Meine Schublade, deine Schublade

Wer in diesen Tagen eine Weile unvoreingenommen auf unsere Debattenlandschaft schaut und inmitten des ganzen Lärms und des aufgewirbelten Staubs einen Moment lang innehält, der kriegt es unweigerlich mit der Angst zu tun. Statt Diskussion, Austausch von Argumenten und notwendiger Differenzierung entladen sich ganze Litaneien von Pöbeleien, Schuldzuweisungen und Verwünschungen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich! Wer meine Wahrheit nicht vollumfänglich teilt, ist draußen. Die Wahrscheinlichkeit bei der Artikulation eines bestimmten Buzzwords, beim Vertreten einer abweichenden Meinung automatisch und ohne Umwege in eine Schublade gesteckt zu werden, war selten so groß, wie in unserer aufgewühlten, hyperventilierenden Gegenwart. – Was ist da los? Sind wir übergeschnappt? Was passiert, wenn man jedem Gesprächspartner, kaum hat der Wortwechsel richtig begonnen, reflexhaft einen Stempel aufdrückt? Hört das wieder auf? Kommen wir da wieder raus?

Einfach gesagt: Wohl nur noch mit ganz viel Mühe und wahrscheinlich nur mit fremder Hilfe! Denn die fortschreitende Hysterisierung der Debattenszene, das heißt die automatisierte Schubladisierung fast aller Debattenbeiträge und fast aller Meinungsäußerungen, ist längst zu einem manifesten Phänomen unserer politischen Kultur geworden. Einem Phänomen, dass sich sprunghaft in fast allen wesentlichen Debattenräumen ausbreitet und dass immer heftiger um sich greift.

Schubladen als Blasen

Sichtbar, ja hautnah erlebbar wird das vor allem bei einem Blick in die sog. „sozialen Medien“. Sie sind, wenn man so will, zu den großen Exerzierfeldern des modernen Schubladen-Denkens geworden. Für dieses prinzipiell eigentlich anarchisch organisierte Feld hat sich mit dem Begriff der „Blase“ zwar ein anderer Terminus technicus etabliert, aber der Modus ist in beiden Fällen fast deckungsgleich. Was man in analogen, sprich prä-digitalen Zeiten in einem Möbelstück verwahrte, findet heute seinen Platz auf digitalen Prozessoren und was in früheren Tagen als „Kreisen um sich selbst“ oder als „Schmoren im eigenen Saft“ beschrieben wurde, heißt heute  „Filterblase“ oder „Echokammer“.

Echokammern

Auch in den digitalen Blasen hört man in der Regel keine fremden Stimmen, sondern nur ein Echo der eigenen Stimme, mit dem nicht ganz unmaßgeblichen Unterschied, dass die „Selbstgespräche“ im Netz quasi unablässig „mitgehört“ und von den Mitbewohnern der Echokammern nicht face-to-face retourniert, sondern per „Like“ geteilt werden. Das heißt: Alles was nicht in die eigene digitale Blase passt, wird entweder „gedisst“ oder schlicht gelöscht. Oder noch deutlicher: Unzählige Klausner an ihren PCs oder Smartphones bleiben in ihren „Gedankenfestungen“ unter sich und lassen zu, dass ihre Echoräume nicht aus Neugier geweitet, sondern mit Hilfe von Algorithmen abgeriegelt werden.

Gut-Böse-Polarität

Um wirklich verstehen zu können, was sich hier tatsächlich abspielt, reicht es jedoch nicht aus nur an der (digitalen) Oberfläche zu kratzen. Denn hinter der Anarchie der Blasen-Welten verbirgt sich etwas noch bedeutsameres, etwas noch grundlegenderes, das sich in seiner akuten Form – parallel zur Entwicklung des Internets – ebenfalls erst in den letzten 10 bis 15 Jahren voll entfaltet hat. Gemeint ist die Aufspaltung der Welt in eine merkwürdig kompromisslose Polarität aus Schwarz und Weiß bzw. Gut und Böse. Eine Polarität, die kaum noch Grautöne kennt und sich anschickt, die Welt der Debatten in eine Welt des Sagbaren und des Unsagbaren zu spalten.

Ost-West-Konflikt

Die Älteren von uns dürften sich bei dieser Zeitdiagnose an die Auswüchse der Blockkonfrontation der Nachkriegsjahrzehnte erinnern, wo die weltanschaulich getriggerte Unversöhnlichkeit zwischen Ost und West entlang des Eisernen Vorhangs ähnliche Dimensionen erreichte. Auch hier ging es um Sprachlosigkeit über Grenzen hinweg und weltanschauliche Echokammern hinter hohen Mauern.

Was jedoch damals nach der Kuba-Krise Anfang der 60er Jahre mit Hilfe von „Entspannung“ und „Wandel durch Annäherung“ schrittweise und friedlich überwunden werden konnte, entwickelt sich in der aktuellen „Blockkonfrontation“ anscheinend stetig weiter auseinander. Statt Detente, KSZE und statt einem stetigen Bemühen um Abrüstung beobachten wir weitere, vor allem verbale Aufrüstung, schrilles „Cancel Culture“ und keinerlei erkennbare Bereitschaft zur Vermittlung.

Haltung statt Vermittlung

Im Gegenteil: Selbst dort, wo man es eigentlich besser wissen müsste, zum Beispiel in den Redaktionen der großen Medienhäuser, überwiegt der konfrontative Impuls. Nur wenige Politik- und Feuilleton-Redakteure wollen Brückenbauer sein oder einen Beitrag zu Entpolarisierung der Debatte leisten. Das alles dominierende Stichwort hierbei lautet „Haltung“, das heißt in letzter Konsequenz unmißverständliche Parteinahme für eine eher linke, stark durchgrünte Weltsicht, in der Kritik an „alternativlosen“ Entscheidungen zunehmend konfrontativ mit Vokabeln wie „Klimaleugner“, „Europafeind“, „Fremdenfeind“ oder „Verschwörungstheoretiker“ gekontert werden.

Dass diese wenig zur Differenzierung und kaum zur Entspannung beitragenden Politvokabeln in immer kürzeren Intervallen den politischen Raum erobern, läßt für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Zu offensichtlich werden auf diesem Wege immer größere Gruppen von Menschen politisch ausgegrenzt bzw. aus dem Diskursraum verdrängt. Mit gefährlichen Folgen für die politische Stabilität und den inneren Zusammenhalt vor allem der westlichen Gesellschaften.

Wille zur Selbsthilfe

Orientiert an unserer Ausgangsfrage müssen wir uns immer wieder selbst prüfen, welchen Beitrag wir zur Entschärfung der konfrontativen Szenerie leisten können. Vor allem deshalb, weil die oben erwähnte konstruktive Hilfe von außen leider weit und breit nicht zu sehen ist. Zudem dürfte die sich Corona-Shutdown-bedingt auftürmende Wirtschaftskrise den Spannungszustand in den nächsten Monaten eher noch verschärfen. Das heißt, wenn der in weiten Teilen von Medien und Öffentlichkeit tobende „Kulturkampf“ auch noch durch akute „Verteilungskämpfe“ überlagert wird, drohen instabile Zustände, wie wir sie lange in Europa und in der westlichen Welt nicht mehr erlebt haben.

Striktes Differenzierungsgebot

Wichtig und unerläßlich für die nähere Zukunft wäre zumindest ein erster Einstieg in die Überwindung des Schubladen-Denkens. Das geht nur über strikte Differenzierung und die Erkenntnis, dass die Verabsolutierung von „Wahrheiten“, vor allem wenn sie politisch-weltanschaulich konnotiert sind,  stets in der Sackgasse endet. Das Schicksal der betroffenen Völker im Würgegriff der „politischen Religionen“ des 20. Jahrhunderts sollte uns Mahnung genug sein.

Mut zum Selbstdenken

Lassen wir uns nicht ein auf das Spiel der Radikalen und ihrer Wortführer. Am Ende liegen wir zwar alle wohl sortiert in festen Schubladen oder tanzen im äußersten Fall sogar als wehrhafte Stämme um bunte Totempfähle, haben uns aber über die Stammesgrenzen hinweg buchstäblich nichts mehr zu sagen. Gedankenfestungen mit hohen Schutzwällen und ohne Zugbrücke auf einsamen Bergrücken sind blendend anzusehen, aber kein Domizil für Selbstdenker und aufgeklärte Zeitgenossen.

Lassen wir es nicht zu, dass wir in analogen Schubladen oder in digitalen Blasen verschwinden, sondern haben wir – frei nach Kant – den Mut, uns des eigenen Verstandes und der eigenen Intuition zu bedienen. Denn nichts ist spannender als das Ringen um die besseren Argumente im fairen Wettstreit mit Andersdenkenden.