Konsens statt Kontrolle

Viele Millionen Individuen in großen Gemeinwesen aneinander zu binden bzw. zusammenzuhalten, gehört zu den größten Herausforderungen moderner Gesellschaften. Wer Grundrechte gewährt und Mitbestimmung aktiv fördert, muss sich immer wieder mühsam den tragenden Grundkonsens erarbeiten, ja erkämpfen. Dabei setzt der systemimmanente Pluralismus Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt zwingend voraus. – Was aber ist, wenn zentrale Institutionen in pluralistischen Systemen das Prozessuale der Meinungsbildung mißdeuten und den Konsens nicht ans Ende der Prozesses stellen, sondern ihn gerne schon ganz am Anfang aktiv „herbeiführen“ wollen? Geht das? Funktioniert das? Hilft das nicht sogar, um „unnötigen“ Dissens zu vermeiden und „der Wahrheit“ schon gleich in der Anfangsphase des demokratischen Diskurses zum Durchbruch zu verhelfen? Oder gehört der zivilisiert ausgetragene Dissens nicht doch zum Lebenselixier demokratischer Gemeinwesen?

Wer die politische Entwicklung unseres Landes in den letzten, sage wir 10 Jahren beobachtet hat, kommt unter den genannten Gesichtspunkten zu einem äußerst zwiespältigen Ergebnis. Zentrale Diskurse mit hoher Relevanz für die Zukunft der Republik litten genau unter dem oben beschriebenen Dilemma. Das heißt, vor allem der mediale Raum, der als Diskursraum für essentielle Debatten von überragender Bedeutung ist, erlebte in den vergangenen Jahren eine merkwürdige Form der Auszehrung. Trotz einer gewaltigen Medienvielfalt und trotz einer grundrechtlich abgesicherten Meinungs- und Pressefreiheit kam es auf wichtigen Debattenfeldern zu einer regelrechten Implosion des öffentlichen Diskurses.

Alternativloses debattieren

Beispielhaft lassen sich hier die Euro(-rettungs)-Debatte der Jahre 2010ff., die Migrationsdebatte der Jahre 2015ff., die jüngste Klima-Debatte und in ersten Ansätzen auch die aktuell laufende Corona-Shutdown-Debatte identifizieren. Ausnahmslos Debatten mit hoher Brisanz und hoher gesellschaftspolitischer Relevanz. Und ausnahmlos Sachverhalte und Gegenstände, die zwingend einer breiten, pluralen Auseinandersetzung auf allen wichtigen gesellschaftlichen Ebenen bedurft hätten.

Entgegen dieser Logik verkümmerten die entsprechenden Diskurse schon nach kurzer Zeit zu asymmetrischen, stark polarisierten Schwarz-Weiß-Veranstaltungen. Die breite Mehrheit vor allem der klassischen Rundfunk- und Printmedien entwickelte bereits unmittelbar in der Startphase der Erregungszyklen eine ziemlich festgefügte, politisch-moralisch gefärbte „Haltung“.  Das von der Bundesregierung , allen voran von der Regierungschefin selbst, ausgegegebene Diktum der „Alternativlosigkeit“ des eingeschlagenen Kurses wurde vielfach quasi bruchlos zur Marschroute der Berichterstattung  umgedeutet. Dabei wurden apodiktische Wendungen wie „Wenn der Euro stirbt, stirbt Europa!“ oder „Grenzen lassen sich nicht schützen!“ mehr oder weniger unhinterfragt in Schlagzeilen und Kommentierungen gegossen.

Ausgrenzungs-Semantik

Auf den außenstehenden Betrachter wirkte dabei vor allem der Umgang mit abweichenden Positionen zunehmend problematisch. Statt den Diskurs aufzunehmen und abzubilden, entwickelte sich sehr rasch so etwas wie eine Stigmatisierung abweichender Positionierungen. Das betraf beileibe nicht nur Einlassungen vom „Narrensaum“ des politischen Spektrums, sondern bezog in hohem Maße auch die Wortführer der eher gemäßigten Opposition mit ein. Die dabei eingesetzte Semantik war stets darum bemüht, eine klare, unmißverständliche Abgrenzung gegenüber dem Lager der Kritiker zu untermauern.

Flankiert wurde diese Abgrenzung in der Regel durch eine therapeutische, stark moralisierende Tonalität der Berichterstattung und der Kommentierung. Selbst vorsichtige Abweichler von der Generallinie wurden mit problematischen Vokabeln wie „Europafeinde“, „Fremdenfeinde“ oder „Klima-Leugner“ belegt. Statt der Suche nach dem besseren Argument dominierte allzuoft eine schlichte Schwarz-Weiß-Polarität, in der Grautöne kaum eine Chance bekamen. Eine differenzierte Betrachtung der oft sehr heterogenen Oppositionsgruppen fand insbesondere in der heißen Phase der Debatten nur selten statt.

Framing

Wenn man nach der Motivlage der einschlägigen Redaktionen, insbesondere aus dem Bereich der öffentlich-rechtlichen Medien, fahndet, trifft man leider nur selten auf ein entsprechendes Problembewußtsein. Vielerorts – und das belegen mittlerweile eine Fülle von medienwissenschaftlichen Untersuchungen* – empfinden sich professionelle Politikredakteure, vornehmlich aufgrund ihrer politischen Sozialisation, als Teil einer übergreifenden Interessengemeinschaft aus Politik, Kultur und Medien, deren Aufgabe es ist, den politisch-gesellschaftlichen Wandel aktiv mit voranzutreiben. Man fühlt sich als Teil eines großen Ganzen und möchte mithelfen bei der Konsensherstellung. Allein vor diesem Hintergrund sind markante „Argumentations- und Positionierungshilfen“, wie das berüchtige „Framing-Manual“ von Elisabeth Wehling überhaupt erklärbar.**

Manufacturing consent

Die alldem zugrundeliegende Strategie ist alles andere als neu. Sie geht zurück bis auf die erste Hochblüte der Massenmedien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als sich die technische Revolution der Hochleistungsdruckerpressen in einer gewaltigen Expansion medialer Kommunikation niederschlug. Damals – so Walter Lippman und Noam Chomsky – entstanden die ersten großen „Konsensfabriken“ auf dem Felde der „Public Opinion“. Riesige Meinungskonverter, in denen „artikulierte Minderheiten“ mit Hilfe von Agenda-Setting und professionellen „Drehbüchern“ öffentliche Meinung generierten.

Schon damals wurde klar, dass Gedanken(wahl)freiheit für breitere Schichten der Bevölkerung in der Regel nur die Möglichkeit bedeutet, zwischen einigen wenigen Ansichten auszuwählen, die von einer kleinen Gruppe öffentlich Redender und öffentlich Schreibender verbreitet werden. Diese Gruppe von Meinungsbildnern hatte schon damals das Privileg zwischen Diskutablem und Indiskutablem zu entscheiden und nötigenfalls Tabuzonen zu definieren, in denen bestimmte Äußerungen mit dem Makel der Amoral bzw. mit Schamgefühlen verkoppelt wurden.  Unter dem Motto: Das tut man nicht, das sagt man nicht – und wer es dennoch tut und sagt, verlässt die Zone des Zulässigen und riskiert die öffentliche Bloßstellung bzw. die Verletzung seiner „sozialen Haut“ (Elisabeth Nölle-Neumann). Das Resultat ist die berühmte Schweige-Spirale, das heißt, ein Zustand, in dem die breite Mehrheit, aus Furcht für die abweichende Meinung geächtet zu werden, ihre Meinungen verschweigt und über dieses „Silencing“ den Eindruck vermittelt, als sei die (verschwiegene) Gegenposition ohnehin chronisch in der Minderheit.***

Erfolgsverwöhnt

Dieses medientheoretisch allgemein anerkannte Prinzip tendiert in der kommunikativen Praxis zur Selbstverstärkung, vor allem dann wenn sich rasche Erfolge bei der Durchsetzung der (ver)öffentlich(t)en Meinung einstellen. Die hohe Erfolgsquote verleitet die medialen Akteure bisweilen sogar dazu, das Rezept als unschlagbare Allzweckwaffe im öffentlichen Meinungskampf zu überfordern. Die eingesetzte Dosis an polarisierender Semantik und das bisweilen völlig überzogene Framing erzeugen zunehmend Trotzreaktionen selbst bei denjenigen, die in vorangegangenen Erregungszyklen noch zustimmend genickt haben.

Zu hohe Dosis

In der analytischen Abwägung bleibt in jeden Fall ein zwiespältiges Gefühl beim Betrachter zurück. Die Methode der vorzeitigen Konsensbildung hinterläßt durch die Vermeidung kontroverser Diskurse lediglich eine Stabilitätsillusion. Die abweichenden Meinungen sind nicht wirklich verschwunden, sondern in der Regel in den Köpfen der Menschen nur zurückgestaut. Dieser Rückstau verschärft sich von einem defizitären Diskurs zum nächsten und zwingt die übereifrigen Konsensbildner zur Anwendung immer höherer Dosierungen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Diskurskanäle durch das prinzipiell anarchische Internet mit seinen „Social Networks“ alles andere als hermetisch sind. Das heißt, es kommt gerade an den neuralgischen Schnittstellen zwischen Print, Rundfunk und Internet immer wieder zu Irritationen bzw. zu offensichtlichen Widersprüchen. Anders gesagt: Die Debatten sind aus dem Blickwinkel der meisten etablierten Medien vermeintlich ausdiskutiert und abgeschlossen, keimen aber im Netz unkontrollierbar immer wieder auf.

Verstärker statt Kontrolleur

Auf der Negativseite der Medaille steht ohne Zweifel die stark reduzierte Kontrollfunktion der „vierten Gewalt“. Durch die enge Anlehnung großer Teile der Medien an die Regierungspolitik und die starke Neigung vor allem der Politik- und Wirtschaftsredaktionen nicht als kritisch distanzierter Kontrolleur, sondern als „Verstärker“ regierungsamtlicher Botschaften aufzutreten, mindert ohne Frage das Vertrauen der Bürger in die Neutralität und Objektivität der Berichterstattung. Der Anspruch „vierte Gewalt“ zu sein, leidet und schafft wachsende Reputationslücken in der öffentlichen Wahrnehmung.

Corona-Debatte

Inwieweit die beschriebene Methodik noch greift oder sich die Instrumentarien aufgrund der Überbeanspruchung bereits abgenutzt haben, wird der weitere Verlauf der aktuellen Corona-Debatte zeigen. Das Grundmuster der medialen Bearbeitung scheint sich zu wiederholen. Nach den ersten Wochen der relativen Einmütigkeit zwischen Sender und Empfänger polarisiert sich die Debatte zunehmend. Die Kritik am Shutdown und seinen Folgen nimmt zunehmend gereiztere Züge an und ruft ein buntes, zugleich aber auch verwirrendes Kaleidoskop an Oppositionsgruppen auf den Plan.

Neu hier ist die „flügelübergreifende“ Querfront von weit rechts bis weit links und die sehr unterschiedliche Motivlage der Protestierenden. Vor allem diese Heterogenität erschwert die klare Zielbestimmung der medialen Reaktion. Zwischenzeitlich scheint man sich in den meisten Redaktionen jedoch schon wieder auf spezifische  Abgrenzungsvokabeln verständigt zu haben.  Neben dem „Corona-Leugner“ ragt dabei vor allem der „Verschwörungstheoretiker“ hervor, der mittlerweile große Teile der oppositionellen Szenerie zu beherrschen scheint.

Beide Begrifflichkeiten lassen für den weiteren Verlauf der Debatte nichts Gutes erahnen, vor allem weil jetzt schon klar sein dürfte, das sich diese Zuschreibungen keineswegs nur auf die extremistischen Ränder der sich formierenden Oppositionsgruppen begrenzen werden. Wie bei den „Europafeinden“ und den „Klimaleugnern“ schwingt auch hier von Anfang an eine eindeutig polarisierende Tonalität mit, die wenig Spielraum für Differenzierungen eröffnen dürfte. Wie im Zusammenhang mit den drei vorangegangenen Groß-Debatten liegt offensichtlich auch hier das Interesse vieler Leitmedien auf einer  „Sprachrohrfunktion“ für regierungsamtliche Positionen und einer vorgezogenen Konsensbildung im Einklang mit der offiziellen Strategie. Diejenigen, die den Shutdown, seine Folgen und die Geschwindigkeit der Lockerungen gerne einem breiten offenen Diskurs zuführen würden, sind offensichtlich bereits jetzt schon spürbar in der Minderheit.****

Vertrauen zurückgewinnen

Angesichts der enormen Wucht der hereinbrechenden wirtschaftlichen und sozialen Krise wird sich zeigen, ob das eingeübte Konsentierungsmodell tatsächlich tragfähig genug ist, um zur inneren Stabilisierung der auseinanderdriftenden Gesellschaft beizutragen. Hoffnungsvoll stimmt die hohe Akzeptanz für die verfassungsrechtlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens und das in Jahrzehnten gewachsene ökonomische Stabilitätspolster in Deutschland.

Grundlegend ändern müsste sich in jedem Fall unser Herangehen an existenzielle politische Debatten. Die vielen abgebrochenen, nicht ausdiskutierten Diskurse der vergangenen Jahre haben unser Gemeinwesen sichtbar destabilisiert und es wird nach der Überwindung der großen ökonomischen Krise leider viele Jahre brauchen, um das verloren gegangene Vertrauenskapital wieder aufzubauen.

 

* Erwähnenswert ist hier vor allem eine wissenschaftliche Studie der Freien Universität Berlin aus dem Jahre 2010, in der sehr eindrucksvoll auf das „aktive“ politische Selbstverständnis des Politikjournalismus eingegangen wird.

** Bei dem sog. Framing-Manual von Elisabeth Wehling handelt es sich um eine von der ARD in Auftrag gegebene, 2017 erschienene, aber erst Anfang 2019 öffentlich bekannt gewordene Handreichung für interne Schulungen der Redakteure. Das Produkt wirkt streckenweise wie eine Gefechtsanleitung für den Kampf gegen den kritischen Zuschauer und hinterläßt bei der Lektüre ein ausgesprochen ungutes Gefühl im Blick auf den Neutralitätsanspruch öffentlich-rechtlicher Medien.  

*** vgl. hierzu u.a. Norbert Bolz: Die ungeliebte Freiheit, München 2010, S. 82ff.

**** Was die Kritik am Auftritt großer Teile der Medien im Zusammenhang mit der Corona-Debatte anbetrifft, sei hier vor allem der Medienwissenschaftler Professor Otfried Jarren erwähnt, der als emeritierter Professor der Universität Zürich und als Präsident der Eidgenössischen Medienkommission in diesem Kontext sehr scharf mit den führenden Leitmedien ins Gericht gegangen ist.