Abweichende Meinungen auszuhalten, ist oft schwer. So schwer, dass der Wunsch nach diskursivem Gleichklang selbst in belebten Debattenräumen immer wieder hörbar zu vernehmen ist. Was nutzt es uns zu argumentieren, wenn der Andere eh nicht zuhört? Oder: Was bringt es Andersdenkende zu dulden, wenn wir sie am Ende doch nicht überzeugen können? – Dass die Meinungskorridore in den letzten Jahren deutlich enger geworden sind, kann niemand ernsthaft bestreiten. Warum das so ist und was wir dagegen tun können, ist schon deutlich umstrittener. Hier ein erneuter Versuch der Annäherung an mögliche Antworten.
Wer in den letzten Tagen einen tieferen Einblick in die akute Misere der innerdeutschen Debattenkultur gewinnen wollte, musste lediglich die TV-Fernbedienung betätigen und sich ein sogenanntes „Triell“ anschauen. Wie von unsichtbarer Hand eingeebnet und sediert, wurden hier Debatten nicht wirklich geführt, sondern vielfach über endlose Stunden hinweg lediglich simuliert.*
Samtene Trielle
Von Anfang erkennbar, wollte keiner der Kontrahenten dem anderen auch nur ein bißchen weh tun. Die Argumente flogen fast die kompletten Sendezeiten hindurch wie Watteböschen durch die Studios und waren auf merkwürdige Weise austauschbar. Wie aus einem Satzbaukasten entnommen und wie durch mehrere enge Filter „gereinigt“, wanderten die Wörter zähflüssig zwischen den Pulten hin und her. Selbst die Moderatoren wirkten von Anfang an irgendwie gebremst und stets bemüht, die Gäste bei ihren eingeübten Rollenspielen nicht zu stören.
Buzzword-Alarm
Eine brauchbare Erklärung für diese merkwürdigen Trockenübungen lässt sich nur finden, wenn man vorab noch einmal den lamentablen Allgemeinzustand unserer politischen Debattenräume in den Blick nimmt. In kaum einer zentralen Gretchenfrage unserer politischen Zukunftsgestaltung schaffen wir es mehr, offen und ohne den Hemmschuh moralischer Aufladung, zum eigentlichen Kern der Sache durchzudringen. Sobald bestimmte Buzzwords oder auch nur einzelne, an sich harmlose Trigger-Words fallen, ist die Debatte abrupt beendet.
Diese bittere Einsicht gilt mittlerweile leider für fast alle politischen Schlüsselthemen unserer Gegenwart: Für Themen wie Klimawandel, Energiewende und E-Mobilität genauso wie für Themen wie Migration, Gender oder Diversität. Und letztlich auch für essentielle Grundrechtsdebatten, für den Corona-Komplex oder für bereits etwas abgenutztere Dauerthemen wie die Europäische Integration.
Haltungsnoten
Statt hartnäckig um das bessere Argument zu ringen oder gezielt nach neuen Erkenntnissen zu suchen, geht es vor allem um das Bestätigen bzw. Untermauern von „(Erwartungs-)Haltungen“. Eine besondere Rolle in diesem Kontext spielen die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender, aber auch große Teile der privaten Printmedien, die in einer Art Dauerschleife Tag und Nacht versuchen ihre schrumpfende Zuhörer-, Zuseher- oder Leserschaft – in beinahe therapeutischer Absicht – auf den richtigen Weg zu bringen.
Die wichtigsten Exponenten in diesem Spiel sind die Redakteure und Journalisten, die am Hebel der Themen- und Expertenauswahl sitzen und sich nur noch selten als Berichterstatter und neutrale Beobachter, sondern viel häufiger als Aktivistinnen und Aktivisten einer politischen Idee empfinden. Die alte Leitmaxime, sich als Journalist keinesfalls mit der Sache über die man berichtet, „gemein zu machen“, wird immer öfter ignoriert oder gar als verzopfter Anachronismus abgetan.
Wächter am Meinungskorridor
Themen und Positionen, die nicht ins Regiekonzept passen oder unliebsame Kontroversen auslösen könnten, werden ausgespart oder aufwändig im Sinne der redaktionellen Hausregie „eingeordnet“. Politiker, die als unsichere Kombattanten gelten, müssen neuerdings sogar befürchten, von „geschulten Kadern“ aus dem Publikum gegrillt zu werden.**
Charakteristisch für all diese Auftritte sind laufend wiederkehrende Gesinnungsprüfungen, die nicht mehr das stichhaltige Argument, sondern die richtige Einstellung in den Mittelpunkt rücken – frei nach dem Motto: Sag was du denkst, aber hüte Dich vor den Folgen der falschen Meinung!
Konsequenz: Viele Argumente bleiben weit vor Erreichen der eigentlichen Problemzone stecken und alternative Lösungsansätze treffen auf eine Art Gegenstromanlage aus Empörungswellen, die den Wassergraben vor der Eintrittszone in die Wirklichkeit immer weiter auffüllt.
Hermetische Klimazone
Besonders plastisch läßt sich das an der aktuellen „Klimadebatte“ erkennen, wo es nach einigen wenigen Anläufen in Richtung auf einen multiperspektivischen Ansatz aktuell nur noch eine einzige Wahrheit zu geben scheint, nämlich die „vom 100 % menschengemachten Klimawandel“, der der Menschheit angesichts „eines rasant schrumpfenden Restbudgets an noch zulässigen CO2-Emissionen“ nur noch wenige Lebensjahre gewährt.***
Buzzwords wie „nur zum Teil menschengemacht“ oder „nur durch Rückkehr zur Kernkraft lösbar“ oder gar „nur durch technologische Innovationen bewältigbar“, werden regelmäßig durch enge „Diskurskanäle“ gejagt und am Ende immer öfter mit dem merkwürdig vorgestrig wirkenden Rubrum der „Klimaleugnung“ belegt.
Wenn man an dieser Stelle noch die Verflachung der „Migrationsdebatte“ („Jetzt sind sie halt da!“), die Polarisierung der eineinhalb Coronajahre („Coronaleugner“, „Impfverweigerer“) oder die oft wenig differenzierte Reaktion auf die öffentliche Kritik am Zustand der Europäischen Union („Europafeinde“) hinzunimmt, lässt sich gut ermessen, was es heißt, in einem solchen Diskursklima als Politiker in „Talkrunden“ oder „Wahlarenen“ aufzutreten. Da kann buchstäblich jeder Satz zum potentiellen Ziel eines Shitstorms werden, jeder „Versprecher“ zum Ausgangspunkt einer Empörungswelle und jede mimische „Entgleisung“ zum Knock out einer kompletten Wahlkampagne werden.
Sprachpolitik
Aber Hand aufs Herz: Was geschieht mit einer pluralen Gesellschaft, der die Argumente ausgehen? Nicht weil sie nicht da wären, sondern weil sich kaum noch jemand traut, sie auszusprechen. Was passiert mit einer Gesellschaft, in der sich mittlerweile eine wachsende Mehrheit bei kritischen Themen „Sprechverbote“ auferlegt?**** Und was geschieht mit einem Gemeinwesen, das anfängt Sprache zu zensieren, Straßen und Plätze aus Gründen der Political Correctness umzubenennen oder mittlerweile sogar damit beginnt jahrhundertealte Kunstschätze im vorauseilenden Gehorsam „umzutaufen“. Ist das noch reparabel oder besteht nicht schon die Gefahr des Abdriftens in die Sphären von „Cancel Culture“?
Gegenläufige Botschaften
Die Zeichen an der Wand sind widersprüchlich. Es gibt sie durchaus noch, die Abwägenden, die Moderaten. Selbst im linksintellektuellen Lager ist ihre Zahl durchaus beachtlich. Immer wieder hört man von Resolutionen oder „offenen Briefen“, die das Gewürge an den verschiedenen Sprachfronten anprangern, das Sich-selbst-Verkapseln junger Studenten in „Safe spaces“ kritisieren oder den Identitätsfuror unzähliger Betroffenengruppen thematisieren. Aber läßt sich auf diese Weise eine Umkehr oder besser eine Abkehr von der Intoleranz im Namen der Toleranz erreichen?
Hoffnung macht, dass es mittlerweile sogar dem einen oder anderen Politiker der bürgerlichen Mitte einleuchtet, dass das schlichte „Nachsprechen“ des woken Mainstreams gefährliche Folgen haben kann. Nicht zuletzt, weil es bei den führenden Protagonisten dieser neuen Zeitgeist-Bewegung in der Regel nur stille Genugtuung oder gar Mitleid auslöst, aber keinesfalls sichere Wählerstimmen generiert.
Anders denken
Das Problem ist, dass der moribunde Karren nach Jahren der rasanten Fahrt bereits tief im Meinungskorridor steckt und es fast übermenschliche Kräfte kosten dürfte, ihn da wieder raus zu ziehen. Rede- und Meinungsfreiheit des Andersdenkenden auch dann zu akzeptieren, wenn fast alle hinter der gleichen Fahne herlaufen, ist – wie eingangs schon erwähnt – unglaublich schwer. Eherne Wendungen wie:
„Je ne suis pas d´accord avec ce que vous dites, mais je me battai jusqu ´au bout pour que vous puissiez le dire!“ („Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tode Ihr Recht verteidigen, es zu sagen!“)*****
sind vielen von uns immer noch geläufig. Leider ist aber unsere Debattenwirklichkeit aktuell meilenweit von solchen Leitmaximen entfernt. Insbesondere auf einem Großteil der Internetforen, aber auch auf der sehr viel kleineren Agora des intellektuellen Diskurses zählen immer weniger die sachlichen Argumente, sondern immer mehr die Zahl der erfolgreichen Tiefschläge.
Leider finden kritische Stimmen wie die des Hochschulverbandspräsidenten Bernhard Kempen zu den gefährlichen Folgen einer immer weiter voranschreitenden „Verengung des Diskurskorridors“ noch zu wenig Nachahmer. Im Gegenteil: Löschen und canceln geht immer öfter vor abwägen und argumentieren.******
Kehren wir zurück zur freien Rede und geben wir der „Zumutung der abweichenden Meinung“ (John Stuart Mill) wieder den ihr gebührenden Raum. Damit das am dunklen Ende des Korridors aufleuchtende Licht nicht der uns entgegenrollende Zug, sondern das Licht der Redefreiheit ist.
* Mit dem Begriff „Triell“ (erweitertes „Duell“) umschrieben ARD, ZDF, RTL und Pro Sieben/SAT 1 eine Reihe von prominent platzierten „Diskussionsrunden“ mit den drei „Kanzlerkandidaten“ von Union, SPD und Grünen. Trotz der intensiven Werbung für die Talk-Events erreichten die Einschaltquoten bei allen drei Ausgaben historisch niedrige Niveaus. Bemerkenswert war, dass in der anschließenden Berichterstattung oft weniger über Inhalte, sondern mehr über feuilletonistische Randnotizen wie „Unregelmäßigkeiten in der Zeitmessung“ oder von „Knall-Effekten“ berichtet wurde. Vgl. auch die kritischen Bewertungen der „Trielle“ in der NZZ vom 11.9.2021 und vom 12.9.2021.
** So geschehen bei einer „Wahlarena“ am 15. September mit Armin Laschet in der ARD, wo der Sender linken „Aktivistinnen“ mit Kaderschulung Raum für gezielte Angriffe auf den Kandidaten gab. Erklärtes Ziel der beiden „Überraschungsgäste“ war nicht der offene Diskurs, sondern den Protagonisten buchstäblich „fertig zu machen“.
***„Bei der Klimakrise gibt es ehrlich gesagt keine zwei Meinungen mehr!“, so der Chefredakteur des Stern, Florian Gless, zu der Frage, warum sein Medium eine komplette Ausgabe zusammen mit „Fridays for Future“ produziert hatte.
**** Laut repräsentativen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Allensbach trauen sich aktuell nur noch 45 % der Deutschen, also erstmals nur noch eine Minderheit, ihre Meinung frei zu äußern. Der mit Abstand niedrigste Wert seit Beginn der Befragungen im Jahre 1953. Vgl. dazu auch eine Dokumentation von Thomas Petersen zum Thema „Die Mehrheit fühlt sich gegängelt“ , FAZ vom 16.6.2021.
***** Diese Wendung wird in der Regel dem Philosophen Voltaire (1694 – 1778) zugeschrieben. Obwohl es für diese Zuordnung keine quellenmäßigen Belege gibt, dürfte sie die Grundhaltung des berühmten Vordenkers der Aufklärung ziemlich passgenau widergeben.
****** Die Verbreitung von Hate Speech auf „sozialen Netzwerken“ ist sowohl für die Opfer als auch für die Betreiber der Plattformen ein gewichtiges Problem. Ob jedoch das forcierte Löschen von sog. „sozial schädlichen“ Accounts durch Anbieter wie Facebook und Twitter auf Dauer der Meinungsfreiheit bzw. -vielfalt dient, ist mehr als fraglich. („Facebook löscht 150 Querdenker-Kanäle“). Ob sich die Betreiber hierbei auf ihr „Hausrecht“ berufen können oder ob es sich bei ihren Plattformen um öffentliche, frei zugängliche „Marktplätze“ handelt, ist rechtlich umstritten. vgl. hierzu einen interessanten Artikel von Erik Tuchtfeld vom Max-Planck-Institut für ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht auf verfassungsblog.de.