Funkstörung

Noch Anfang der 2010er Jahre hätte so gut wie jeder, den man gefragt hätte, reflexartig abgewunken: Was? Der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter Legitimationsdruck? Das Dickschiff der deutschen Nachkriegsdemokratie in der Rechtfertigungsschleife? – Heute, wenige Jahre später, scheint alles anders. Nervosität in den Chefredaktionen. Kontroverse Gebührenerhöhungsdebatten in Landesparlamenten und auf medialen Foren. Intendanten, die sich für ihre üppigen Jahresgehälter und ihre weit überdurchschnittlichen Rentenansprüche rechtfertigen müssen. Und dazwischen immer wieder Kritik an wachsender Unausgewogenheit, programmatischer Einspurigkeit und problematischen Diskursschranken. – Was ist da los? Wie konnte es soweit kommen? Sind das nur Momentaufnahmen oder geht das ans Grundsätzliche?

Als die Bundesrepublik Deutschland vor rund 70 Jahren aus der Taufe gehoben wurde, gaben ihr ihre damaligen Geburtshelfer nicht nur viele gute Ratschläge, sondern auch eine Art „Institutionenkorsett“ mit auf den Weg. Das heikle Experiment – so der Grundtenor – sollte nicht allein vom guten Willen des Demos abhängen, sondern durch solide Korsettstangen mit der notwendigen Stabilität ausgerüstet werden.  Dazu diente zuallererst das Grundgesetz mit seinem Grundrechtskatalog und das aus ihm abgeleitete, gewaltenteilige Institutionengefüge.

Medialer Stabilitätsanker

Ein zentraler Teilaspekt dieser Stabilisierungsmission war die Schaffung öffentlich-rechtlicher Strukturen im schon damals stark expandierenden Rundfunksektor. Das demokratische System sollte nicht nur auf kluge Weise verfassungsrechlich abgestützt, sondern auch im Bereich der „neuen Medien“ einen soliden Flankenschutz, bestehend aus „Grundversorgung“, „programmatischer Ausgewogenheit“ und „garantierter Meinungsvielfalt“ erhalten. Ein – auch im Nachhinein betrachtet – weiser Schachzug, denn auf diese Weise konnten einerseits private Meinungsmonopole verhindert und andererseits Entwicklungen Richtung „Staatsfunk“ vorgebeugt werden.

Dass sich Rundfunk in einem föderalen System ebenfalls föderal organisieren sollte, war von Anfang an unumstritten. Angelehnt an die Kulturhoheit der Länder sollte die Programmhoheit bei den Landesrundfunkanstalten liegen und nur in der noch jungen Fernsehsparte (ARD Fernsehen) und in einem begrenzten Radiosegment („Deutschlandradio“) sollte es ein abgestimmtes Vollprogramm mit nationaler Reichweite geben.

Öffentlich versus privat

Deutlich kontroverser wurde über die Themenfelder „Privater Rundfunk“ und „Gebührenfinanzierung“ diskutiert. Während auf Seiten der Öffentlich-Rechtlichen Anfang der 60er Jahre durch die Gründung des „Zweiten Deutschen Fernsehens“ (ZDF) eine weitere Expansionsphase einsetzte, blieben die „Privaten“ noch bis in die 80er Jahre auf den Printbereich beschränkt und dass obwohl schon deutlich früher die Bereitstellung zusätzlicher Frequenzen möglich gewesen wäre.

Als dann Mitte der 80er Jahre dennoch – unter großen Mühen – das „duale Rundfunksystem“ entstand, wurde schnell klar, dass die gefundenen Lösungen nur vorübergehender Natur sein konnten. Vor allem angesichts der innovativen Dynamik bei den Rundfunk- bzw. Übertragungstechniken entwickelten sich die rechtlich-institutionellen Barrieren gegen eine weitere Öffnung für private Angebote zunehmend zu problematischen Anachronismen.

Expansionismus

Obwohl sich für den potentiellen Nutzer immer mehr Nutzungs-Alternativen auftaten und obwohl dadurch die Hör- und Sehzeiten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – relativ gesehen (Marktanteile) – immer weiter zurückgingen oder zumindest stagnierten, trieben ARD und ZDF die Sender- und Programm-Expansion stetig weiter voran. Gespeist aus einem kontinuierlich wachsenden Gebührentopf entstanden nicht nur unzählige „Spartenkanäle“ (ARTE, 3Sat, ARD Alpha, Phönix, Tagesschau 24, ZDF info, ZDF neo etc.), sondern darüber hinaus immer neue Programminhalte mit immer fragwürdigeren Bezügen zum eigentlichen Grundversorgungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen.*

Am Ende des Expansionsprozesses standen im vergangenen Jahr neben 74 Radiosendern, über 20 öffentlich-rechtliche Fernsehprogramme. Allein unter dem Dach der ARD senden heute immer noch 9 eigenständige Rundfunkanstalten mit 18 Funkhäusern und rd. 70 Regionalstudios aus allen Teilen der Republik. Darunter Exoten wie der „Saarländische Rundfunk“ oder „Radio Bremen“, die wie selbstverständlich eigene Verwaltungsapparate und eigene Intendanzen vorhalten. Manifeste Doppelstrukturen entwickelten sich dabei vor allem im Verhältnis zwischen ARD und ZDF. So drängen sich neben den 30 Auslandsstudios der ARD mit rd. 100 Korrespondenten (Fernsehen und Hörfunk) an den Hotspots der internationalen Politik weitere 18 ZDF-Auslandsstudios mit 23 Korrespondenten.

Gebühren- und Strukturfragen

So überrascht es kaum, dass sich die aktuelle Diskussion über die (aufgeschobene) Gebührenerhöhung mit einer wachsenden Kritik an den Strukturen des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks mischt. Interessant dabei ist, dass die kritischen Debattenbeiträge mittlerweile nicht mehr allein nur aus den Reihen der politischen Rechten stammen, sondern sich auch in Teilen der Union und in den Reihen der FDP wachsender Unmut auf diesem Feld artikuliert.

Welche Zukunft hat das traditionelle Fernsehen, wenn sich die Sehgewohnheiten radikal verändern und immer mehr, vor allem junge Nutzer bei den Streamingdiensten im Internet landen? Nach aktuellen Umfragen liegt der Sehanteil des klassischen TV (Öffentlich-rechtlich und privat) mittlerweile nur noch bei rd. 54 %. Bei den 16 – 29jährigen sogar nur noch bei 34 %. 60 % der Sehzeiten in dieser Alterskohorte entfallen mittlerweile auf Streamingdienste wie Netflix und Amazon Prime.**

8 Mrd. jährlich

Wie lassen sich – vor diesem Hintergrund – kollektive Rundfunkgebühren in einer Größenordnung von 8 Mrd. € jährlich rechtfertigen? Oder anders: Ist eine „geräteunabhängige“ Zwangsgebühr, die als Bezugskriterium nicht die reale Nutzung, sondern den „Haushalt“ zugrundelegt, im Internetzeitalter überhaupt noch zeitgemäß? Wenn sich laut dem „Beitragsservice“ von ARD und ZDF  mittlerweile 2,4 Mio. Beitragskonten in einer Mahnstufe befinden und wenn im Jahre 2019 in rd. 1,25 Mio Fällen von eben jenem Beitragsservice um „Vollstreckung“ nachgesucht wurde, sollte das die Verantwortlichen zumindest nachdenklich stimmen.

Vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten Entstehungsgeschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland scheint die aktuelle Debatte – trotz der aufkeimenden Kritik – durchaus beherrschbar. Die in der Gründungsphase der Republik ausgesprochene „Bestandsgarantie“ für die Öffentlich-Rechtlichen scheint weiterhin politisch und rechtlich in Stein gemeißelt. Die tonangebenden Parteien in Deutschland stehen in ihrer Mehrheit hinter dem bestehenden System. Und die Tatsache, dass die Bundesregierung und immerhin 15 Landesregierungen an dem Gebührenerhöhungskompromiss festhalten wollen, hinterlässt bei den Intendanzen von ARD und ZDF keine wirklich ernsthafte Drohkulisse.

Emotional auf Distanz

Unübersehbar bleibt eine emotionale Distanzierung zumindest von gewichtigen Teilen des Publikums. Die Tatsache, dass vor allem in der politischen Berichterstattung und in den klassischen Talkshows immer weniger Wert auf politische Ausgewogenheit und Meinungsvielfalt gelegt wird, bringt wachsende Nutzergruppen zunehmend in Rage.

Wenn sich laut einer Umfrage unter den Volontären der ARD immerhin 92,2 % der Befragten zu „linken“ Parteien (57,1 % Grüne, 23,4 % Linke und 11,7 % SPD) bekennen, dann ist das zwar das gute Recht der Nachwuchsredakteure, hinterlässt aber bei den Zuhörern bzw. Zuschauern ohne Zweifel ein mulmiges Bauchgefühl, was die viel beschworene „Binnenpluralität“ der Senderfamilie anbetrifft. Und wenn im Jahre 2020 bei den vier wichtigsten Talkrunden von ARD und ZDF (Hart aber fair, Maybrit Illner, Anne Will und Maischberger), Peter Altmaier (14mal), Karl Lauterbach (14mal), Olaf Scholz (11mal) und Annalena Baerbock (10mal) die Spitzengruppe der Talkgäste bilden, dann bleibt wenig Raum für die Hoffnung auf Pluralität und Meinungsvielfalt.

BBC und SRG

Auch wenn das Bundesverfassungsgericht im kommenden Jahr im Hauptsacheverfahren wohl zugunsten der klagenden Sender entscheiden dürfte und noch einmal 400 Mio. € mehr in die Gebührentöpfe fließen werden, sollten diejenigen, die in den Sendern Verantwortung tragen bzw. diejenigen, die medienpolitisch den Ton angeben ernsthaft auf Reformen drängen. Die Debatten in Großbritannien über die Zukunft der BBC und in der Schweiz über die Stukturen der SRG sollten Anlaß genug sein, auch in Deutschland eine Modernisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems auf den Weg zu bringen.***

Nicht die 86 Cent sind das Problem, sondern die notwendige Anpassung von ARD, ZDF und Deutschlandradio an die sich rasch verändernden Medientechniken und Sehgewohnheiten. Offensives „Haltung zeigen“ und wiederholtes „Bedarf anmelden“ werden nicht reichen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in diesem sensiblen Mediensegment zu meistern.

* Zu nennen, sind hier vor allem die vielen Sport- und Unterhaltungssendungen, die prinzipiell eigentlich dem privaten Sektor vorbehalten sein sollten. Das Mitbieten bei den „Sportrechten“ belastet die Haushalte von ARD und ZDF erheblich und die dort eingesetzten Gebührengelder gehen der „Grundversorgung“ verloren.

** Die Zahlen beruhen auf einer repräsentativen Umfrage der Unternehmensberatung Roland Berger aus dem Herbst 2019.

*** Die Pläne der Regierung Johnson die Finanzierung der BBC auf ein Abonnement-System umzustellen, haben zu hitzigen Debatten in der britischen Öffentlichkeit geführt. Die sog. No-Billag-Initiative in der Schweiz vom 4. März 2018 fiel beim Souverän zwar deutlich durch (71,6 % Nein und 28,4 % Ja), hat aber die Debatte über die Zukunft der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft seither nicht verstummen lassen.