Get Brexit done

Seit dem 12. Dezember ist es amtlich: Die Briten sind raus! Raus aus der Europäischen Union. Raus aus einer supranationalen Gemeinschaft, der sie fast 47 Jahre angehörten. Es hat geschlagene dreieinhalb Jahre gedauert um das Brexit-Votum des britischen Souveräns vom Juni 2016 auf die Zielgerade zu bringen. Dreieinhalb schwierige Jahre nicht nur für den Austrittskandidaten, sondern auch für die EU selbst. Vorgezogener Phantomschmerz auf der einen Seite und innerer Dissens über das Wie des Austritts auf der anderen Seite. Dann die Entscheidung in einer Art „zweitem Referendum“: Absolute Mehrheit für die Tories und Boris Johnson! – Was bedeutet der Brexit für Großbritannien? Waren die fast 50 Jahre „Vereinsmitgliedschaft“ nur eine historische Anomalie? Oder gibt es gar einen Weg zurück? Und was heißt der Brexit für die EU? Erleben wir den Anfang vom Ende der „ever closer union“ oder wohin geht die Reise ohne die Insulaner? In Richtung Superstaat oder in Richtung Staatenbund?

Splendid isolation und Balance of power

Gleich zu Anfang ein kurzer Blick auf einige historische Grundzüge der britischen Politik und auf die „europäische Rolle“ der Briten. Verkürzt gesagt, waren es über die lange Prosperitätsphase des British Empire zwei eherne Konstanten, die die britische Außenpolitik geprägt haben:  Erstens der Drang zur insularen Autonomie und zweitens der Kampf um das Mächtegleichgewicht auf dem Kontinent.

Spätestens mit der Gründung des United Kingdom („Union of Crowns“ 1603 und „Act of Union“ 1707) suchte Großbritannien den Weg der „splendid isolation“ gegenüber dem Kontinent. Der Fokus lag auf der Seeherrschaft und den transozeanischen Kolonien. Gestützt auf eine mächtige Flotte errichteten die Briten ein weltumspannendes Imperium und generierten über ein komplexes System aus Handelsbeziehungen und Kapitaltransfers einen bis dahin unerreichten Wohlstand. Die Hauptblickrichtung war stets überseeisch-maritim. Das europäische Festland geriet immer erst dann in den Blick, wenn kontinentale Mächte versuchten sich zu Hegemonen aufzuschwingen.

Bündnis mit den Kleinen gegen den einen Großen

Zwischen 1700 und 1945, also über einen Zeitraum von fast 250 Jahren, verließ Großbritannien in insgesamt 4 großen Schüben seine gut gesicherte „Insellage“ und griff Richtung Kontinent aus. Nicht um sich dort festzusetzen oder Eroberungen durch langfristige Bündnisse abzusichern, sondern um die sakrosankte „Balance of power“ wiederherzustellen. Es waren die vier großen kontinentalen „Hegemonialwellen“ des 18., 19. und 20. Jahrhunderts – angeführt von Ludwig XIV., Napoleon, Wilhelm II. und Hitler – die Großbritannien über oft lange Kriegsphasen hinweg, zwangen, die Rolle des interessierten Zuschauers in kontinentalen Angelegenheiten zu verlassen. Die dabei angewandten Mittel waren fast immer die gleichen: Subsidien für den oder die „Festlandsdegen“,  Seeblockaden mit Hilfe der übermächtigen Flotte und schließlich als militärische ultima ratio die Entsendung von „Expeditionsarmeen“. 4mal (Spanischer Erbfolgekrieg, „Napoleonische Kriege“, 1. Weltkrieg und 2. Weltkrieg) setzten die Briten zur Wiederherstellung des kontinentalen Mächtgleichgewichts über den Ärmelkanal und 4mal zwangen sie den Hegemon in die Knie.

Vom Senior- zum Juniorpartner

Dieses überraschend effiziente Erfolgsmodell wäre sicher auch nach 1945 fortgesetzt worden, wenn, ja wenn die Briten nicht auf so eklatante Weise geschwächt aus dem vierten Wellental, sprich dem 2. Weltkrieg, hervorgetreten wären. Schon „The Great War“  gegen das kaiserliche Deutschland war letztlich nur mit außereuropäischer, sprich US-amerikanischer, Hilfe gewonnen worden. Mit der zweiten (deutschen) Hegemonialwelle stieß das ressourcenmäßig überdehnte Empire endgültig an seine Grenzen.

Wer sich heute fragt, welches Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts die Briten am nachhaltigsten geprägt hat, dann ist es ohne Zweifel das kollektive Gefühl des Allein-gelassen-seins im Angesicht eines übermächtigen Gegners im Sommer 1940. In diesen entscheidenden Wochen – geschüttelt von einer heftigen Invasionsfurcht – wurde den Briten unmißverständlich klar, dass es eine irgendwie geartete Großmachtrolle des Vereinigten Königreichs nur noch an der Seite der „alten Kolonie“ USA geben würde. Und zwar eindeutig nur noch als „Juniorpartner“ in einem auf Dauer gestellten transatlantischen Bündnis.

NATO oder die große Zäsur

So kehrten die Briten nach 1945 auch nicht mehr zur „splendid isolation“ zurück, sondern vollzogen – mit der Unterzeichnung des „Nordatlantik-Vertrages“ im April 1949 –  erstmals in ihrer langen Geschichte den Eintritt in ein multilaterales Bündnissystem, ohne den Anspruch auf die Führungsrolle zu erheben. Diese große Zäsur zementierte jedoch nicht nur die „special relations“ zu den USA, sondern machte in den zentralen Grundzügen auch den Weg frei für eine Annäherung an die westeuropäischen (NATO-)Partner.  Und zwar vor allem auf dem Felde der Ökonomie, auf dem sich die Briten noch in den frühen Nachkriegsjahren durch die überseeischen Verbindungen und die kolonialen Besitzungen gut abgesichert glaubten.

EWG und EFTA

In enger Wechselwirkung  zum fortschreitenden Dekolonialisierungsprozess entfernte sich London von seinem kolonialen Erbe und öffnete sich Schritt für Schritt den primär wirtschaftlich motivierten Einigungsbemühungen der Kontinentaleuropäer. Zunächst noch mit klarer Distanz zum supranationalen Modell der Europäischen Gemeinschaften war Großbritannien im Jahre 1960 Mitgründer der European Free Trade Association (EFTA). Dieses Konstrukt, dass heute nur noch als unbedeutendes Schattengewächs sein Dasein fristet, steht wie kein anderes für die eigentliche britische Kernidee einer lockeren, staatenbündischen Gemeinschaft zum gegenseitigen (ökonomischen) Vorteil.

Im Lichte des Brexit-Dramas wäre dem europäischen Projekt viel Leid,  Missgunst und integrative Fehlübung erspart geblieben, wenn es damals in den 60er Jahren gelungen wäre eine gemeinsame, eher liberal-freihändlerische Lösung der offenen Integrationsfragen in Form eines Mittelweges zwischen E(W)G und EFTA auf den Weg zu bringen. Der (damals wie heute) vor allem von Paris aus organisierte Widerstand gegen eine große, westeuropäische Integrationslösung nach britischem Muster legte – historisch betrachtet – paradoxerweise bereits vor dem eigentlichen Eintritt Großbritanniens in die EG im Jahre 1973 den Keim für den späteren Fundamentaldissens.

Supranationale Höhenflüge

Großbritannien konnte sich als eher liberal-staatenbündisch orienterter Akteur mit dem dezidiert supranationalen Kurs der Brüsseler EU-Kommission solange arrangieren, solange das Schwergewicht des Integrationsprozesses auf der Beseitigung von Handelshemmnissen lag. So hatte Großbritannien weder mit dem „Delors-Plan“ von 1985, noch mit dem daraus abgeleiteten Projekt eines „Europäischen Binnenmarktes“ ein nennenswertes Problem.

Zunehmend schwieriger wurde es nach dem Vertrag von Maastricht (1991) und schließlich nach dem (Grundlagen-)Vertrag von Lissabon (2007). Mit diesen beiden Vertragswerken sollte einerseits die Erweiterung und andererseits die Vertiefung der Europäischen Union irreversibel gemacht werden – mit einem Ergebnis, wie wir es heute vor Augen haben: Dehnungsschmerzen und starke Zentrifugalkräfte vor allem an der Peripherie sowie – erstmals in der Geschichte der europäischen Integration – ein schmerzhafter Ablösungsvorgang mit nur schwer absehbaren Fernwirkungen.

Deshalb im Folgenden noch eine knappe Auswahl von prognostischen Antwortversuchen – immer vor der Folie der geschilderten Historie und stets bezogen auf einen eher mittelfristigen Zeithoriziont:

Bleiben die Briten zusammen?: Im Zuge des lang gezogenen Nachlaufs zum Brexit-Referendum wurde vor allem in den kontinental-europäischen Leitmedien immer wieder das Menetekel des inneren Zerfalls der britischen Union als beinahe unvermeidbare Konsequenz des EU-Austritts an die Wand gemalt. Das „EU-freundliche“ Schottland – so die ständig wiederholte These – würde die von England aus betriebene Herauslösung aus der EU niemals akzeptieren und postwendend das (2014 noch gescheiterte) Unabhängigkeitsreferendum erneut forcieren. So das Wunschbild! – Die Wirklichkeit ist deutlich ernüchternder! Kaum ein Begriff ist im politischen Brüssel verpönter, als der des „Separatismus“! Um eine Ahnung davon zu bekommen, wie Brüssel auf den Beitrittsantrag einer „Republik Schottland“ reagieren würde, braucht man nur auf das von Brüssel hartnäckig bekämpfte Unabhängigkeitsstreben der Katalanen zu schauen. Und was wäre das für ein Kuriosum: Die weltoffen-transnationale EU schließt ein Bündnis mit kompromisslosen Nationalisten, um ein ehemaliges Mitgliedsland zu schädigen? Und noch eins: Können die Schotten ernsthaft ein Interesse daran haben, dass an ihrer einzigen Landgrenze eine hoch aufragende Barriere zum mit Abstand wichtigsten Handelspartner entsteht?

Wars das mit der „ever closer union“?: Der europäische Integrationsprozess lebt seit seinen frühen Anfängen Anfang der 50er Jahre von einer systemimmanenten Fortschrittsgeschichte. Das Narrativ, das da erzählt wird, ist auf Ausdehnung und gleichzeitige Vertiefung ausgelegt. Aus einem kleinen fruchtbaren Keim wächst ein mächtiger Baum mit solidem Stamm und starken Ästen. – Dass diese stark idealisierte Erzählung auch ohne das Brexit-Drama im Laufe der Jahrzehnte manche Relativierung erfahren hat, steht außer Frage. Die Tatsache, dass nun nach fast 70 Jahren erstmals ein  Mitgliedsstaat austritt, hat jedoch ohne Zweifel eine viel tiefer reichende Dimension.  Hinzu kommt, das politische und ökonomische Gewicht des Austrittskandidaten. Malta oder Zypern zu verlieren, wäre schmerzlich, aber die zweitgrößte Volkswirtschaft aus dem Verbund entlassen zu müssen, wiegt deutlich schwerer. Ob das britische „Vorbild“ Nachahmer finden wird, dürfte entscheidend vom Erfolg des Experiments abhängen. Dass ein „No-Deal-Brexit“ verhindert werden konnte, hat einerseits unbestreitbare Vorteile sowohl für London als auch für Brüssel. Andererseits ist damit die Wahrscheinlichkeit einer sanften Landung des britischen Vogels und damit die Wahrscheinlichkeit eines „Nachahmereffekts“ deutlich gewachsen.

Was fehlt, wenn Großbritannien geht?: Wie angedeutet, war Großbritannien über Jahrhunderte hinweg eine europäischer Sonderfall: Insellage, koloniale Expansion, maritime Weltsicht, aber auch tief eingewurzelte demokratische Traditionen, einen angeborenen Widerwillen gegen jede Form des (absolutistischen) Zentralismus und ein pragmatischer Liberalismus gepaart mit nationalem Selbstwertgefühl und stabiler Weltoffenheit. Gerade die letztgenannten Eigenschaften des „British way of life“ werden in der neuen Gemeinschaft der 27 fehlen. Vor allem Deutschland hat im Vereinigten Königreich über viele Jahre hinweg immer einen wichtigen Partner im Kampf gegen den Brüsseler Etatismus und französische Zentralisierungszumutungen gefunden. Allein schon deshalb hätte die Bundesregierung alles tun müssen, um Großbritannien in der EU zu halten. Dass im Grunde genau das Gegenteil passierte, dürfte sich noch bitter rächen – nicht nur weil Deutschland wohl absehbar für die Nettozahlerposition der Briten „aufkommen“ muss.

Tu Felix Britannia!: Wenn es noch eines Belegs für die systemimmanenten Gebrechen des Interventionismus der Brüsseler Eurokratie bedurft hätte, wäre er kurz vor der britischen Unterhauswahl mit dem Vorstoß der neuen EU-Kommissionschefin von der Leyen in Sachen „European Green Deal“ erbracht worden. Voll auf der Linie des Monnetschen Konzepts eines „Europa von oben“ werden rigide „Planzahlen“ mit dem Endziel eines sog. „klimaneutralen“  Kontinents vorgegeben. Sowohl die Unbedingtheit der Botschaft, wie auch die fast schon provokative „Anmaßung von Wissen“ machen regelrecht Angst. Wenn man dann noch bedenkt, dass wenige Tage zuvor das Europäische Parlament für den Kontinent den „Klimanotstand“ ausgerufen und damit einer autoritären Notstandsgesetzgebung auf gefährliche Weise Vorschub geleistet hat, dann läßt sich die sprichwörtliche „Weltklugheit“der Briten nur bewundern.

Sollte auch nur eine Teil dessen Wirklichkeit werden, was sich da in den Katakomben des Brüsseler Berlaymont zusammenbraut, kann man den Briten weder für das Jahr 2030 noch für das Jahr 2050 einen wie auch immer gearteten Re-Brexit empfehlen: Die Kennedysche Mondflug-Metapher von Ursula von der Leyen aufgreifend, möchte man deshalb angesichts dieser Aussichten – zugegeben mit einem leicht ironisch-verzweifelten Unterton – ausrufen: Lieber mit Boris auf die Insel als mit Uschi auf den Mond!