Mündige Bürger

„Habe den Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – Mit dieser etwas pathetisch anmutenden Losung erreichte das Zeitalter der Aufklärung Mitte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts einen markanten Höhepunkt. Wie ein Leuchtfeuer strahlt diese Kantsche Wendung seit nunmehr fast 250 Jahre in unsere Wohnstuben, unsere Hörsäle und in unsere oft leider nur noch schummerig beleuchteten Debattenräume. – Was ist aus dieser Formel und aus ihrem Wirkungsfeld geworden? Haben wir gegenüber den Antipoden, den Mächten der Gegenaufklärung, noch die Oberhand? Ist das autonome, vernunftbegabte Wesen als treibende gesellschaftliche Kraft überhaupt noch unter uns? Oder ist unsere Welt nicht längst viel zu komplex und unübersichtlich geworden, um sie in die Hände von Millionen eigenverantwortlich handelnder Individuen zu legen?

Fast immer, wenn sich Revolutionen ereignen – und das Aufbäumen der bürgerlichen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war unzweifelhaft eine solche Revolution – meldet sich die Gegenrevolution in der Regel immer gleich mit. Kraft und Gegenkraft reiben sich aneinander und hangeln sich im Wettstreit von Konflikt zu Konflikt. Das ausgehende 18. Jahrhundert und das gesamte 19. Jahrhundert sind voll von diesen Wechselspielen aus Revolution und Gegenrevolution, Fortschritt und Restauration. Das Alte, das aus den Jahrhunderten des Feudalismus Überkommene, wollte einfach nicht weichen. Im Gegenzug tat sich das Neue sichtlich schwer und blieb immer im Wettstreit mit dem Gewachsenen, mit der Tradition: Rationalität gegen Legitimität, Zivilisation gegen Romantik, Demokratie gegen Autokratie und immer wieder offene Debatte gegen ewige Wahrheit.

Titanenkämpfe

Mit der Urkatastrophe des 1. Weltkrieges und mit dem Aufkommen der politischen Religionen im 20. Jahrhundert trat der bis dahin noch eher konventionell geführte Großkonflikt zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung in eine völlig neue Phase. Was sich bis dahin eher als Rückzugsgefecht der Aristokratie und ihrer legitimistisch argumentierenden Bataillone manifestierte, wanderte in mutierter Form auf die äußersten Flügel aus und setzte sich als Kampf der bürgerlichen Mitte gegen die Totalitarismen von rechts und links fort.

In diesem Titanenkampf ging es nicht mehr nur um die Bewahrung eines aufklärerischen Erbes, sondern in vielen Fällen schlichtweg um Leben und Tod. Die Schläge, die dem Bürgersinn, der politischen Kultur, dem aufgeklärten Rationalismus und auch dem Empirismus der modernen Wissenschaften damals verpasst wurden, waren brutal und wirken bis heute nach.

Später Triumph

Gott sei Dank, hat sich zumindest die westliche Welt nach 1945 und dann im Anschluss an das unblutige Ende des Kalten Krieges in den Jahren 1989ff. auch der „Ostblock“, von den totalitären Sozialutopien und den häßlichen Überspannungen ihrer doktrinären Ideologien weitgehend befreien können. Die gewalttätigen Regime verschwanden und die Lagertore öffneten sich. Der Bürger, der Citoyen hatte sich behauptet und es geschafft – trotz aller Entbehrungen und Zumutungen – im Kampf gegen die politischen Ingenieure des „neuen Menschen“ doch noch zu obsiegen.

Dieser historische Kantersieg hat uns in Europa Jahrzehnte des Friedens und des Wohlstandes gebracht und dieser unbestreitbare Erfolg scheint denen recht zu geben, die immer schon davon überzeugt waren, dass der „Ausbruch des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) trotz aller Irrungen und Wirrungen qua historischer Gesetzmäßigkeit letztendlich doch über die Mächte der Gegenaufklärung triumphieren werde.

Prozess der Aufklärung

Wenn das so einfach wäre, könnte man an dieser Stelle das Kapitel schließen, sich gemütlich zurücklehnen und voller Wohlgefallen auf das Erreichte herunterblicken. Doch auch das lehrt die Geschichte: Immer wenn das Wohlgefühl angesichts „der besten aller Welten“ übermächtig wird und der Bürger seine Pantoffeln überstreift, ist Gefahr im Verzug. Aufklärung, das lehren uns ihre historischen Väter und Mütter, ist ein nie enden wollender Prozess, ein Langfristprojekt, bei dem sich der Horizont bei der Bewegung nach vorn immer weiter nach hinten verschiebt und in dem die Gegenkräfte offenbar werdende Schwächen der Projektanten unbarmherzig ausnutzen.

So einfach es war, die genannten gegenaufklärerischen Kräfte im 19. und über weite Strecken des 20. Jahrhunderts auszumachen, so schwierig ist es heute die Counterparts klar zu identifizieren und angemessen mit Ihnen umzugehen. Das Duell, um das es hier geht, hat nämlich – trotz aller Bemühungen um Eindeutigkeit – keine klaren Fronten. Die Angreifer kommen aus allen politischen Richtungen und maskieren sich oft auf geschickte Weise als vermeintliche Mitstreiter und Weggefährten.

Gefahren ernst nehmen

Die Gefechtsfelder, um die es hier geht, sind schnell umrissen, weil es im Grunde die alten sind und es nur so scheint, als seien die dort ausgetragenen Dispute von früheren Generationen längst abgeräumt worden:

– In der Herzkammer jeder Form von aufklärerischer Geisteshaltung findet sich das autonome, selbstwirksam agierende Individuum. Ohne dieses hochartifizielle Wesen ist alles nichts und jede Art von aufklärerischer Weisheit letztlich nur schöner Schein. Dass dieses, mit unveräußerlichen Grund- und Menschenrechten ausgestattete Individuum gegenwärtig – unter den Bedingungen rigider Lockdown-Regime – massiv unter Druck steht, kann niemand ernsthaft bestreiten. Niemals in der Nachkriegszeit wurden in der freien Welt so viele essentielle Grundrechte außer Kraft gesetzt, wie in diesen Tagen. Bedenklich ist dabei nicht allein der Umstand, dass wir uns seit Monaten in einem nicht enden wollenden Lockdown-Jojo befinden, sondern vor allem auch die Auswüchse im Kontext der politischen Begleit-Rhetorik. Wer elementare Freiheitsrechte als von oben disponierbare „Privilegien“ tituliert, lieber Ängste schürt als Selbstwirksamkeit fördert* und dann auch noch zu allem Überfluß den Eindruck erweckt, als könnten grundlegende „Freiheiten“ in Zukunft nur noch für „Gesunde“ reserviert werden, treibt ein gefährliches Spiel. Die Gedankenwelt, die aus solchen Wendungen spricht, macht frierend und leitet uns auf einen dunklen Pfad.

– Kongenialer Begleiter der Aufklärung war von Anfang an die freie Wissenschaft. Ihr quasi schrankenloses Erkenntnisinteresse und ihre auf Widerspruch und Widerlegung fokussierte Methodik waren wie gemacht für den aufklärerischen Gebrauch. Wenn heute im öffentlichen Diskurs mit Inbrunst „die Wissenschaft“ als eherner Leitstern für politische Orientierung ins Feld geführt wird, dann kommen einem  – insbesondere angesichts von Diktion und Habitus vieler Experten – zunehmende Zweifel, ob es hier tatsächlich noch um Aufklärung und Wahrheitsfindung oder schon um „unumstößliche Wahrheiten“ geht. Wissenschaft, das gerät uns zunehmend aus dem Blick, ist eben nicht das Feld der Eindeutigkeiten, der „gesicherten Erkenntnis“ oder der „einmal gefundenen Wahrheit“, sondern das Feld der Vieldeutigkeit, der Multiperspektivität und der ständig zu hinterfragenden „Gewissheiten„.

– Die wohl eminenteste Herausforderung der kommenden Jahre betrifft das sensible Terrain des öffentlichen Diskurses. Wenn es ein Feld gibt, auf dem sich der Geist des Rationalismus und der Aufklärung aktuell auf dem Rückzug befindet, dann ist es der immer weiter zusammenschrumpfende Rückzugsraum der seriösen öffentlichen Debatte. Trotz Internet und trotz beispielloser medialer Vielfalt ringen wir nicht um das „bessere Argument“, sondern erleben Hatespeech, virtuelle Pranger sowie eingeengte Diskurskanäle, deren Zugänge von Sprachpolizisten bewacht werden. Dazwischen immer wieder linke und rechte Identitäre, die beinahe jeden Widerspruch als inakzeptablen Übergriff oder als unverzeihliche Beleidigung schubladisieren. Und auf den Hochebenen der politischen Auseinandersetzung: Politische Methoden, die den öffentlichen Diskurs bereits in ersten Ansätzen lahm legen, um aus der Festung der Alternativlosigkeit heraus um so ungestörter schalten und walten zu können.

Der Staat wird´s schon richten!

Leider gibt es momentan nicht allzu viele, die die oben beschriebenen Warnsignale wirklich ernst nehmen. Aufklärerischer Enthusiasmus, liberale Freiheitsliebe und Freude an leidenschaftlichen, aber fairen Debattenduellen sind selten geworden. So selten, dass gelegentlich schon Vermisstenanzeigen nach den führenden Protagonisten dieser raren Leidenschaften aufgesetzt werden.

Wie so oft, wenn ausgewachsene Gewitter über sensible Pflänzchen hinweggehen, bleibt ein Großteil der Gärtner lieber in Deckung und kümmert sich um die eigene Sicherheit. Bei der Größenordnung des Gewitters und bei der Unbestimmtheit der Wetterlage wohl nicht ganz unverständlich. Wer will schon alleine im Gewittersturm stehen, wenn die Blitze hernieder sausen und es überall heißt „Bleiben Sie zu Haus“ und gehen sie nicht vor die Tür.

Und außerdem: Ist die Pflege des Gartens nicht Aufgabe der Parkverwaltung? Wissen die nicht viel besser, wie das Beet zu bestellen ist? Und was sollen wir uns überhaupt als Laien einmischen? Wir sind doch ohnehin keine Experten. Und außerdem, zahlen wir seit Jahren mächtig Steuern und sollen uns dann auch noch selber um alles kümmern? So haben wir nicht gewettet…!

Also, doch lieber abwarten und hoffen, dass sich unsere Welt wieder von alleine berappelt? Es kann ja wahrhaftig nicht mehr lange so weitergehen. Irgendwann wird sich das Blatt wenden. Ausnahmezustände waren auch im historischen Kontext immer vorübergehende Phänomene, eben Ausnahmen von der Regel. Und wenn Frau Merkel es für richtig hält, das öffentliche Leben in unseren Städten, auf unseren Plätzen und in unseren Betrieben tagsüber auf ein Minimum einzudampfen und sie nach reiflicher Zwiesprache mit sich selbst und nach intensivem Austausch mit „ihren“ Experten zu dem Schluss gelangt, dass es einfach besser ist, uns am Abend und in der Nacht einzuschließen, dann dient das doch allein unserer Sicherheit, oder?

Sicherheit contra Freiheit

Der innere Widerstreit, in dem wir stecken, ist unübersehbar. Das Recht auf Sicherheit, vor allem wenn es als oberstes Menschenrecht ausgelegt wird, beschneidet unweigerlich unsere Freiheiten. Und solange wir in allen Notlagen sofort bereitwillig nach dem Staat rufen, bevor wir z.B. auf dem Feld der kommunalen Selbstverwaltung damit beginnen unsere öffentlichen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, wird uns auch der aufklärerische Geist nicht wach küssen.

Das Kantsche Diktum vom Selberdenken war ohne Zweifel ein genialer historischer Einschub in bewegter Zeit. Es hat uns über viele Generationen hinweg immer wieder aufgerüttelt und an unsere menschlichen Elementarkräfte erinnert. Dennoch war diese kategorische Aufforderung immer auch eine nicht zu unterschätzende Bürde, fast schon eine Zumutung.

Das galt und gilt vor allem in unübersichtlichen Zeiten, in denen unsere Ambiguitätstoleranz quasi täglich auf die Probe gestellt wird und viele von uns das Zurückgeworfensein auf Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung regelrecht als Bedrohung, fast schon als unerträgliche Überanstrengung empfinden. Mit der Folge, dass die breite Mehrheit ihre wenige Kraft lieber ins Private lenkt und einfach darauf hofft, dass es auf der öffentlichen Bühne schon andere regeln werden.

Mut zur Mündigkeit

Ob sich diese Hoffnung jedoch erfüllen wird, ist alles andere als gewiß. Die momentanen Aussichten sind eher trübe und von großer Unsicherheit geprägt. Sicher ist in jedem Fall, dass uns die oben beschriebene Anstrengung auf der höheren, geistig-politischen Ebene nicht erspart bleiben wird. Im Endresultat geht es nämlich um deutlich mehr als nur um den Wunsch nach ein bißchen mehr politscher Mitbestimmung. Es geht um die Zukunft unseres Gemeinwesens, um seine innere Verfasstheit, seinen Wertekern und am Ende um unsere hart erkämpfte staatsbürgerliche Mündigkeit.

Es geht um viel! Enttäuschen wir uns nicht selbst!

*Der Begriff „Selbstwirksamkeit“ geht zurück auf den kanadischen Psychologen Albert Bandura und umschreibt die Fähigkeit des Menschen, Ängste und Ohnmachtsgefühle zu überwinden und daraus Handlungsenergie für ein selbstbestimmtes Leben zu entwickeln. Kaum eine psychische Kraftquelle dürfte angesichts der übermächtigen Angst-Produktion der letzten Monate stärker verkümmert sein, als das so wichtige Therapeutikum namens Selbstwirksamkeitserwartung.