Nur wenige Geschichtsmetaphern wurden in den zurückliegenden Jahrhunderten so oft strapaziert, wie das Pyrrhus-Motiv: Kriegslüsterner Fürst fordert die römische Republik heraus, setzt aus Griechenland kommend nach Unteritalien über und siegt in offener Feldschlacht. Das Problem: Seine Siege sind derartig verlustreich, dass er schließlich vom eigenen Triumph aufgefressen wird. Die resignative Wendung des antiken Hellenen-Königs von wegen „Noch so ein Sieg und ich bin verloren!“ hallt seitdem wellenförmig durch die Geschichtsbücher und gereicht immer wieder denen zur Mahnung, die vor lauter Triumphalismus den Blick für die Wirklichkeit verlieren. – Die Druckwellen rund um die US-Präsidentschaftswahlen, die aktuell über den großen Teich zu uns herüber wabern, sind wie gemalt für die alte Pyrrhus-Metapher: Verlierer, die sich zu Siegern erklären, vielstimmiges Triumph-Getöse, das lautes Pfeifen im dunklen Wald ersetzt und all das orchestral begleitet von wilden Schlachtrufen auf allen Kanälen.
Obwohl das Endergebnis der Präsidentschaftswahl nach Tagen und Nächten des mühsamen Auszählens – angesichts drohender Klageverfahren – immer noch irgendwie merkwürdig in der Luft hängt, zeichnet sich – aus dem Blickwinkel vor allem der hiesigen Medien – ein Verlierer seit langem ab. Ein politischer Parvenü wie Trump – so der stete Tenor – kann per definitionem gar nicht als Sieger vom Platze gehen. Seit 2016 irrlichtert er durch die Gazetten und das hochstrapazierte Netz und wenn man den medialen Leitwölfen Glauben schenken darf, war schon sein „Sieg“ im November 2016 ein gestohlener Triumph. Illegitim, weil politisch unerwünscht, erschlichen gegen die lang gekürte „Favoritin“ und darüber hinaus auch noch unterschwellig vom Kreml begünstigt.
Umweg durch die Sackgasse
Trump musste gleichsam als Verlierer, als Usurpator vom Hof gejagt werden. Dazu gab es keine Alternative, keine irgendwie denkbare andere Option. Seine erste Amtszeit musste seine letzte sein und sie musste geradezu zwingend als überflüssiger Betriebsunfall in die Geschichtsbücher eingehen. Als Periode des Rückschritts, des Retardierens im Zuge einer langgezogenen Aufwärtsbewegung in Richtung auf mehr Diversität, mehr ethnische Vielfalt, mehr politische Korrektheit, mehr staatliche Regulierung und mehr Klimaschutz.
Dass der Amtsinhaber selbst, Steilvorlagen en masse für seine posthume Etikettierung geliefert hat und auf seinen letzten Metern immer noch liefert, steht ebenfalls außer Frage. Wie ein Bilderbuch-Pyrrhus beherrscht er die unnachahmliche Fähigkeit das selbst Aufgerichtete anschließend im rumpeligen Rückwärtsgang gleich wieder umzureißen. Seine erbitterten Schlachten gegen die Windmühlen des Mainstreams waren – trotz Dauer-Bashing – zugegebenermaßen nie ganz erfolglos. Kein US-Präsident vor ihm hat so viele Wahlversprechen in die Tat umgesetzt wie Trump und die Tatsache, dass er 2020 noch mal rund acht Millionen Wähler mehr für sich mobilisieren konnte als vier Jahre zuvor spricht nicht per se gegen ihn. Fast kafkaesk jedoch war seine Sprunghaftigkeit, seine Unberechenbarkeit, seine Launenhaftigkeit. Stets nach dem wackeligen Motto: Lieber Einzeltriumphe im Twitterkrieg als einen langweiligen Schlachtplan!
Trump gegen Nicht-Trump
Spätestens an dieser Stelle enden momentan beinahe alle „Analysen“. Wie im Wahlkampf, so auch jetzt, wird alles, ja alles, einer eindimensionalen Schwarz-Weiß-Betrachtung unterworfen. Hier die guten Demokraten, da die bösen Republikaner. Hier Hell-Blau und da Dunkel-Rot. Hier Trump und da Nicht-Trump. Grautöne, Schattierungen, kritisches Abwägen von Fakten und Argumenten? – Fast komplette Fehlanzeige!
So fällt es -momentan jedenfalls – niemandem so recht auf, dass da neben dem medial auserkorenen Hyper-Pyrrhus noch ein zweiter Pyrrhus-Kandidat heranwächst. Als altes Schlachtroß des politischen Establishments ahnt es Joseph Robinette Biden wohl insgeheim bereits, was ihm da nach seiner Inauguration im Januar 2021 blühen dürfte. Fast ausschließlich als personifizierter „Nicht-Trump“ gewählt, fehlt ihm – so kurios es angesichts des epischen Wahlkampfes erscheinen mag – so etwas wie eine konsistente Programmatik, geschweige denn so etwas wie ein markantes politisches Leitmotiv.
Was ist Deine Vision, Joe?
Dem „Yes we can!“ seines alten Chefs Barack Obama oder dem Trumpschen „Make America great again“ hat er nichts vergleichbares entgegenzusetzen. Wo damals 2008 und 2016 Visionen – wenngleich höchst unterschiedlicher Art – keimten, gähnt aktuell ein tiefes Loch. Ob der verschiedentlich artikulierte Slogan á la „Versöhnen statt spalten“ ausreichen wird, um die Lücke zu schließen, muss derzeit noch offen bleiben. Das hohe Alter des 46. US-Präsidenten lässt per se wenig Zeit und Raum für große Zukunftsentwürfe. Eventuell tut dem geschundenen Land das niedrigere Profil des bald 78jährigen sogar gut. Denn es dürfte zwischen Los Angeles und New York nicht wenige geben, die des lauten Streits müde sind.
Methusalem als Herkules?
Hinzu kommen eine Unzahl von akuten Mammutaufgaben, die selbst deutlich jüngere Protagonisten auf dem Präsidentenstuhl überfordern würden: Eine nicht ausgestandene Pandemie, eine Wirtschaftskrise, wie sie Amerika nach dem 2. Weltkrieg noch nicht erlebt hat und vor allem ein mitten durch die Mitte tief gespaltenes Land, mit einem innergesellschaftlichen Graben über den sich momentan nur windschiefe Holzbrücken spannen.
Jedes einzelne dieser Probleme gehört für sich genommen schon in die Kategorie Herkulesaufgabe. Dass dann auf den kurvenreichen Lösungswegen auch noch Querschüsse vor allem der linken Demokraten und der republikanischen Mehrheit im Senat und am Supreme Court lauern, macht die Aufgabenstellung beinahe zum Himmelfahrtskommando.
Pyrrhus siegte nicht allein
Wenn aber Joe Biden – um in unserem Bild zu bleiben – ein Pyrrhussieger ist, was ist dann mit denen, die mit ihm ins Boot gestiegen sind? Mit seinen Parteigängern, seinen medialen Claqueuren, seinen Schildknappen? Gilt da der alte Spruch vom Sitzen im gleichen Boot? Müssen sich die, die ihn als „Nicht-Trump“ gepuscht und besungen haben, auch Sorgen um ihre eigene Abschlussbilanz machen?
Nur bedingt! Denn es ist das Privileg des Schlachtenbummlers nicht auf dem Feld stehen zu müssen, wenn die Einschläge näherkommen. Das gilt in besonderer Weise auch für die Kerntruppen der Medienszene diesseits und jenseits des Atlantik. Mit einem unverrückbar negativen Trump-Bild im Kopf haben alle wesentlichen Redaktionen, vor allem die gebührenfinanzierten, unablässig auf den Querulanten aus Washington D.C. eingedroschen. Immer unter dem Motto: Wie kriegen wir ihn wieder weg? Wie befeuern wir sein Image als Polit-Clown und wie lassen wir ihn auflaufen?
Lichtgestalten ohne Konturen
Merkwürdig dabei war von Anfang an die Tatsache, dass seine eigentlichen politischen Antipoden dabei kaum nennenswerte Konturen bekamen. Die Reality Show mit dem skurrilen Herrscher im Weißen Haus in der Hauptrolle nahm so viel Platz ein, dass gar keine Zeit blieb, die Ziele und Programme der Gegenkandidaten zu thematisieren oder gar zu hinterfragen. In diesem Kontext hatten zuerst Hillary Clinton und nun Joe Biden eine Art Dauer-Abo auf die Kategorie „Lichtgestalt gegen Dunkelmann“. Als Hoffnungsträger für eine bessere Welt ohne Trump wurden sie – fast ohne nennenswerte Nachfragen – immer wieder gelobt, gefeiert, ja bejubelt. Ihr tatsächliches Format als zukünftige bzw. designierte Präsidenten der Weltmacht USA wurde kaum hinterfragt.
Was der breite Strom der Medien über all dem wieder einmal vergaß, war die Erfüllung des eigentlichen Auftrags. Wieder wurde weder faktenbasiert eingeordnet noch kritisch abgewogen. Wieder stand nicht die Aufklärung von Hintergründen, sondern das vordergründige Abwatschen auf der Agenda. Und wieder wurden nicht die Positiva und Negativa der beiden Lager gegeneinander gestellt und gewichtet, sondern wo immer möglich „Haltung gezeigt“ und Partei ergriffen.
Selbstbestätigung statt Analyse
Weder in den Hauptnachrichtensendungen, noch gar in den Politmagazinen oder Talkshows kamen Andersdenkende in nennenswerter Zahl zu Wort. Wenn sich wider Erwarten doch einmal ein leibhaftiger „Trumpist“ in eine hiesige Talkrunde verirrte, diente er maximal als Feigenblatt und ihm wurde – eingerahmt von 5 oder 6 „USA-Experten“ – über eineinhalb Stunden Mores gelehrt. – Und bei alldem leider wieder einmal nie der ernsthafte Versuch beiden Seiten gleichermaßen gerecht zu werden.
„Schade ums Geld!“- möchte man in diesem Zusammenhang als leidgeprüfter Gebührenzahler sagen. Schade aber auch um große Teile der medialen Zunft selbst, die bei aller Siegerlaune nicht vergessen sollten, dass es einfach nicht reicht gebetsmühlenhaft Glaubwürdigkeit vom Objekt der Berichterstattung einzufordern, wenn der Journalismus selbst seine Integrität nicht stetig durch kritische Distanz und journalistische Objektivität belegt.
Bilanzieren bevor es losgeht?
Am Schluss bleibt die spannende Frage – auch im Blick auf das transatlantische Verhältnis – was kann Biden tun bzw. was muss ihm gelingen, damit er dem Pyrrhus-Schicksal doch noch entgeht? Das Virus besiegen? Die US-Wirtschaft aus der Krise führen? Die Börsen in Schwung halten? Zusammen mit Europa das Klima retten (Pariser Klimaabkommen)? Das iranische Atomabkommen reanimieren? Die europäischen NATO-Partner von der Forderung nach echtem „Burden Sharing“ befreien…?? -Ok! Halt! Superman reloaded wäre wohl tatsächlich ein bißchen viel verlangt!
Und außerdem: Wie steht es um einem politischen Hoffnungsträger, der massenhaft (kleine) Atomkraftwerke bauen will, um das Klima zu retten? Oder: Wie erklärt Biden den US-amerikanischen Juden und dem engen Verbündeten Israel ein jähes Rollback zugunsten der iranischen Mullahs? Und war der Trumpsche Ernstfall in Sachen „Burden Sharing“ nicht die einzige Chance um EU-Europa aus der außen- bzw. sicherheitspolitischen Lethargie zu befreien?
Reunited-Project
Also Fokussierung auf die eine große Schlüsselaufgabe: Nämlich Überbrückung der inneramerikanischen Gräben. Das tief gespaltene Land zusammenführen und die 70 Millionen „Trumpisten“ irgendwie reintegrieren! – Das wärs! Wenn ihm das zumindest in Ansätzen bis 2024 gelingt sollte, könnte er sich auf stupende Weise vom Pyrrhus-Etikett befreien.
Leider stehen die Sterne in dieser Sache nicht gerade günstig. Kamala Harris, sein Running Mate, Bernie Sanders, sein letzter Konkurrent in den Primaries und Alexandria Ocasio-Cortez, alias A.O.C., die Nachwuchs-Sozialistin aus New York-City, also die führenden Protagonisten des linken Flügels der Demokratischen Partei, werden ihren Siegerlohn in jedem Fall nachdrücklich einfordern. Die drei genannten Lieblinge des „progressiven Amerika“ sehen sich eindeutig als „Königsmacher“ und werden alles daran setzen, um ihr großes gesellschaftliches Umbau-Projekt über die Instrumente Identity Politics, Cancel Culture und Big Governement durchzusetzen. Nie war die Chance größer als jetzt, die konservativen Traditionalisten endgültig an die Wand zu drücken.
Winner or Loser?
Genau hier auf diesem schwierigen innerparteilichen, aber vor allem auch innergesellschaftlichen Gefechtsfeld wird sich entscheiden, welches politische Urteil über Bidens Präsidentschaft am Ende gefällt wird. Wünschen wir dem alten Joe, dass er nicht als Jimmy Carter 2.0 in die Annalen der US-amerikanischen Geschichte eingehen wird. Und wünschen wir ihm Glück und Fortune bei der Zähmung der innerparteilichen Opposition und vor allem bei seinem „America reunited-Project“. Pyrrhus kann gerne in der Gruft bleiben. Am Schluss werden wir ihn nicht vermissen.