Unser Leben wäre so schön und so übersichtlich, wenn es die Ungewissenheit der Zukunft nicht gäbe. Wenn wir wüssten, was uns erwartet. Wenn wir die Welt von Morgen jederzeit hellsichtig enträtseln könnten. Was haben wir in der Vergangenheit nicht alles getan, um den Nebel des Vor-uns-Liegenden zu lichten? Wir haben Propheten engagiert, Sterndeuter befragt, Kartenleger und Hellseher konsultiert und vielerorts sogar in kristalline Glaskugeln geschaut. Immer mit dem Ziel, den tief verhangenen Horizont zu erhellen. Doch so oft wir uns bemühten, so oft scheiterten wir auch. Erst als die moderne, streng methodische Prognostik zu unserem bevorzugten Fernglas in die Zukunft wurde, schien plötzlich alles anders. Statt fragile Hellseherei, mathematisch fundiertes Extrapolieren. Statt Glaskugel oder Sternzeichen, Zukunftslabor und Big Data. – Doch halt! Können wir uns wirklich auf die moderne Prognose, auf ihre gewagten Extrapolationen verlassen? Können wir mit dem prognostischen Instrumentarium auch die Folgen externer Schocks „vorhersagen“? Und vor allem: Kann die zeitgenössische Prognostik unabhängig von politischen Erwartungen und gesellschaftlichen Stimmungen agieren?
Ein eindrückliches Beispiel für das hier angedeutete Prognosedilemma bietet die aktuelle Wirtschaftsprognostik. Selten zuvor in der Nachkriegszeit war der ökonomische Prognosehorizont dermaßen nebelverhangen wie in diesen Tagen. Volkswirtschaften in staatlich verordneter Quarantäne. Ganze Wirtschaftszweige im rigiden Wellenbrecher-Lockdown. Und allenthalben Verunsicherung, nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen der Zwangsschließungen, sondern auch bei denen, die morgens einfach nur das Radio anschalten oder die Zeitung aufschlagen.
Prognose in der Nebelbank
Ist in einer solchen Lage seriöse Wirtschaftsprognostik überhaupt möglich? Was nützt das statistische Fortschreiben von Vorjahresdaten, wenn das laufende und das Folgejahr ganz im Schatten eines gewaltigen externen Schocks steht? Oder anders: Was kann selbst methodisch versierte Prognose noch leisten, wenn ein (viraler) Blitzschlag, die Realwirtschaft wie aus heiterem Himmel mit voller Breitseite erwischt? Wäre da nicht ein striktes Prognosemoratorium der einzige, seriöse Ausweg?
Nein, sagt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Wir können die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft doch in dieser kritischen Phase nicht alleine lassen, ergänzen die Wirtschaftsforschungsinstitute im geschlossenen Chor. Irgendeiner muss doch die Sichtachsen durch die Nebelwand schlagen. Und irgendeiner muss doch den Mut haben, eine klare, wissenschaftliche Sprache zu sprechen, wo sonst nur Spekulation und Vermutung regieren würden.
Botschaft vom Prognose-Olymp
Doch Hand aufs Herz! Ist das, was da aus Wiesbaden von den „Fünf Weisen“* vor wenigen Tagen an Botschaften verkündet wurde, wirklich die schonungslose Wahrheit über das, was uns erwartet? Ist das die klare Sprache, die unser Bewußtsein für das Kommende wappnet? Im Kleingedruckten, versteckt auf den rd. 550 Seiten des sperrigen, zahlengesättigten Gutachtens, finden sich tatsächlich einige markante Warnungen, z.B. im Zusammenhang mit der begrenzten Schuldentragfähigkeit öffentlicher Haushalte oder zu den beträchtlichen Gefahren einer weiterhin zumindest in wesentlichen Teilen ausgesetzten Insolvenzantragspflicht. Selbst zur ausufernden Gelddruckerei der EZB und zum staatlich verordneten Strukturbruch in der Automobilindustrie finden sich einige, wenn auch verklausulierte Anmerkungen.
Entscheidend jedoch sind die Kernaussagen in der Pressezusammenfassung bzw. in der Summary. Was sich dort findet, verdeckt das wahre Ausmaß der Krise und lässt hinsichtlich des Ausblicks auf 2021 und 2022 eine Fülle von Fragen offen. Eisern halten die „Fünf Weisen“ am eingängigen Bild der „V-Kurve“ fest.** Unter dem Motto: Klar, die Wachstumskurve zeigt momentan coronabedingt abwärts, aber schon bald wird es wieder steil aufwärts gehen. Noch hängt die Dämmerung über der Szenerie, aber die Wachstumskräfte der Digitalisierung und des „ökologischen Umbaus“ zeigen allerorten bereits Wirkung und lassen die Konjunktur wieder nach oben schnellen.
Was vor allem fehlt, sind Aussagen zu den gefährlichen Unterströmungen der Krise bzw. zu den drohenden „Zweitrundeneffekten“. Wie wirkt sich der Doppelschlag – Corona und das „Aus für den Verbrenner“ – auf das Herzstück des Industriestandorts Deutschland, die Automobilindustrie, aus? Wie wirkt sich die Kombination aus Nullzins und Insolvenz-Rückstau und die sich daraus ergebende „Zombifizierung“ von Teilen der Wirtschaft auf die Liefer- und Wertschöpfungsketten aus? Welche nachhaltigen Folgen für die Konsum- und Investitionsneigung haben die wiederholten Lockdown-Maßnahmen? Was bedeutet das erratische Schwanken zwischen Stop und Go für den empfindlichen Organismus unserer hochgradig vernetzten Volkswirtschaft?
Entwarnung!
Wer die einschlägigen Zeilen liest, merkt sofort, wie sehr sich der SVR um Entwarnung bemüht. Wie penibel er darauf bedacht ist, vorhandene „Pessimismen“ nicht zu verstärken. Und wie wichtig es ihm ist, die verbale Krisendämpfung aus dem Bundeswirtschaftsministerium und die markante „Durchbruchs-Rhetorik“ des Bundesfinanzministers („Bazooka“, „Wumms“ etc.) nicht zu kontakarieren. Die zwei Damen und drei Herren aus Wiesbaden sind Experten ihres Faches und wollen – wer will es bestreiten – ihrer Expertise Gehör verschaffen, aber – und das ist ebenso unübersehbar – in erster Linie wollen sie beruhigen, den Bürgern Existenzängste nehmen und eine als alternativlos erkannte Corona-Eindämmungs-Politik „wissenschaftlich“ flankieren.***
Aber wenn das so ist und viele Indizien sprechen dafür: Steckt die wissenschaftliche Prognostik damit nicht in einem unauflöslichen Dilemma? Einerseits hoher wissenschaftlicher Anspruch auf Objektivität und klare Sprache, andererseits aber der selbst auferlegte Zwang, mögliche Negativentwicklungen nicht durch zu deutliche Worte zu verstärken, weil am Schluss könnte ja die Abwärtsspirale im Zuge einer „Self-Fulfilling-Prophecy“ sogar noch stärker zum Rotieren gebracht werden?
Erwartungsmanagement
Wer sich auch nur ein bißchen in die Lage der Prognostiker versetzt, kann den öffentlichen Druck unter dem die Akteure stehen, sicher gut nachvollziehen. Die Überbringer schlechter Botschaften mussten in früheren Zeiten harte Leibesstrafen befürchten, wenn sie am Ende ihres Botengangs nur über Niederlagen oder gescheiterte Projekte berichten konnten.
Selbstverständlich unterscheidet sich die zeitgenössische Prognostik gravierend z.B. von der mittelalterliche Astrologie oder der sinistren Hellseherei des Jahrmarkts. Allein schon ihre ausgefeilte Methodik und ihr planvolles Forschen machen sie zu einer echten Wissenschaft. In ähnliche Dilemmata kommt sie aber dort, wo sie mit fest gefügten, klar kommunizierten „Erwartungen“ konfrontiert wird und wo sie befürchten muss, selbst Teil des (prognostizierten) Problems zu werden.
Datenauswahl?
Dass solche Zielkonflikte auch am anderen Ende des Erwartungshorizonts entstehen können, belegt die aktuelle Debatte über die Corona-Prognostik. Hier geht es vor allem um die Frage der richtigen Datenauswahl bzw. der geeigneten Datenhierarchie. Die Experten, in diesem Fall nicht ökonomischer, sondern virologischer Provenienz, nutzen ebenfalls eine ganze Palette von wissenschaftlichen Prognoseverfahren und ihre einschlägige Expertise steht ebenso außer Frage. Als zentrale Akteure der Krisenbekämpfung erleben sie ihre Rolle aber nicht als professionelle Beruhiger, sondern im Gegenteil als professionelle Beunruhiger.
Die Gretchenfrage hier lautet: Wie bringe ich viele Millionen Menschen dazu, die vorgegebenen Corona-Regeln einzuhalten. Wie bringe ich ganze Populationen dazu über Monate hinweg Kontakte zu beschränken, die Wohnung möglichst nicht zu verlassen, Freizeitaktivitäten einzustellen und wo immer möglich Maske zu tragen? Sicher nicht, in dem regelmäßig die rückläufige Hospitalisierungsquote von Covid-19-Infizierten betont wird oder immer wieder öffentlich herausgestellt wird, dass zwar die Zahl der Corona-Kranken auf Intensivstationen angestiegen ist, aber die Zahl der insgesamt belegten Intensivbetten seit Wochen in etwa gleich bleibt. Sondern eher dadurch, dass die hohe Anzahl der „Positiv-Getesteten“ als „Mutter aller Zahlen“ in den Mittelpunkt gerückt wird.
Viel positiver Input
Was heißt das für die wissenschaftlichen Politikberatung? Kann sie aufgrund ihrer Einbettung in vorgegebene Umgebungsbedingungen und unter dem Einfluß politischer Erwartungen realistischerweise überhaupt Durchschlagendes bewirken? In vielen, auch historisch belegbaren Fällen hat die Erdung politischer Entscheidungen durch wissenschaftliche Expertise positive Weichenstellungen begünstigt oder problematische Entscheidungsblockaden aufgebrochen. Man denke nur an die Freiburger Schule des Ordoliberalismus, die den Weg in die „soziale Marktwirtschaft“ geebnet hat oder die diversen politikwissenschaflichen Thinktanks, die in den 60er Jahren den Weg für die Entspannungspolitik zwischen Ost und West geöffnet haben.
Prognostizieren für die gute Sache
Problematisch wird die Sache erst, wenn die wissenschaftliche Prognostik glaubt, sich möglichst bruchlos in den Dienst der einen „guten Sache“ stellen zu müssen. Beispielhaft seien hier die vorzeitigen Festlegungen vor allem US-amerikanischer Demoskopen auf eine unaufhaltsame „blauen Welle“ in den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen der Jahre 2016 und 2020 erwähnt. In beiden Fällen sagten fast unisono alle Prognostiker einen Kantersieg der demokratischen Kandidaten voraus. Nach der vorliegenden Auszählung fielen die Ergebnisse in den sog. Swing States jedoch nicht – wie flächendeckend vorhergesagt – deutlich zugunsten von Hillary Clinton (2016) oder Joe Biden (2020) aus, sondern waren ausnahmslos Ausdruck von gleich mehreren Kopf-an-Kopf-Rennen.
Angesichts dieser wiederholten prognostischen Unwucht müssen sich eine ganze Reihe von Prognoseinstituten die Frage gefallen lassen, ob am Ende nicht der Wunsch nach einer Abwahl des Amtsinhabers stärker war als das Bemühen um kritische Distanz und wissenschaftliche Objektivität.****
Prognostik am Scheideweg
Resümierend bleibt die Hoffnung, dass solche „Erfahrungen“ bei den tonangebenden Protagonisten, Prozesse des Nachdenkens und des Hinterfragens auslösen. Welche Rolle soll die wissenschaftliche Prognostik in Zukunft spielen? Welchen Stellenwert soll sie als autonome Instanz mit wissenschaftlichem Anspruch im politischen und gesellschaftlichen Kontext spielen? Soll sie ihr methodisches Handwerkszeug schärfen und ihre Unabhängigkeit offensiver einfordern, oder soll sie „Begleiter“ politischer Grundsatzbeschlüsse oder gar Motor für die Durchsetzung großer politischer Strömungen sein.
Zum Beispiel die Klimaprognostik scheint sich voll und ganz für die zweite Variante entschieden zu haben. Hier scheinen alle Vorhersage-Parameter mittlerweile unangreifbar und alternativlos. Zweifel an der These vom exklusiv menschengemachten Klimawandel werden nur noch ganz selten zugelassen und kommen deshalb auch in den gängigen Prognosemodellen so gut nicht mehr vor.
Nie sicher sein
Bei allem Verständnis für den „guten Willen“, der sich hinter solchen Falsifizierungstabus in beträchtlicher Zahl verbergen dürfte, bleiben erhebliche Zweifel am langfristigen Erfolg solcher Strategien. Vielversprechender scheint da eher der Königsweg der wissenschaftlichen Rationalität à la Karl Popper, der in seinen Publikationen immer wieder betonte, dass selbst in Stein gemeißelte „wissenschaftliche Systeme“ mit vermeintlich zwingender Empirie stets bereit sein müssen, ein Scheitern „an neuen Erfahrungen“ zu akzeptieren. Alles andere ist „Sterndeutung“ in zeitgenössischem Gewande und verkennt den großen Nutzen nüchterner und dezidiert unabhängiger Prognostik.
* Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wurde im Jahre 1963 gegründet, hat seinen Sitz im Haus des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden, besteht aus fünf Wirtschaftswissenschaftlern und veröffentlicht – neben Sondergutachten und Expertisen – einmal im Jahr (Mitte November) ein Jahresgutachten. Die Rekrutierung der „fünf Weisen“ erfolgt nicht wie ursprünglich geplant, durch Kooptation, sondern die Mitglieder des Rats werden von der Bundesregierung ausgesucht und vom Bundespräsidenten ernannt.
* *Die Konjunkturprognosen des SVR für Deutschland gehen allesamt von einem V-Kurven-Szenario aus. Der SVR erwartet bereits für das 4. Quartal 2021 ein komplettes Wiedereinschwenken in die Wirtschaftsleistung des letzten Vor-Corona-Quartals (4. Quartal 2019) (vgl. Gesamtbericht, S. 49f, Ziffer 58).
*** Volker Wieland (Mitglied des SVR): “ Wenn ein Unternehmen hört, es wird schlecht, dann investiert es unter Umständen nicht und verschärft damit möglicherweise die Rezession.“ sowie Monika Schnitzer (ebenfalls Mitglied des SVR): „Das Wetter reagiert nicht auf den Wetterbericht. Wenn wir aber was zur Wirtschaft prognostizieren, beeinflußt das unter Umständen das Verhalten der Menschen und der Wirtschaft. Das gilt es zu beachten.“ vgl. Interview in Berliner Morgenpost.
**** Auffällig ist, dass in den Auswertungen der Wahlbefragungen – trotz gegenteiliger Erkenntnisse – niemals ernsthaft versucht wurde, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein signifikanter Teil der Trump-Wähler aus Furcht vor der sozialen Stigmatisierung eine wahrheitsgemäße Aussage vermieden hat.