Go West

Langsamer Kameraschwenk: Spektakulärer Sonnenuntergang, grasbedeckte Prärie bis zum Horizont, wettergegerbter Cowboy reitet, lässig die Zügel in der Linken, gen Westen. Schnitt!: Morgenlicht aus dem Osten, aufgeblähte Segel, verwegene Kapitäne auf den Brücken hölzerner Nußschalen verlassen den Hafen und fahren aus gen Westen, Richtung „Neue Welt“. Noch ein weiterer Schnitt, aber etwas weniger theatralisch: Knochiger, hochgewachsener Politiker steht am Rednerpult des Deutschen Bundestages und verkündet in rheinischem Dialekt die unwiderrufliche Westbindung der jungen (Bundes-)Republik. Starke Bilder! Starke Motive! Sinnbilder für Wegmarken auf dem episch langen Marsch der Europäer Richtung Westen. – Und heute? Was ist heute? Was ist aus dem Go West der frühen Ausfahrten, der Siedlertrecks über die Great Plains und der Nachkriegsbündnisse geworden? Zieht uns das Licht der Sehnsuchtsorte jenseits des großen Ozeans immer noch an oder weist unser Kompaß längst in eine andere (Himmels-)Richtung?

Wenn heute, im Jahre 2020 vom „Westen“ die Rede ist, dann weckt das bei uns in der Regel nur noch verhaltene Assoziationen. Vielen von uns Älteren kommt dabei der Marlboro-Man in den Sinn: Abendlicher Feuerschein über Präriekulisse, knarzendes Sattelzeug und einige robuste Westerner mit Zigaretten im Mundwinkel am Lagerfeuer. Die Jüngeren, dem Tabak entwöhnt, können selbst damit nichts mehr anfangen. Viele von ihnen verbinden heute „den Westen“ eher mit Rechtfertigungsdruck und Schuldgefühlen: Ausbeutung des „globalen Südens“. Alte weiße Männer mit orangenem Teint, die es auf Minderheiten abgesehen haben…!

Änderung der Blickrichtung

Also doch nur noch eine ferne Schimäre? Eine Reminiszenz am geschichtlichen Horizont, entlehnt aus dem Zeitalter der Entdeckungen, der großen Eroberungen und der einseitigen Ausfahrten? – Nicht ganz! Dafür hat sich der mächtige Zug der europäischen Menschheit nach Westen zu dominant in unser kulturelles Gedächtnis eingegraben. Was mit der Zweitenwende um das Jahr 1500 mit Pionieren wie Kolumbus und Magellan* begann, nämlich die Wendung der Blickrichtung von Ost nach West, wirkt bis heute nach.

Klar, es gibt sie noch, in jeder Stadt, in jedem Dorf, sogar fast in jedem Weiler, die „geosteten“ Kirchen, die Opferaltäre in den Richtung Orient ausgerichteten Chorräumen und die – wenn auch spärlicher gewordenen – östlich-morgenländischen Lichtpunkte (ex oriente lux) am Horizont der christlich-jesuanischen Überlieferung. Doch spätestens mit der Renaissance und mit dem Erstarken des frühneuzeitlichen Überseehandels verblasste der östliche Horizont spürbar gegenüber der herandrängenden Abendsonne.

City upon a Hill

Gewaltige Sogwirkungen entfaltete dabei zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert das Bild von der leuchtenden „City upon a hill“ (John Winthrop)**. Für Millionen von Europäern war die „Neue Welt“ wie ein hell strahlender Leuchtturm. Millionen nahmen die Strapazen der Überfahrt und die Ungewissheit nach der Landung in Kauf, um Teil haben zu können, am großen Freiheitsversprechen des tiefen Westens. Selbst als die Siedler-Trecks die pazifische Gegenküste längst erreicht hatten und alle weißen Flecken auf der amerikanischen Landkarte besetzt und erschlossen waren, keimte er, der Traum vom Westen, immer wieder auf.

Spätestens ab den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Bilder anfingen laufen zu lernen, waren es vor allem die kalifornischen „Traumfabriken“, die den faszinierenden Mythos wellenartig immer wieder belebten. John Wayne, Gary Cooper und Clint Eastwood waren nicht nur Revolverhelden in filmisch aufbereiteten Seifenopern, sondern Botschafter einer verdammt anziehenden Idee von gelebter Freiheit und einem unveräußerlichen Recht auf Streben nach Glück (pursuit of happiness).

Kulturtransfer

Dass die Idee von der „Stadt auf dem Berg“ nicht nur Licht, sondern auch Schatten verbreitete, hat wesentlich mit einer historischen Gesetzmäßigkeit zu tun. Immer dann, wenn Sehnsuchtsorte nicht mehr nur anziehen, sondern selbst zu expansiven Kraftquellen werden, kommt es bei den ehemals Faszinierten quasi unausweichlich zu Abstoßungsreaktionen. Das heißt, das alte Europa hat die Hilfe der US-Amerikaner beim Kampf gegen die beiden Großdiktaturen des 20. Jahrhunderts gerne in Anspruch genommen. Auch der Marshallplan, das European Recovery Program oder die Luftbrücke im Rahmen der Berlin-Blockade wurden dankend angenommen. Widerstand weckten die damit einhergehenden massiven „Kulturtransfers“.

„Amerikanisierung“

Die umfangreiche“Amerikanisierung“ Europas vor allem in den beiden Nachkriegsjahrzehnten hat diesseits des Eisernen Vorhangs unterschiedlich ausgeprägte Abwehrreaktionen ausgelöst. Nicht nur was den Widerstand gegen die Übernahme der US-amerikanischen Alltagskultur z.B. in Sachen Fast Food (Coca Cola, Mc Donalds) oder Dress Code (Jeans) anbetrifft, sondern darüberhinaus auch im Zusammenhang mit der großflächigen Verbreitung von „Anglizismen“ in den europäischen Sprachwelten.

Trotz gegenteiliger Behauptungen und trotz einer Fülle von rechten und linken „Anti-Amerikanismen“ wäre es historisch betrachtet unredlich, von einer einseitigen, fremdbestimmten „Verwestlichung“ des alten Kontinents zu sprechen. Wie beschrieben, war die politisch-kulturelle Trasse über den Atlantik lange angelegt und schon seit dem 18. und 19. Jahrhundert stark befahren – und zwar in beiden Richtungen. Emigration wechselte mit Remigration und selbst auf der assymetrisch ausgerichteten Kulturautobahn gab es ein reges Geben und Nehmen in beide Richtungen.  Deshalb ist Europas „Verwestlichung“ nur selten Zwang, viel öfter jedoch bereitwillige Adaption gewesen, stets nach dem Motto: Halb zog sie ihn, halb sank er hin.

Westernization

Kluge Historiker sprechen deshalb zur Vermeidung von Fehldeutungen und Mißverständnissen in den zurückliegenden Jahren, statt von „Amerikanisierung“ oder „Verwestlichung“, vermehrt von „Westernisierung“ – und beschreiben damit einen Adaptionsprozess in Richtung  auf anglo-atlantische Muster der soziokulturellen und sozioökonomischen Ordnungsvorstellungen. Ein Prozeß, der sich nicht nur in europäischen Gesellschaften vollzogen hat und immer noch vollzieht, sondern der mittlerweile auch große Teile des Fernen Ostens und der südlichen Hemisphäre erfasst.

Eine zentrale Rolle dabei spielt die hohe Attraktivität des westlichen Gesellschaftsmodells und die Schlüsselerkenntnis, dass sich letztlich nur über wettbewerbsgesteuerte Marktmodelle höhere Formen der ökonomischen Prosperität verwirklichen lassen.  Dass sich auf diesem Wege vor allem weite Teile des Fernen Ostens (Taiwan, Südkorea, Singapur etc.) aktiv „verwestlicht“ haben, spricht für die unverminderte Attraktion des westlichen Erfolgsmodells und für das Fortdauern des sprichwörtlichen Go West im globalen Maßstab.

Oberflächenspannungen

Sorgen bereitet in diesem Zusammenhang die dramatische Zunahme von transatlantischen Spannungen seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahre 2016. Obwohl sich eigentlich beide Seiten klar darüber sein müssten, dass sie wechselseitig aufeinander angewiesen sind, kommt es sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantiks immer wieder zu ungewollten oder auch aktiv betriebenen Zuspitzungen. Selbstverständlich ist dabei immer die andere Seite schuld, egal ob es sich um Handelsstreitigkeiten, mangelnde Bündnissolidarität oder um verbale Verletzungen handelt. Und selbstverständlich geht es der einen Seite immer nur um Recht und Moral und der anderen Seite immer nur um Macht und Einfluß.

Eine temporär gestörte transatlantische Kommunikation muss noch kein Anlaß für grelle Negativszenarien sein. Die westliche Wertegemeinschaft hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten als außerordentlich stabil und wetterfest erwiesen. Auch das Ende des „Kalten Krieges“ und der damit verbundene Verlust des großen Antipoden hat die transatlantischen Brücken nicht zum Einsturz gebracht.

Go East?

Was wirklich bedenklich stimmt, sind vor allem die in einigen europäischen Medien lancierten Modellszenarien, die davon ausgehen, man könne zumindest mittelfristig die Defizite im transatlantischen Verhältnis durch eine Annäherung an die Volksrepublik China kompensieren. Unter dem Motto: Europa bestraft den unsicheren Kantonisten im Westen durch eine Öffnung in Richtung Peking und findet über eine Phase der Äquidistanz zu einer neuen West-Ost-Partnerschaft.

Abgesehen davon, dass es sich bei der Volksrepublik China um ein kommunistisches Regime handelt, Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind und Peking den lückenlosen Überwachungsstaat mit weggesperrten Regimekritikern in Arbeits- und Internierungslagern forciert, kann Europa in einem solchen Szenario auch machtpolitisch nur verlieren. Ein Kontinent, der sich auf absehbare Zeit nicht selbst verteidigen kann und seit mindestens einem Jahrhundert von seinem transatlantischen Widerlager profitiert, sollte sich vor solchen Experimenten dringend hüten.

Nordamerikanische Reserven

Das alte Europa verdankt seine freiheitliche Existenz in der letzten Konsequenz einer nach Nordamerika ausgelagerten Riesen-Enklave. Hätte es 1939/41 und dann noch mal 1945/49 diese nordamerikanische Reserve nicht gegeben, die beiden großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts, Hitler und Stalin, hätten wohl den alten Kontinent unter sich aufgeteilt. Genau vor diesem Hintergrund sollte Europa deshalb nicht den Fehler begehen, eine vornehmlich innenpolitisch motivierte Abstoßungsreaktion (Trump) als Signal für das Eingehen „neuer Bündnisse“ mißzuverstehen.

Der Weg nach Westen ist seit rund 500 Jahren Teil des europäischen Schicksals. Hindernisse und Umwege gab es auf diesem Pfad mindestens ebenso lang.  Wir sollten diese Unebenheiten nicht als Signal zur Änderung der Blickrichtung mißinterpretieren. Der „Westen“ ist mehr als eine Himmelsrichtung, er ist Teil unserer Identität und wesentliches Fundament unseres Wertekanons. Dieses eminente Pfund sollten wir nicht leichtfertig verspielen.

* Ferdinand Magellan, der erste Weltumsegler, befuhr in den Jahren 1519/21 die Ozeane wie selbstverständlich auf dem Westweg und widerlegte bei dieser Gelegenheit nicht nur alle Zweifel an der Kugelgestalt der Erde, sondern auch die noch von Kolumbus vertretene These von der räumlichen Nähe Amerikas und Asiens. Magellan bewies, dass beide Kontinente durch ein Mare pacifico, einen riesigen „Stillen Ozean“, getrennt waren und dass „Westindien“ nicht in der Karibik lag. Die beiden geographischen  Tatsachen verliehen der Entdeckung der „Neuen Welt“ endgültig ihre einzigartige Dimension.

** Die Wendung von der „City upon a hill“ ist dem Neuen Testament entlehnt. Es war im Jahre 1630, als der puritanische Prediger und Gouverneur  John Winthrop, auf die Kanzel der Holyrood Church in Southhampton, Massachusetts stieg und anfing vor der versammelten Gemeinde aus Kapitel 5 Vers 14 des Matthäus-Evangeliums zu rezitieren. Diese Predigt sollte neben der berühmten Gettysburg Adress von Abraham Lincoln aus dem Jahre 1863 eine der wohl wichtigsten transatlantischen Botschaften aus der neuen Welt werden. Die von Jesus in der Bergpredigt gepriesene „leuchtende Stadt auf dem Berg“ sollte – nach anglo-puritanischer Lesart – für Millionen und Abermillionen von Emigranten – und aufgrund der unbändigen Strahlkraft der Symbolik – auch für die Daheimgebliebenen in der alten Welt zum „Leitstern“ eines neuen Gesellschafts- und Menschenbildes werden.