Lernen aus der Krise

Wir leben in fragilen Zeiten. Was früher entlang stabiler Traditionsketten vorherbestimmt schien, verliert am nebeligen Horizont von pulsierender Gegenwart und schwankender Zukunft zunehmend an Konturen. Spätestens seit Mitte der 80er Jahre liefert uns die moderne Soziologie für dieses Phänomen sogar einen passenden Begriff, nämlich den der „Risikogesellschaft“*. Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung lassen das Stehende verdampfen und setzen Entwicklungen in Gang, die mit zunehmender Entfernung zum Ausgangspunkt immer mehr Ungewißheit produzieren. Heruntergebrochen auf unsere unmittelbare Gegenwart drängen sich dabei gleich mehrere Fragen auf: Haben wir die Weichen in diesem Risikoumfeld richtig gestellt? Sind wir lernfähig genug, um einmal eingeschlagene Holzwege auch wieder zu verlassen? Oder haben wir den Rubikon bei den ganz großen Projekten nicht längst kilometerweit hinter uns gelassen?

Krisen sind – das belegen unzählige Beispiele aus der Geschichte – Hochburgen des praktischen Lernens. Handlungserfordernisse, die sich in Normalzeiten noch gefahrlos vertagen lassen, werden – wie in einem Brennglas – fokussiert und die Lösungsoptionen werden in kurzen Intervallen einem rigiden Stresstest unterzogen.

Lernkurve in der Krise

Im Rahmen der aktuellen Corona-Pandemie sind wir mitten in einem solchen Krisenmodus. Nicht nur bezogen auf einzelne Randbereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern flächendeckend in allen Teilen des Landes und Tag und Nacht transportiert über alle medialen Kanäle. In einem solchen Umfeld müsste die Lernkurve eigentlich steil nach oben laufen.

Dass das nur begrenzt gelingt, hat mit einem speziellen Phänomen des Krisenmanagements zu tun, das man als Pfadbindung bezeichnen könnte. Einmal getroffene Grundsatzentscheidungen zu Beginn der Krise – in diesem Fall, die flächendeckenden Lockdown-Maßnahmen –  werden trotz zunehmend unbefriedigender Resultate nicht revidiert, sondern stetig verlängert bzw. fortgeschrieben. Zwar werden im laufenden Prozess der Krisenbewältigung immer wieder abweichende Lösungsalternativen eingespeist. Diese dringen aber nur selten durch und werden in der Regel als nicht krisentauglich bzw. als zu riskant verworfen.

Pfadbindung

Was folgt, ist eine zunehmende Verschärfung des einmal eingeschlagenen Kurses, der sich getragen von einer massiven Eigendynamik, immer weiter hochschraubt. So reiht sich schließlich ein Lockdown an den anderen, zunächst als „Lockdown light“, dann als „Wellenbrecher-Lockdown“ und am Ende, wenn auch das nicht hilft, als „Mega-Lockdown“.  Alles eng fokussiert auf die Reduzierung von sog. Inzidenzwerten, die – entgegen weit verbreiteter Annahmen – keine „Erkrankungen“, sondern lediglich „Positivtestungen“ im Rahmen einer letztlich willkürlichen, nach Testhäufigkeiten schwankenden Personengruppe anzeigen und deshalb leider auch keine Aussagen über die akute Viruslast bzw. den Schweregrad der Infektionen liefern.**

Krise hinter der Krise

Problematisch dabei ist, dass wir aus dieser Perspektive zwar täglich neue „Corona-Statistiken“ in Übergröße vor uns sehen, aber – auch nach fast einem Jahr im Krisenmodus – immer noch nicht so richtig realisieren, was sich neben und hinter diesen Testergebnissen an sozialen und ökonomischen Verwerfungen auftürmt. Auch wenn wir derzeit das Gefühl haben, alle verfügbaren Ressourcen in die unmittelbare Virus-Eindämmung investieren zu müssen, sollten wir die Dimension der Krise hinter der Krise nicht unterschätzen. Die gewaltigen Problemgebirge, die sich da hinter den Kulissen auftun, werden uns – das ist sicher – noch über Jahre beschäftigen.

Ein durchgreifender Lerneffekt dürfte sich vermutlich erst einstellen, wenn wir am Ende die globalen Resultate der diversen Lockdown-Strategien vollumfänglich bilanzieren und die Debatte darüber eröffnen, ob wir dann immer noch bereit wären, weitere Mutationen oder weitere Virusvarianten à la Covid 20 oder Covid 21  mit dem gleichen Instrumentarium und unter den gleichen Prämissen zu bekämpfen.

Klimakrise

Ein weiteres, etwas anders gelagertes Risikofeld öffnet sich in den Bereichen Klima und Energie. Bis zum Ausbruch der Covid-Pandemie war die sog. Klimawende das eigentliche Megathema und wird es nach Corona wohl auch wieder sein. Dabei geht es – man beachte die gewaltige Dimension der Zielstellung – um nicht mehr und nicht weniger als um die Rettung des blauen Planeten. Die – so das klimapolitische Credo – nur erreicht werden kann, wenn es gelingt, das „Weltklima“ auf eine Erwärmung von 2 Grad Celcius gemessen am vorindustriellen Niveau „abzukühlen“.

Points of no return

Während sich die Debatte auf Seiten der Klimaretter vor allem um die Frage rankt, ob wir auf dem Weg Richtung Klimaapokalypse den Rubikon schon überschritten haben oder er noch vor uns liegt, geht es den wenigen Skeptikern vor allem darum zu klären, was die Klimawende für den ökonomischen Wohlstand und die Sicherheit der Energieversorgung bedeutet.

Im Zentrum dabei stehen ganz konkrete Fragen der Versorgungssicherheit, die sich aufgrund der forcierten Abschaltung von Atomkraftwerken und im Zuge des „Kohleausstiegs“ immer akuter stellen. Waren bis vor kurzem Blackout-Szenarien noch exklusiver Stoff dystopischer Science-Fiction-Romane, kommen die Einschläge in diesem Zusammenhang auch in der Versorgungswirklichkeit immer näher.***

Wende der Wende

Mindestens ebenso risikobehaftet wirkt der Umstieg auf die E-Mobilität. Hier fehlt es neben einer leistungsfähigen Ladeinfrastruktur, vor allem an Entsorgungskonzepten für die Batterieabfälle und an einem echten, marktgetriebenen Strukturwandel. Stattdessen wird ein radikaler Strukturbruch administrativ verordnet (EU-Emissionsgrenzwerte) und ohne Rücksicht auf Hunderttausende von Arbeitsplätzen, z.B. in der deutschen Kfz-Zuliefererindustrie, durchgesetzt.

Trotz der offensichtlichen Schwachstellen der sog. Energiewende ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir vor einer echten „Blackout-Krise“ die Prämissen unserer Energiepolitik verändern werden. Es wird aller Voraussicht nach ein Lernen aus dem Crash geben müssen. Dann sicher auch verbunden mit der Erkenntnis, dass man moderne Volkswirtschaften nicht ohne leistungsfähige Grundlastkraftwerke betreiben kann.

Geplatzte Blasen

Auf dem Felde der Geldpolitik zeichnen sich seit Jahren ähnliche Krisenszenarien ab. Exponentiell wachsende Zentralbankgeldmengen zur künstlichen Belebung vor allem der Kapital- und Immobilienmärkte. Riesenhafte Geldüberhänge in den Bilanzen der Geschäftsbanken und gewaltige Spekulationsblasen an den Börsen.****

Einen Börsenindex auf der Rekordmarke von über 14.000 Punkten (DAX) in der wohl tiefstes Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit kann man nicht ernst nehmen. Und Märkte, die sich kaum noch an volkswirtschaftlichen Fundamentaldaten oder betriebswirtschaftlichen Kennzahlen ausrichten, sondern fast ausschließlich an der Liquiditätsschwemme der Zentralbanken orientieren, sind anormal. Also alles wie vor der letzten Finanzkrise 2007/08, nur noch etwas schlimmer?  Ja, leider, möchte man sagen! Leider – trotz massiver Warnsignale – aus der Krise nichts gelernt und das Problem eher noch verschärft.

Prinzip Hoffnung

Also auch hier keine Hoffnung auf ein Lernen ohne neuerliche Krise? Keine Hoffnung auf ein rechtzeitiges Wendemanöver vor dem nächsten Crash? – Keineswegs! Nur Fatalisten glauben an das Schicksal der Ausweglosigkeit! Denn selbstverständlich gibt es auch hier alternative Konzepte, die keiner Mega-Krise bedürfen, um wirksam zu werden. Entscheidend wird sein, ob es gelingt die Kapitalmärkte schrittweise von der Droge des billigen Geldes zu entwöhnen. Das aufgehäufte Suchtpotential ist zwar enorm, aber auch harte Entwöhnungskuren sind möglich, wenn der Wille und die notwendige Einsicht dafür da sind.

Stellwerke aktivieren

Es ist also nicht ausgemacht, dass wir auf den beschriebenen Handlungsfeldern erst im echten Krisenmodus wirklich lernfähig werden. Und auch wenn es zu weiteren krisenhaften Zuspitzungen kommt, gibt es keinen Grund, warum wir diese Krisen erst bis zur bitteren Neige ausloten müssen, ehe die Kehrtwende gelingt. Unser Trumpf ist der offene Diskurs, der aus der Tiefe der pluralistischen Demokratien wächst. Solange wir bereit sind, eine offene Auseinandersetzung um die besseren Argumente zuzulassen, sind wir auch ohne Krise lernfähig.

Die großen Stellwerke demokratischer Systeme haben im Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition genug Potential, selbst hartnäckige Weichenstellungen unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse zu korrigieren. Dieses Kraft- und Reformpotential zu erhalten und dabei den freiheitlichen Diskurs zu schützen, wird die größte Herausforderung der nächsten Jahre sein.

* Der Begriff „Risikogesellschaft“ wurde von dem Münchner Soziologen Ulrich Beck geprägt und ist Titel eines seiner Hauptwerke, dass 1986 pünktlich zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erschien.

** Die Kritiker wiederholter flächendeckender Lockdowns mit hohen Streuverlusten und erheblichen Kollateralschäden plädieren i.d.R. für eine stärkere Fokussierung auf den Schutz vunerabler Gruppen, primär von Hochbetagten, die eindeutig die Hauptbetroffenen der Pandemie sind. Ende 2020 waren 88 % der Menschen, die an oder mit Corona verstorben sind über 70 Jahre. Aus den Reihen der Wissenschaft seien in diesem Zusammenhang der Virologe Hendrik Streeck, der ehem. stv. Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung und Entwicklung des Gesundheitswesens Matthias Schrappe der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Andreas Gassen , der Virologe Klaus Stöhr sowie das Corona-Expertengremium bei der NRW-Landesregierung erwähnt.

*** Der jüngste Beinahe-Blackout ereignete sich am 15. Januar 2021, als es im europäischen Stromnetz zum wiederholten Male zu massiven „Frequenzabsenkungen“ kam. https://www.focus.de/finanzen/energieversorgung-europa-schrammte-am-freitag-knapp-am-blackout-vorbei_id_12864728.html

**** Während die Zentralbankmenge Mo der EZB im Jahre 2008 noch bei rund 0.9 Bio € lag, dürfte das Niveau Mitte 2021 bereits bei 5 Bio € liegen.