Das Jahr 2020 wird – das steht vor seinem kalendarischen Ende bereits unabwendbar fest – definitiv als „Jahr der Angst“ in die Geschichtsbücher eingehen. Angst vor dem Virus, Angst vor der Pandemie, Angst vor der exponentiellen Kurve! Und spätestens seit klar wurde, dass das Virus sich in einer zweiten Welle noch einmal aufbäumen würde, mischt sich die Angst um die eigene Gesundheit mit einer wachsenden Angst um die eigene wirtschaftliche Existenz und die soziale Kohäsion in unserer Gesellschaft! – Was passiert da gerade mit uns? Haben wir – abgesehen von den medizinischen und finanziellen Ressourcen – überhaupt die notwendigen mentalen Reserven, um uns gegen das Virus der Angst zu wappnen? Oder anders: Haben wir ausreichend Mut-Reserven, um den Angst-Überschuss zu kompensieren? Kann uns ein Blick in unsere eigene Geschichte, in die nahe und die ferne, Hilfestellung beim Meistern des aktuellen Geschehens bieten?
Anthropologisch betrachtet, ist der moderne Mensch als fragiles Kunstgebilde der Evolution von Beginn seiner Existenz an vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Als Bewohner einer exzentrischen Kugel ohne Dach und ohne festes Fundament in einem unendlichen Dunkel musste Homo sapiens von Kindesbeinen an lernen, mit der Gefahr zu leben. In der Wildnis der Vorzeit genauso wie in den ruralen Gesellschaften danach waren manifeste Gefahrenquellen allgegenwärtig: Wilde Tiere, räuberische Horden, krankheitserregende Mikroben und seit der Mensch seßhaft wurde und begann Felder zu bestellen, war es die zyklisch wiederkehrende Geißel der Mißernte, die uns um den Schlaf brachte.
Gefahren und Risiken
Immer schon, bei all dieser Unbill, tat sich der Mensch – trotz seiner „übernatürlichen“ Intelligenz – schwer zwischen Gefahr und Risiko zu unterscheiden. Selbst die schlichte Tatsache, das es überhaupt zwei verschiedene Dinge sind, die uns hier begegnen, wollte uns nie recht einleuchten. Die Erkenntnis, dass man Gefahren durch ruhiges, abwägendes Kalkül in beherrschbare Risiken verwandeln kann, ist selbst über die Jahrtausende hinweg nur in wenigen Nischen hinlänglich gereift. Der stress-gesteuerte, halbnackte Steinzeitler lebt auf spektakuläre Weise in uns fort und wenn wir ehrlich sind, hocken wir an zentralen Wegmarken unseres Lebens immer noch schweißgebadet im hohen Gras und halten – statt ruhig abzuwägen und Wahrscheinlichkeiten zu berechnen – das nahende Geräusch regelmäßig für den sprungbereiten Säbelzahntiger.
Vorsicht kann Leben retten
Also nur falsche Disposition? Ein Programmierfehler der Evolution? – Nein! Das wäre zu einfach! Angst kann – wenn sie als Vorsicht daherkommt – beeindruckend nützlich sein. Wer in seinem Leben das hohe Privileg genießen durfte, Kinder zu erziehen, weiß, wie wichtig es sein kann, dem Nachwuchs Vorsichtsmaßregeln mit auf den Weg zu geben. Kindliches Ungestüm braucht Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch kluge Grenzziehungen, um gefahrgeneigte Situationen rechtzeitig antizipieren und entschärfen zu können.
Angstgesättigte Schuldgefühle
Problematisch wird es – und auch das wissen die, die Kinder erziehen – wenn die sprichwörtlich kindliche Angst vor der Dunkelheit im Erziehungsprozess bewußt und gezielt verstärkt oder gar für unlautere Zwecke instrumentalisiert wird. Wenn also – was über Jahrtausende hinweg geschah – die pädagogische Unterweisung durch die Implementierung angstgesättigter Schuldgefühle fehlgesteuert wird. Man muss gar nicht in die Untiefen des alttestamentarischen Christentums, in die Sündennarrative anderer „Hochreligionen“ oder ins Freudsche Unterbewußte eintauchen, um zu erkennen, wo außerhalb von Natur und schlichtem Leben, Angstquellen lauerten und immer noch lauern.
Gott sei Dank sind wir heute, was die Allgegenwart des strafenden Gottes oder seines hinkefüßigen Antipoden anbetrifft, ein ganzes Stück weiter. Die Sündenstrafen, die uns religiöse Heilsbringer über Generationen hinweg immer wieder dräuend vor Augen geführt haben, sind im langen, schmerzhaften Prozeß der Säkularisation weitgehend aus unseren Köpfen verschwunden. Der dunkle Schatten des zürnenden Gottes, der alles sieht und nichts verzeiht und der jahrtausendelang auf den Seelen einer verschreckten und gebeugten Menschheit lastete, wurde von uns genommen und unser Seelenleben von einer riesigen Bürde aus Angst und Schuld befreit.
Extremismen im Praxistest durchgefallen
Ebenso befreit haben wir uns von den politischen Religionen der Neuzeit* – das heißt von den modernen Erscheinungsformen der Phobokratie. Das blutige Lehrgeld, das vor allem der europäische Teil der Menschheit im 20. Jahrhundert im „Zeitalter der Extreme“ gesammelt hat, war einerseits unendlich schmerzhaft, andererseits aber auch unheimlich lehrreich, vor allem was die Einsicht in die modernisierten Instrumente der Angstherrschaft angeht. Die Nachkriegsdemokratien sind in Aufbau und Struktur allesamt Lernresultate aus dem Praxishandbuch des Extremismus. Lernende Systeme im Kontrast zu einer Gegenwelt, in der die Instrumente der professionellen Angsteinflößung quasi perfektioniert wurden und in der riesige Sicherheitsapparate nicht allein dazu dienten Opposition aufzuspüren oder Bürger auszuspähen, sondern schlicht und einfach um Angst zu verbreiten und einzuschüchtern.
Mut-Reserven mobilisieren
Genau hier müssten unsere Mut-Reserven andocken. Wer es schafft, das Joch einer schuld- und angstzentrierten Religiosität abzustreifen und wem es darüber hinaus gelingt, die dunklen Irrwege des politischen Extremismus zumindest weitgehend hinter sich zu lassen, der muss sich geradezu zwingend ermutigt fühlen. Rechts- und Verfassungsstaaten, in denen Machtballung durch Gewaltenteilung vorgebeugt wird und in denen das Recht auf Meinungsfreiheit zu den höchsten Verfassungsgütern gehört, haben ihre Lektion gelernt. Und wer in solchen kunstvollen Gebilden leben darf, ist – da genügt ein Blick auf die Weltkarte der Autokratien – unendlich privilegiert.
Freiheitsbäume gießen
Immer jedoch, wenn es um hart erkämpfte Privilegien geht, ist der reine Genuß dieser Privilegien quasi systemimmanent verboten. Freiheiten sind zarte Gewächse, die aber nicht in Ziergärten gedeihen, sondern auf dem trockenen Acker, wo die Pflänzchen nur dann überdauern, wenn sich aktive Gärtner permanent um sie kümmern. Gefragt sind hier nicht nur einige Wenige, die von Amtswegen gärtnern, sondern im Grunde wir alle. Denn so schön und beruhigend es ist, die Früchte der Freiheit genießen zu können, so unabdingbar notwendig ist es auch sich beim Hegen der Freiheitsbäume zu engagieren.
Selbstverantwortung!
Runtergebrochen auf die aktuelle Pandemielage heißt das schlicht und einfach: Verantwortung übernehmen! Sich nicht allein auf „Vater Staat“ verlassen, sondern das untrennbare Pendant der individuellen Freiheit, nämlich die Selbstverantwortung, in beide Hände zu nehmen und dabei sich und andere – ohne auf Verbotsanordnungen zu warten – so gut wie möglich zu schützen bzw. zu unterstützen. Die Bewältigung der Pandemiekrise geht uns alle an. Eine reine Delegation an „die da oben“ ist nicht erlaubt, weil die Lösung liegt nicht – das wird immer offensichtlicher – in einem Dschungel aus Verboten, Restriktionen und Sanktionen, in dem die Mehrheit der „Vernünftigen“ viel härter getroffen wird als die kleine Minderheit der „Unvernünftigen“, sondern in einem starken Willen zur Eigenverantwortung.
Mut zum Erwachsenwerden
Das setzt vor allem den Mut zum Erwachsensein voraus**. Zu gelassen und zu widerstandslos haben wir in den zurückliegenden Jahren eine Tendenz zur Infantilisierung unserer Gesellschaft zugelassen. Wir haben uns, um es kurz zu fassen, zu oft und zu freigiebig unseren individuellen Gefühlen und Affekten hingegeben. Wir haben Kinder sprechen lassen und ihre Botschaften wie Offenbarungen von ganz oben mißverstanden.
Das Dilemma dabei ist, dass Erwachsene wie Kinder handeln oder sich wie Kinder behandeln lassen, wenn sie fühlen, statt zu denken, wenn sie sich nur noch rühren oder ängstigen lassen, statt nüchtern zu kalkulieren und unangenehmen Tatsachen offen ins Auge zu sehen. Wenn jedes Problem primär als Gefühlsstörung empfunden wird und jede Lösung nur daran gemessen wird, ob sie bei uns ein gutes Gefühl – gepaart mit einem guten Gewissen – hinterlässt, bleibt beinahe jedes rationale Argument und natürlich auch der Antrieb zur Selbstverantwortung weitgehend auf der Strecke.
Was wir brauchen, um die aktuelle Krise zu bewältigen und schließlich auch noch aus ihr zu lernen, ist die befreiende Erkenntnis, dass uns zukünftig nur eine Neujustierung unserer politischen Kultur wirklich weiterhilft. Was wir brauchen, ist ein politisches und gesellschaftliches Umfeld, in dem Erwachsene mit Erwachsenen kommunizieren. In dem Politik, nicht denjenigen recht gibt, die laufend neue Untergänge und Apokalypsen prophezeien, sondern diejenigen unterstützt, die mit Mitteln des Verstandes und der moderne Technik aktiv nach Lösungen für die Probleme von Gegenwart und Zukunft suchen. Nur wer die unvollkommenene Welt und das endliche Leben darauf als ständige Herausforderung eines optimistischen Pragmatismus bejaht, kann Krisen, wie die aktuelle Pandemiekrise oder die Herausforderungen eines nachhaltigen Umweltschutzes, wirklich meistern.
Freiheit von Angst
Der zweifellos wirkungsmächtigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika im 20. Jahrhundert, Franklin D. Roosevelt, hat es in seiner berühmten „Four Freedoms-Rede“ vom 6. Januar 1941 der Menschheit unmißverständlich ins Stammbuch geschrieben: Neben der Meinungsfreiheit, der Bekenntnisfreiheit und der Freiheit von Not, bedarf es unabdingbar auch einer Freiheit von Furcht, um handlungs- und lebensfähige Gesellschaften zu schaffen. Angst ist nicht nur ein miserabler Ratgeber, sondern gehört unabweisbar auch zu den Affekten, mit denen sich weder dauerhaft Staat machen noch sozial integrieren lässt.
Auch in einer Krise, in der alles über uns zusammenzustürzen scheint, helfen nur Mut und Zuversicht, nicht Angst und Verzagtheit. Helfen wir uns selbst, verwechseln wir nicht das eigene Wohlgefühl mit dem Gemeinwohl und bleiben wir auf der Hut, wenn es darum geht unsere großartige Rechts- und Verfassungsordnung vor Übergriffen zu schützen und zu bewahren. Das Virus kann uns nicht besiegen, wenn wir zusammenstehen, unseren Verstand gebrauchen und unseren Mut als freie Bürger nicht verloren geben. Versuchen wir´s! Es lohnt sich!
* Das dicht bestellte Feld der politischen Religionen (Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus) hat seine eigentlichen historischen Wurzeln in der Französischen Revolution, die zwar die Aufhebung monarchisch-aristokratischer Gewaltherrschaft brachte, aber schon nach kurzer Zeit in die noch viel heftigere Angstherrschaft des jakobinischen Terreur mündete. An die Stelle der alten Oligokratie trat eine neue Nomenklatura, die zwar behauptete aus dem Volk hervorgegangen zu sein, die aber noch um Grade autokratischer und gewalttätiger agierte, als das ancien regime.
** Wichtige Hinweise und Hintergründe zu dieser Thematik liefert Alexander Kissler in seinem aktuellen Buch „Die infantile Gesellschaft – Wege aus der selbstverschuldeten Unreife“, Hamburg 2020.