Wir kennen das aus der Leichtathletik – besser noch vom Langstreckenlauf. Der Pulk der Favoriten setzt sich gleich nach dem Start an die Spitze des Feldes und gibt die Geschwindigkeit vor. In den oft heftigen Positionskämpfen wechseln sich die Spitzenläufer in der Führungsarbeit ab. Schließlich wird das Tempo dermaßen verschärft, dass einige Läufer einfach nicht mehr mithalten können. Schwere Beine, kurzer Atem und verlorener Rhythmus. Der Kontakt zur Spitzengruppe reißt ab und der/die Läufer werden nach hinten durchgereicht.
In genau dieser Situation befindet sich aktuell die deutsche Volkswirtschaft. Jahre-, ja jahrzehntelang ganz vorne mit dabei, fällt Deutschland momentan in fast allen internationalen Rankings immer weiter zurück. Die Konkurrenz ist schneller, wendiger und besser trainiert. Und dem schwarz-rot-goldenen oder besser regenbogenfarbenen Langstreckenläufer geht zunehmend die Puste aus.
Sorgenvoll stimmt vor allem die Wachstumsschwäche. Laut OECD-Wachstumsstatistik liegt die Bundesrepublik Deutschland derzeit unter den 38 OECD-Staaten nur noch knapp vor Russland und Argentinien am Tabellenende. Laut dem Internationalen Währungsfonds ist Deutschland das einzige entwickelte Industrieland für das 2023 ein Negativwachstum prognostiziert wird.
Absacken im Wettbewerbsranking
Wie schlecht es aktuell um die Wettbewerbsbedingungen der deutschen Wirtschaft bestellt ist, offenbart der auch 2023 wieder erhobene World Competitivness-Index der Hochschule IMD in Lausanne. Danach rangiert Deutschland im internationalen Vergleich nur noch auf Platz 22 (!), weit hinter Ländern wie Dänemark (Platz 1), Schweiz (Platz 3) und den Niederlanden (Platz 5). Das bedeutet gegenüber der Vorjahreserhebung einen weiteren Rückschlag um sieben Plätze.
Richtig kritisch wird es, wenn man sich die jüngsten Insolvenzstatistiken anschaut. Danach erhöhte sich die Quote der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland im Juli 2023 gegenüber dem Vorjahresmonat um fast 24 % (!). Immer mehr Unternehmen, die durch öffentliche Corona-Hilfen in den letzten drei Jahren noch einigermaßen glimpflich durch die Lockdowns gekommen sind, gehen nun – ohne staatliche Hilfen – in die Knie bzw. ins Insolvenzverfahren.
Schlechtes Klima
Dass auch diejenigen Unternehmen, die sich noch am Markt behaupten, alles andere als optimistisch in die Zukunft schauen, belegen die aktuellen Werte des Ifo- Geschäftsklimaindex. Nach 95,7 Punkten noch zu Beginn des Jahres 2022 liegt der Wert für das Geschäftsklima in der deutschen Wirtschaft, 1,5 Jahre später nur noch bei 87,3 Punkten (Juli 2023). Orchestriert wird dieses Lagebild durch zunehmend lauter werdende Alarmmeldungen aus den Chefetagen und den Verbandsspitzen der deutschen Wirtschaft.
Laut BDI-Chef Harald Russwurm befindet sich Deutschland im internationalen Vergleich auf der „Verliererstraße“. Rainer Dulger, der Präsident der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände ergänzt: „Wenn wir eine führende Industrienation bleiben wollen, müssen wir endlich an den richtigen Stellschrauben drehen!“
Zu hoher Kostendruck
Auf die Frage, was das denn im Einzelnen für Stellschrauben sind, an denen gedreht werden soll, antworten Unternehmer und Wirtschaftsexperten fast immer mit dem Verweis auf den stetig steigenden Kostendruck am Standort Deutschland. Kaum mehr zu bewältigen, sind die ständig wachsenden Bürokratiekosten. Kaum mehr ein Unternehmen, dass sich nicht über das dichte Geflecht aus Gesetzen, Verordnungen und immer neuen Regulierungen beklagt. Und kaum mehr ein Unternehmen, das nicht unter der drückenden Last der ausufernden Energiekosten leidet.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland – zusammen mit Dänemark – einsam an der Spitze der Stromkostenskala. Fast schon surreal wird es, wenn man auf die europäischen Stromhandelsbilanzen schaut. Wenn wir in Deutschland zu viel Strom produzieren – was gerade im Sommer bei viel Sonnenschein und günstigen Windverhältnissen in der Deutschen Bucht mittlerweile häufiger vorkommt – sind wir aufgrund nicht vorhandener Stromspeicher gezwungen den überschüssigen Strom regelrecht zu verramschen – für annähernd 0 Cent pro kWh an der europäischen Strombörse.
Bei den ebenfalls regelmäßig auftretenden Dunkelflauten dreht sich das Blatt und wir kaufen in der Regel für Höchstpreise teuren Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Osteuropa. Währenddessen werden alle schönen Errungenschaften des Elektrozeitalters, allen voran das E-Auto, nach dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke, mit Kohlestrom gefüttert.
Unzureichende Antworten
Solche Fehlsteuerungen müssten das politische Berlin eigentlich in Alarmzustand versetzen. Stattdessen tobt zwischen den beteiligten Ministerien und zwischen den Regierungsfraktionen ein erbitterter Kampf um weltanschauliche Linientreue in der Klima-, Energie- und neuerdings auch „Heizungspolitik“.
Dabei lägen die Antworten auf die drängenden Fragen so nahe. Die Erfolgsrezepte der sozialen Marktwirtschaft sind in allen Lehrbüchern frei zugänglich und ein Blick auf die ökonomische Erfolgsgeschichte der beiden Nachkriegsjahrzehnte müsste eigentlich reichen, um zu erkennen an welchen Stellschrauben gedreht werden müsste: Weniger Bürokratie und mehr Mut zum Wettbewerb. Weniger Regulierung und endlich wieder mehr Freiräume für den Einzelnen und mehr Vertrauen in die Kompetenz und die Handlungsfähigkeit der Unternehmen, der selbstverwalteten Körperschaften bzw. der kleinen gesellschaftlichen Einheiten.
Kranker Mann Europas 2.0
Hoffnung gibt die Tatsache, dass es Deutschland Anfang/ Mitte der 2000er Jahre, also vor rund 20 Jahren, schon einmal gelungen ist, weitgehend aus eigener Kraft, den Status des „kranken Mannes Europas“ abzustreifen und brachliegende Wachstumskräfte zu mobilisieren. Damals waren es vor allem die sogenannten Hartz-Reformen, die – trotz aller Einwände – den Weg für eine Trendwende einleiteten.
Die Ausgangslage heute ist deutlich komplizierter. In der Bundesrepublik gab es in den letzten zwei Jahrzehnten keine große ökonomische Strukturreform mehr. Deutschland steckt nicht nur in einer hartnäckigen Stagflation, sondern kämpft auch mit dem weltweit zweithöchsten Niveau an Steuern und Abgaben. Die Bürokratielast ist, wie beschrieben, enorm und der Fachkräftemangel bedroht mittlerweile fast alle Bereiche der deutschen Wirtschaft.
Subventionitis
Leider werden momentan in wesentlichen Politikbereichen pragmatische Lösungen durch weltanschauliche Grabenkämpfe überlagert. Darüber hinaus scheint die Wirtschaftspolitik ihr Heil fast ausschließlich in Verboten und Subventionen suchen zu wollen. Verbrennungsmotoren werden verboten. Atomkraftwerke abgeschaltet und Heizungen mit Verfallsdaten versehen.
Statt tatkräftig die wettbewerblichen Rahmenbedingungen zu verbessern, werden allein für die Neuansiedlung von zwei Halbleiterfabriken in Ostdeutschland rund 15 Milliarden € (!) Steuergeld mobilisiert. Parallel werden milliardenschwere Subventionspläne für die Absenkung der Industriestrompreise entwickelt, während der Mittelstand buchstäblich in die Röhre schaut.
Wieder mehr Marktwirtschaft wagen!
Die Hoffnung bleibt, dass das erfahrungsgemäß nur kurze Auflodern solcher teuren Subventionsstrohfeuer am Ende dann doch denjenigen den Weg ebnet, die Wirtschaftspolitik nicht mit Verbotsprogrammen und staatlicher Steuerung verwechseln, sondern wieder mehr auf Wettbewerb, solide Geld- und Finanzpolitik sowie unternehmerische Eigeninitiative setzen.
Erst wenn das gelingt, wird der zwischenzeitlich weit nach hinten durchgereichte Langstreckenläufer mit der schwarz-rot-goldenen Flagge am Ärmel wieder Boden gut machen.