Neuer Heroismus

In diesen Tagen ist viel von Zeitenwende die Rede. Der Ukraine-Krieg, so der breite Tenor, ändert alles. Alte Gewissheiten, so hallt es durch den Blätterwald, sind plötzlich obsolet und werden durch neue Erkenntnisse abgelöst, über die so vorher angeblich niemand nachgedacht hatte. – Ist das wirklich so? Leben wir mitten in einer akuten Zeitenwende, einer Art Sattelzeit, wo sich das Vorher vom Nachher radikal unterscheidet? Vor allem: Was ist plötzlich mit uns selbst los? Was treibt uns dazu, langjährig eingeübte politisch-mentale Dispositionen quasi über Nacht zu kassieren? Wo ist sie plötzlich hin, unsere Abneigung gegen alles Martialische? Unsere jahrzehntelang antrainierte Furcht vor einem lauten Heroismus, der in Militärstiefeln und Tarnanzügen daher kommt?

Zunächst zum Thema Zeitenwende!* Im Big picture der neuzeitlichen Historie würde wohl niemand ernsthaft bestreiten, dass die Jahre 1789, 1914, 1945 oder 1989 spektakuläre Wendejahre waren. Sie prägen als große Wendemarken die europäischen Geschichtsbücher und kaum eine geschichtswissenschaftliche Monographie der Neuzeit  kommt ohne ihre ordnende und Geschichtsepochen sortierende Kraft aus.

Epochenjahr 2022?

Aber was ist mit dem Jahr 2022? Markiert unsere Gegenwart tatsächlich den Übergang in ein neues Zeitalter? War das, was wir vor dem 24. Februar über die politisch-historischen Konfliktzonen am Ostrand Europas wußten, so fundamental anders als am Tag danach? Hatte Russland nicht mindestens schon im Jahre 2008 deutlich signalisiert, dass es keinesfalls bereit sei, eine vom Westen aufgerüstete Ukraine als NATO-Mitglied an der eigenen Westgrenze zu akzeptieren? Hätte uns nicht bereits die Annektion der Krim durch Russland im Jahre 2014 klar machen müssen, wohin die Reise geht?

Natürlich gebiert erst die Tat selbst den Täter. Und selbstverständlich hätte sich noch vor wenigen Wochen kaum jemand vorstellen können, dass der Konflikt derart eskalieren würde. Aber markiert deshalb der 24. Februar tatsächlich eine historische „Zeitenwende“? Steht Europa wieder wie 1914 oder gar 1939 an der Schwelle zum ganz großen Krieg?

Mit uns zieht die neue Zeit

Niemand kann in die Zukunft sehen. Niemand verfügt über eine prognostische Glaskugel. Wir können nur inständig hoffen, dass eine weitere Eskalation über die Grenzen der Ukraine hinaus verhindert werden kann. Was die Deutung der Zukunft anbetrifft, hilft uns in der Regel nur das kluge Prolongieren von Vergangenem. Aber was genau sollen wir prolongieren, welche großen Strömungen werden sich auf dem historischen Entwicklungspfad durchsetzen?

Vor dem 24. Februar hätten fast alle von uns wohl das Thema „Klimawandel“ genannt. Politik und Medien in unserem Land hatten – natürlich abgesehen vom Thema „Corona-Pandemie“ – fast nur noch die „Klimaapokalypse“ und ihre Bekämpfung im Sinn. Alles – so das große Narrativ – müsse sich dieser riesenhaften Herausforderung unterordnen, weil es ja Fünf nach Zwölf sei und in diesem Kontext die große „Energiewende“ keinen Aufschub mehr duldet.

Überleben als Oberziel

Und was ist jetzt? Der grüne Wirtschaftsminister auf Werbetour beim katarischen Scheich. Kotau am Golf.  Öl und Erdgas als Mangelware. Heiß ersehnt und astronomisch teuer bezahlt,  geliefert vom Kriegsherrn selbst. Zwar ohne neue Pipeline, aber mit kaum verminderter Geschwindigkeit durch die alten Rohre. Zwar nicht gegen Rubel, aber gerne gegen Cash.**

Also selbst die große Klimawende markiert sie nicht, die Zeitenwende. Kalte Wohnungen, stillgelegte Chemiewerke und Hyperinflation an der Zapfsäule machen selbst historische Umbrüche zur Makulatur. Was nützt das hehre Fernziel einer CO2-neutralen Welt, wenn uns vorher buchstäblich der Saft ausgeht. Bevor wir energetisch im Kalten und politisch auf dem Trocknen sitzen, lassen wir die Klimawende lieber Klimawende sein.

Mentale Wende?

Dass sich doch etwas fundamental geändert zu haben scheint, wird nur dem deutlich, der die Ebene der realen Politik ein Stück weit verlässt und sich den mentalen Tiefenzonen unseres Gemeinwesens zuwendet. Wie oben bereits angedeutet, scheint dieser vermaledeite Krieg nicht nur die Preise an den Tankstellen und in den Supermärkten über Nacht verändert zu haben, sondern auch unsere mentale Balance.

Was haben wir in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht alles getan, um unsere Gesellschaft von Gewalt und Aggression zu befreien. Jede minimale Mikroaggression wurde aufs Heftigste verurteilt und gebrandmarkt. Beginnend bei den Kleinsten in den Kitas und Grundschulen wurde das Erlernen von gewaltfreier Konfliktlösung zur obersten Priorität.

In den Sportarenen, insbesondere in den Fußballstadien, wurde jede auch noch so kleine Grenzüberschreitung auf den Rängen und auf dem Platz zum medialen Megathema. Ok! La-Ola am Fußballsamstag oder bei Spielen der „Mannschaft“ sogar auch mal ein paar schwarz-rot-goldene Fähnchen unter dem Stadiondach. Aber bitte immer schön gesittet und immer politisch korrekt unter Aufsicht vor allem medialer Tugendwächter.

Immer schön einig

Noch dramatischer vollzog sich dieser Kampf um die richtige Haltung im politischen Raum. Hier verlor zumindest in den zentralen Politikfeldern fast jeder Abweichler vom politisch-medialen Mainstream schon nach kurzer Zeit seine diskursive Satisfaktionsfähigkeit.

Friedlicher, möglichst diskursarmer Konsens orientiert an alternativlosen Vorgaben von oben, sollte die Gesellschaft von innen heraus pazifizieren. Bis hin zum Maskentragen bei der Alleinfahrt im Pkw, bis hin zum Hype ums Lastenfahrrad als Fortbewegungsmittel der Zukunft und bis hin zum staatlich propagierten Fleischverzicht war alles auf eine stets sauber ausbalancierte Vorsicht, Rücksicht und Nachsicht ausgerichtet.

Neue Heroen im Military-Look

Und jetzt, was ist jetzt? – Die Helden sind zurück! Nicht die merkwürdig künstlichen Abziehbilder aus der Popkultur. Nicht die große Riege femininer Streiter fürs Klima. Keine Gretas oder Luisas. Keine Hollywood-Remakes aus der Western-Epoche. Zurück sind die echten Helden, die wahren Heroen in Militärstiefeln, olivgrüner Kluft, schußsicheren Westen und häufig auch noch in martialischer Kampfpose.***

„Klitschkos schwerster Kampf“, „Selenski – vom Schauspieler zum Helden“, „Selenski – Ikone der Freiheit“, „Melnyk sagt uns die Wahrheit, die wir nicht hören wollen“****, so die Schlagzeilen. In manchen Kommentarspalten sind die Autoren in den Redaktionen mittlerweile sogar selbst auf dem Vormarsch – frei nach dem furchterregenden Motto „Deutschland-muss-endlich-Kriegspartei-werden“!

David gegen Goliath

Wissen wir eigentlich noch was wir da im Stakkato der Erregung von uns geben oder zumindest vernehmbar beklatschen? Klar, in einem Kampf David gegen Goliath sind die Sympathien in der Regel klar zugunsten der davidianischen Fraktion verteilt. Es ist schlicht bewundernswert, wie die ukrainische Armee sich gegen den russischen Militärkoloss verteidigt. Das nötigt dem Betrachter Respekt ab. Hier kämpfen Menschen in schier auswegloser Lage um ihr eigenes Land.

Aber undifferenzierter Heroenkult ohne Rücksicht auf die vielen Grautöne auch im Lager der Verteidiger? Muss das sein? War es nicht Präsident Selensky, der im Vorfeld der kriegerischen Ereignisse, die russische Sprache in der Ukraine als Amtssprache verbot? Und was ist mit den zwielichtigen Kombattanten des Regiments Asow, die sich NS-Symbolen bedienen und Rechtsextreme aus allen Teilen Europas anziehen?

Und wie ist das eigentlich mit ukrainischen Oligarchen, wie Ihor Kolomojskyj, dem großen Mentor Selenskys, dessen Vermögen sicher nicht nur in humanitäre Projekte fließt und dessen Einfluss in krassem Gegensatz zu seiner demokratischen Legitimation stehen dürfte. Auch die Erkenntnisse über das Finanzgebaren an der politischen Spitze der Ukraine aus den „Pandora Papers“ werfen kein gutes Licht auf Präsident Selensky und sein Umfeld.

Sympathie ja, aber kein Heroenkult

Bei aller Sympathie für die Menschen in der Ukraine und bei aller Wertschätzung für ihren Kampf um Selbstbehauptung und Selbstbestimmungsrecht sollten wir nicht leichtfertig übers Ziel hinausschießen. Wie auf der Pazifizierungsachse, wo wir uns in den zurückliegenden Jahren an wichtigen Stellen die Fähigkeit zur Selbstverteidigung buchstäblich „aberzogen“ haben, sollten wir auch auf der bellizistischen Gegenachse zurückhaltend operieren.

Gerade wir Deutschen haben vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unser Kontingent an blindem Heroismus mehr als ausgeschöpft. Die Folgen fehlgeleiteter Heldenverehrung sind in Deutschland bis heute spürbar. Wir sollten Hilfe leisten dort wo wir die Mittel dazu haben, sollten aber nicht den Fehler machen uns wieder einmal selbst in etwas hineinzusteigern, was wir nach 1945 bewußt und letztlich zu unserem eigenen Vorteil „verlernt“ haben.

Der unbefleckte Heros ist ein Standbild aus Marmor und kein Mensch aus Fleisch und Blut. Konzentrieren wir uns auf das, was uns unsere eigene Geschichte eigentlich über alle Maßen lehren müsste, nämlich auf die Friedensvermittlung bzw. auf die aktive Konfliktbeilegung, auch dann wenn wir vermeintlich einem „Erzfeind“ gegenüber stehen.

* Einen klugen Blick auf das Thema „Zeitenwende“ im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wirft Claudia Weber, Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Frankfurt/Oder auf verfassungsblog.de. Laut Weber ist Putins Krieg Ausdruck „traditioneller Großmachtpolitik“ und insofern kein Symbol für etwas spektakulär Neues. Die hochtonale Wortwahl ist eher Ausdruck einer sich ins Superlative steigernden politisch-medialen Rhetorik, die Vorgänge bewußt „hocheskaliert“, um Prozesse politisch in Bewegung zu bringen.

** Putins Drohung in Zukunft nur noch Gas gegen Rubel zu liefern und die Weigerung der G7 in Rubel zu zahlen, gebiert offensichtlich – frei nach König Salomon – einen Under-Cover-Deal zu beidseitigem Vorteil. Die von den westlichen Importeuren gezahlten „Devisen“ werden bei der Gazprom-Bank eingezahlt, dann in Rubel „konvertiert“ und fließen am Ende in der Landeswährung in die Kassen der großen russischen Energiekonzerne. Beide Seiten haben sich „durchgesetzt“ und es geht weiter wie zuvor.

*** Dass der Ukraine-Krieg von Anfang an auch ein Krieg war, der über die sozialen Medien ausgefochten wurde, hat vor allem die ukrainische Seite früh erkannt. Ein Meister an der Social Media-Front ist ohne Zweifel der ukrainische Präsident Selensky, der virtuos die moderne Klaviatur der Internet-Kommunikation beherrscht. Sein Markenzeichen ist das olivgrüne Militär-T-Shirt, dass er bei fast allen Auftritten trägt und das ihm die Aura des „einfachen Soldaten“ verleihen soll. Seine Botschaften sind hart in der Diktion, oft untermalt durch Schock-Videos und geprägt von einer pathetischen Kampfrhetorik. Die Auftritte werden in westlichen Medien in der Regel 1:1 transportiert und als O-Töne über den wahren Kriegsverlauf verbreitet.

**** Andrij Melnyk fungiert als ukrainischer Botschafter in Deutschland und fällt in seinen Statements durch eine besonders martialische Rhetorik auf. Er scheint mit allem unterhalb der Schwelle einer unmittelbaren Kriegsbeteiligung Deutschlands unzufrieden und lässt keine Chance ungenutzt, um die Bundesregierung an ihre „historische Verpflichtung“ zu erinnern. Fragwürdig ist seine unverhohlene Sympathie für den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, der im 2. Weltkrieg im von der deutschen Wehrmacht besetzten Lemberg mit seinen Anhängern nachweisbar an Kriegsverbrechen gegen Juden und Kommunisten beteiligt war.