die Wahl, wird aber – wenn der Ukraine-Krieg nicht doch noch eskaliert – strukturell eher in gewohnten Bahnen verharren. Trotz der Ukrainefrage und der noch offenen Westbalkan-Problematik wird es absehbar keine große neue Erweiterungsrunde mehr geben. Der Verlust Großbritanniens im Jahre 2016 (Brexit) hat die Sollbruchstellen einer vielfach überbürokratisierten, eher zentralplanerisch-gouvernementalen EU schonungslos offen gelegt. Der zu erwartende „Rechtsruck“ in der europäischen Parteienlandschaft dürfte weniger das Resultat eines fundamentalen ideologischen Bewusstseinswandels in der europäischen politischen Öffentlichkeit, sondern eher das Ergebnis ungelöster politischer Probleme, insbesondere auf den Feldern Migration und Innere Sicherheit, sein.

Ähnlich wie die europäischen Staaten bräuchte die Europäische Union eine starke bürgerliche Mitte als politisch-soziales Fundament. Diese über Jahrzehnte hinweg gesellschaftlich dominierende Kraft erodiert jedoch dramatisch und findet keinen adäquaten Ersatz in dem aktuell auf dem Vormarsch befindlichen fragmentierten Potpourri aus gesellschaftlichen Minoritäten und identitätspolitisch versteiften Sonderinteressen.

Europäische Integration als Glücksfall

Das Projekt des vereinten Europa ist historisch betrachtet ein absoluter Glücksfall. Es hat einen ganz wesentlichen Beitrag zur dauerhaften Befriedung des streitsüchtigen Kontinents geleistet. Sich jedoch darauf zu konzentrieren, einfach nur den Status Quo dieses Glücksfalls zu verteidigen, wird angesichts der wachsenden Herausforderungen nicht reichen. Die kontinentale Staatenunion wird einen neuen kräftigen Schub auch für die mentalen Ressourcen der europäischen Bürgerschaft brauchen, um nicht nur nach außen, sondern auch im Innern als gestaltende Kraft im Rennen zu bleiben.