Europa und das Virus

Als das vereinte Europa vor fast genau 70 Jahren gerade einmal 5 Jahre nach Kriegsende – mit dem sog. „Schuman-Plan“ vom 9. Mai  1950 –  den Geburtskanal erreichte, war allen politischen Geburtshelfern von vornherein klar, dass es eine Risikogeburt werden würde. Natürlich waren auch schon in den Jahrhunderten zuvor maßgebliche Denker mit der europäischen Idee schwanger gegangen. Zumindest als Kopfgeburt hatte die europäische Einheit schon bei griechischen Philosophen und mittelalterlichen Theologen eine Rolle gespielt. Was lag näher, als die gemeinsame geistig-intellektuelle Vaterschaft des christlichen Abendlandes auch politisch in eine tragfähige Form zu gießen. Dass es trotzdem zweier Weltkriege bedurfte, um den waidwunden Kontinent auf eine höhere Ebene der Einheit zu heben, macht deutlich, dass selbst naheliegende, vielfältig durchdachte Ideen oft nur unter schmerzhaftesten Wehen vorankommen.

Dieses merkwürdige Spannungsverhältnis zwischen der Metaebene der historisch tief eingewurzelten ideelen Verheißung einerseits und der anhaltenden Brutkastenlage des Frühgeborenen andererseits macht das vereinte Europa für Störungen von außen auf so eklatante Weise verwundbar. Was auf den ersten Blick wie eine machtvolle Institution mit viel Finanz- und Gesetzgebungs-Power erscheint, schleppt seit den frühen Gehversuchen eine Fülle von frühgeburtlich bedingten Kinderkrankheiten mit sich herum. Einfach gesagt, fehlt dem politisch-administrativ zusammengebundenen Europa nach wie vor eine von unten gewachsene ideele Einheit. Der Körper hat sich mit Hilfe vieler technisch-administrativer Hilfsmittel leidlich entwickelt und ist zu beachtlicher Größe emporgewachsen (Europa der 27), aber das europäische Herz schlägt auch nach 70 Jahren immer noch schwach und unregelmäßig.

Risse im Fundament

Die Krisenfestigkeit und Konfliktresistenz der mittlerweile schon recht betagten Union ist deshalb immer noch stark unterentwickelt. So hat die große Finanzkrise der Jahre 2008ff., die sich für die EU vor allem als Eurokrise manifestierte, viel stärker als das sichtbar geworden ist, an den physisch-(kardiologischen) Existenzgrundlagen des europäischen Organismus gerüttelt. Zwar konnte über die Geldschwemme der EZB in letzter Konsequenz ein Auseinanderbrechen der Europäischen Union verhindert werden, aber die Risse, die die kombinierte Euro- und Schuldenkrise im europäischen Fundament hinterlassen hat, drängen nun im Zuge der Virus-Pandemie mit Wucht wieder an die Oberfläche.

Angebotsschock

Was das ökonomisch für die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten bedeutet, zeichnet sich momentan lediglich in ersten Grundzügen ab. Im Unterschied zum Börsencrash des Spätsommers 2008 stehen wir – vor dem Hintergrund des pandemie-bedingten Shutdowns – am Anfang eines weltweiten Angebotsschocks. Was sich 2008ff. im wesentlichen auf den Nominalmärkten für Wertpapiere und Immobilien abspielte, dürfte in den nächsten Wochen und Monaten voll auf die Realwirtschaft durchschlagen. Anders gesagt: Die Unternehmen, das heißt die Anbieter von Waren und Dienstleistungen, wären durchaus in der Lage ihre Produkte und Services abzusetzen, können aber nicht, weil die Liefer- und Wertschöpfungsketten unterbrochen sind oder dürfen nicht, weil sie aus seuchenpolizeilichen Gründen ihre Produktion stilllegen müssen.

Obwohl die Krise also als klassische Angebotskrise daher kommt, greift die EZB zu den gleichen Rezepten wie 2008ff.. Das „What ever it takes“* richtet sich wie damals primär an die Banken und im weiteren an die Nachfrager bzw. Konsumenten. Das heißt, die Wertpapier-Portfolios in den Banktresoren werden durch unlimitierte Anleihe-Kaufprogramme abgesichert und billiges Geld wird massenhaft in den Markt gepumpt, um Nachfragestimulierung über die Druckerpresse zu betreiben. Schon dem Laien dürfte klar sein, dass es wenig Sinn macht dort Nachfrage zu stimulieren, wo es kein Angebot gibt und erneut primär Bankbilanzen zu retouchieren, obwohl es eigentlich darum gehen müsste, die Realwirtschaft zu stützen.

Was kann EU-Europa in der Krise leisten?

Was aber bleibt, wenn der spezifische Instrumentenkasten, der EU-Europa in den Jahren 2008ff. noch gerettet hat, nun nicht mehr wirkt? Noch deutlicher gefragt: Kann die Europäische Union in der aktuellen Krise überhaupt eine konstruktive Rolle spielen? Im akuten Corona-Krisenmanagement wohl nur bedingt. Hier richten sich alle Augen auf die Nationalstaaten bzw. die nationalen Gesundheitssysteme. Sie ziehen alle Kompetenzen der Krisenbekämpfung an sich, greifen zu Notmaßnahmen, verordnen kollektive Quarantäne und schließen Grenzen.

Für ein Europa, das angetreten ist, Freizügigkeit zu ermöglichen, Grenzen zu öffnen und Menschen grenzüberschreitend zusammenzubringen, ein schwerer Rückschlag. Wie soll eine Institution, deren Daseinszweck die Supranationalität ist, in Zeiten der Re-Nationalisierung überleben? Mit niedrigem Profil in der Hoffnung auf bessere Zeiten oder als eine Art „lender of last resort“ in der Krisenbekämpfungskaskade, die auf kommunaler Ebene beginnt, über die Regionen und die Nationalstaaten hinweg bis auf die europäische Ebene reicht?

Kreditfinanzierte Rettungsprogramme

Anzeichen für die aktivere Variante der Reaktion zeichnen sich ab. Die EU will ebenso wie die Nationalstaaten im großen Stil Bürgschaften für insolvenzgefährdete Unternehmen und Mittel für Kurzarbeitergeld bereitstellen. Darüber hinaus soll es Sondermittel für besonders krisengeschüttelte Mitgliedsstaaten geben. Noch unentschieden, ist der Kampf um die sog. Corona-Bonds, die lediglich eine Neuauflage der schon seit Jahren diskutierten Euro-Bonds darstellen. Wie auch bei den anderen Maßnahmen geht es letztlich darum eine nötigenfalls massiv über (vergemeinschaftete) Kredite finanzierte EU-Rettungspolitik auf den Weg zu bringen.

Klammer sein und Zusammenhalt stärken

Ob das wirklich reicht, um den notwendigen Zusammenhalt der Union im Krisenmodus sicherzustellen, ist dennoch fraglich. Wenn schon die EZB nicht mehr helfen kann, weil das durchnässte Zins-Pulver längst verschoßen ist und wenn z.B in Italien auf offener Straße Sternenbanner der EU demonstrativ von aufgebrachten Bürgern vor laufender Handy-Kamera verbrannt werden, sollte das in Brüssel als echtes Alarmsignal verstanden werden.

EU-Europa muss sich als Klammer um die Nationalstaaten bewähren. Oder besser wie ein Exoskelett, das sich wie ein schützender Chitinpanzer um den Körper zieht und das moribunde Gebilde im Innern zusammenhält. Der Brexit hat gezeigt, dass die Europäische Union deutlich an Kohäsionskraft verloren hat. Die Uneinigkeit in der Migrationspolitik hat vor allem das Verhältnis der Brüsseler Zentrale zu den osteuropäischen Staaten – allen voran Ungarn und Polen – deutlich abkühlen lassen und die Corona-Krise dürfte das schon jetzt deutlich spürbare innereuropäische Nord-Süd-Gefälle weiter vertiefen.

Dennoch nochmals die Frage: Was kann EU-Europa effektiv zur Krisenbewältigung beitragen – außer das Kopieren von nationalen Rettungsprogrammen auf europäischer Ebene? – So utopisch, wie es klingen mag: Endlich das werden, was das vereinte Europa schon in den 50er Jahren hätte werden müssen, nämlich nicht nur ein großer Beamtenapparat, eine große Administration oder ein großer Binnenmarkt, sondern auch eine große ideele Gemeinschaft, die die wohl folgenschwerste Nachkriegs-Krise als Chance zur Solidarität und zum Zusammenstehen begreift.

Rasch erwachsen werden

Wenn der französische Staatspräsident Macron recht hat mit der Aussage „dass das Überleben des europäischen Projekts auf dem Spiel steht“, dann sollte sich die Frühgeburt namens Europäische Union beeilen und das Versäumte schnellstmöglich nachholen. Das in sein achtes Jahrzehnt laufende Projekt ist allein angesichts seiner Vorgeschichte, ein wahrer Segen für den alten Kontinent. Wenn Europa nach der Krise im Wettlauf mit den USA und China noch eine Rolle spielen will, muss es mit Siebenmeilenstiefeln an den Füßen in Rekordzeit erwachsen werden. Hoffen wir, dass das gelingt!

 

* Madame Lagarde hat Draghis Credo von 2008 im Grunde einfach 1 zu 1 wiederholt und die Geldschleusen geöffnet. Dass die Corona-Krise ganz andere Hintergründe und Folgewirkungen hat, scheint sie nicht großartig zu stören. https://www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzmarkt/notfallprogramm-ezb-will-anleihen-fuer-750-milliarden-euro-kaufen-16686004.html