Als vergängliche Wesen unterliegen wir einem ehernen Bewegungsgesetz, bestehend aus Geburt, Werden, Altern und Tod. Dieser Vierklang prägt unser Dasein, ob wir es wollen oder nicht. Entscheidend ist die Art und Weise, wie wir die einzelnen Phasen unseres menschlichen Seins gewichten. Oder besser: wie wir unseren individuellen Standort in Zeit und Raum verorten. Das Kleinkind blickt anders auf die Welt als der Greis. Der Christ anders als der Hindu und der Darwinist anders als der Pazifist. Was uns jedoch alle eint, ist die Neigung, die Wechselfälle unserer eigenen Existenz auf den großen historischen Zusammenhang zu projizieren. Geschichte, so der immer wiederkehrende Tenor, ist zyklisch. Kulturen werden geboren, wachsen, altern und sterben. Zivilisationen kommen „zur Welt“, erklimmen die Leiter hinauf zur Hochblüte, überschreiten ihren Zenit, fangen an zu verblühen und verschwinden manchmal über Nacht! – Was soll uns das sagen? Ist das nicht abstrakte Geschichtsphilosophie? Wo sind da die Anknüpfungspunkte zu unserer Gegenwart?
Noch schemenhaft, aber stetig getragen von einem unbestimmten Gefühl, spüren wir in diesen Tagen, dass sich etwas verändert. Vorboten eines tiefgreifenden Umbruchs bestimmen die Szenerie und halten uns in ihrem Bann. Was das ist, was sich da verändert, liegt überwiegend noch im Dunkeln, aber die Tatsache, dass neben den üblichen Auguren, auch wieder vermehrt Untergangspropheten ganz vorne auf der Bühne stehen, macht selbst unverbesserliche Optimisten nachdenklich. War es bis Anfang des Jahres noch die dräuende Klima-Apokalypse, die uns vor Augen gehalten wurde, galoppieren mindestens seit März diesen Jahres die apokalypischen Reiter der Pandemie durchs Land.
Endzeit-Modus
Der Modus, in dem wir uns da bewegen, ist uns, wie oben angedeutet, lange geläufig. Man muss gar nicht zurückleuchten bis in Antike und Mittelalter, wo das Bild der Zeitenwende und das Motiv der „Endzeit“ quasi zur Grundausstattung der Menschheit gehörten. Noch spannender und für unsere profanierte Gegenwart deutlich besser verständlich, sind Referenzen aus dem uns näher liegenden 20. Jahrhundert. Stimmungsmäßig und bezogen auf den Psychohaushalt lassen sich nämlich unübersehbare Parallelen zwischen unserer aktuellen Lage und der „Fin de Siècle-Stimmung“ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erkennen.
So kann es doch nicht weitergehen
Die erste Parallele ist ökonomischer Natur: Hochgezüchtete, hochkomplexe Volkswirtschafen kommen nach Jahrzehnten des Booms an ihre Grenzen. Was über mehrere Dekaden hinweg vorprogrammiert schien, nämlich hohe Wachstumsraten und beeindruckende Wohlstandsgewinne, kommt ins Wanken. Unübersehbare Warnsignale einer nahenden Rezession brechen sich Bahn. Die gute Stimmung, die den wirtschaftlichen Organismus, über lange Zeit beflügelt hat, droht in Mißstimmung und Zukunftsangst umzuschlagen.
Noch ein bißchen deutlicher werden die Parallelen, wenn man über die Ökonomie hinaus, die gesellschaftliche Entwicklung in den Blick nimmt. Ebenso wie die Menschen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nehmen auch wir fortschreitende Fragmentierungstendenzen in unseren Gesellschaften wahr. Über die normale Ausdifferenzierung komplexer arbeitsteiliger Organismen hinaus, fangen die gesellschaftlichen Gebilde von den Rändern her an auszufransen. Aus vergleichsweise homogenen „bürgerlichen Gesellschaften“ bzw. „nivellierten Mittelschichtgesellschaften“ entwickeln sich fragmentierte „Parallelgesellschaften“ oder im Extremfall gar „multi-identitäre Stammesgesellschaften“ ohne stabilen, inneren Zusammenhang.
Überfluß als Makel
Dachartig überwölbt wird das Ganze in beiden Szenarien durch eine nicht nur kulturell-ästhetisch, sondern auch handfest politisch dahergekommende „Dekadenz-Kritik“* . Der kritisierte Antipode in beiden Welten ist der „satte Bürger“, der im Wohlstand schwelgende Bourgeois, der den Blick für das Natürliche, das Gewachsene, das Urwüchsige verloren hat. Kunst und Kultur sind voller Anklagen gegen das Überbordende, das Ausufernde bzw. das von seinem natürlichen Grundlagen Entfremdete. Die Erneuerung, so der breite intellektuelle Tenor, kann nur über den Verzicht, über das Eindampfen des Überflusses erfolgen. Apokalyptische Szenarien wechseln mit Reinigungsphantasien und eine laute 5 vor 12-Rhetorik mischt sich mit schrillen Utopien einer neuen Idealgesellschaft.
Unterschiede
Unübersehbare Parallelen, aber auch ganz viel Ungleichzeitiges, das sich der These von einer simplen Deckungsgleichheit in den Weg stellt. Unterschiede lassen sich vor allem auf dem Feld der politischen Bezüge i.e.S. erkennen. Auch die bürgerliche Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts hatte sich demokratisch-gewaltenteilige Institutionen geschaffen. Es gab freie Wahlen, es gab rechtsstaatliche Mechanismen und es gab Medienvielfalt und freie Presse. Quer zu diesen demokratischen Errungenschaften stand die Fortexistenz quasi-feudaler Eliten mit starken Machtstellungen in Militär, Bürokratie und Diplomatie. Und darüber hinaus waren die Konfliktherde und „Pulverfässer“ der ersten Vorweltkriegszeit deutlich zahlreicher und ausgeprägter als heute.
Diese hier nur kursorisch aufgeführten Unterschiede machen deutlich, dass historische Parallelen wichtige Rückschlüsse auf Zustandsbeschreibungen der Gegenwart liefern können, dass man diese jedoch auch nicht überdehnen sollte. Die Vorboten einer anstehenden Zeitenwende können sich rasch als Luftgeister einer hysterisierten Minderheit erweisen. Zudem war die Dystopie in der Menschheitsgeschichte noch nie ein nützlicher Ratgeber. Endzeit- und Untergangsstimmungen haben im politischen Raum ohnedies nichts verloren und verwirren nur im Blick auf die ganz und gar irdischen Herausforderungen einer Politik der pragmatischen Problemlösung.
Gefahren
Gefährlich wird die Sache erst, wenn sich diffuse Endzeitstimmungen – seien sie virologisch oder klimatologisch grundiert – mit der Forderung nach radikalen Regimeänderungen verbinden. Selbst die großen demokratisch-republikanischen Systeme des globalen Westens sind vor solchen Gefahrenquellen nicht gefeit. Endzeit-Rhetorik kombiniert mit Forderungen nach einem grundlegenden Systemwechsel bleibt auch in unserer Gegenwart nicht ohne Wirkung. Durchsetzen lassen sich solche Modelle aber dauerhaft erst, wenn wir selbst daran gehen, die Essenz unserer freiheitlichen Ordnung zur Disposition stellen. Wenn wir Bürger-und Freiheitsrechte statt als unveräußerliche Rechtsgüter als jederzeit disponible Gnadenakte von oben mißinterpretieren oder wenn wir die gewachsene Balance der Staatsgewalten unter dem Druck eines permanenten Ausnahmezustandes aufs Spiel setzen.
Auf diesen sensiblen Feldern gilt es wachsam zu bleiben und strikt darauf zu achten, dass der „Kampf gegen das Virus“ oder der „Kampf gegen den Klimawandel“ nicht zur dauerhaften Etablierung rigider Notstandsregime führen.
Solides Fundament
Gott sei Dank können wir uns zumindest in den westlichen Demokratien auf ein solides Fundament gewaltenteiliger Ordnung stützen. Die rechtsstaatlichen Institutionen sind fest etabliert und werden sich einer wie auch immer gearteten Entmachtung zu erwehren wissen. Gefahr droht nur, wenn sich Parlamente dauerhaft selbstentmächtigen und sich die führenden Medien – statt ihre Rolle als „vierte Gewalt“ zu verteidigen – in den Status von Hofberichterstattern drängen lassen. Neben den obersten Gerichten sind die Legislative und die Flaggschiffe der „vierten Gewalt“ unverzichtbare Hüter unserer freiheitlichen Ordnung.
Weder Dystopie noch Utopie
Und was die „Endzeit“ angeht, sollten wir die Flinte keinesfalls zu früh ins Korn werfen. Statt dystopischen Untergangsszenarien nachzuhängen oder im Gegenzug utopische Luftschlösser – möglicherweise gar noch bevölkert von „neuen Menschen“ – zu bauen, sollten wir uns mehr dem (Neu-)Anfang und dem Werden, statt dem Altern und dem Tod widmen.
Zukunft braucht, auch wenn sie ins Wanken gerät und in zyklischen Mustern quasi immer wieder von vorne beginnt, Mut, Zuversicht und jugendliche Kreativität. Das Fin de Siècle-Modell ist als künstlerisch-ästhetische Spielerei durchaus angenehm anzuschauen, aber als Leitprinzip einer schwankenden Gegenwart im Kern unbrauchbar. Man muss nicht an den ewigen Fortschritt glauben, um Optimist zu sein, aber man sollte auch die Sonne nicht mit dem Mond verwechseln, denn der Nachthimmel ist nicht nur dunkel und kalt, sondern auch ohne Horizont!
* Der Begriff „Fin de Siècle“ wurde im Jahre 1886 erstmals im Anschluß an einen Artikel in der französischen Zeitschrift „Le Décadant“ breiter rezipiert. Die Zeit vor dem 1. Weltkrieg war vor allem in intellektuellen Kreise stark geprägt von der Vorstellung, dass die aktuelle Epoche sich unweigerlich dem Ende zuneigt. Im philosophischen und künstlerischen Bereich wurden Endzeitstimmungen kultiviert und Elemente einer Gegenkultur zur „bürgerlichen Welt“ ästhetisch und politisch artikuliert.