Auswählen können, ist ein Privileg. Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen auf unserem Erdball kommt selten in den Genuß von echten Auswahlentscheidungen. In der Regel müssen sich die Menschen zufrieden geben, mit dem was da ist, und das ist oft dürftig und von chronischem Mangel geprägt. Dass es gar echte Auswahl im Politikregal gibt, ist global betrachtet, noch seltener. Sehr oft ist zwar von Demokratie die Rede, aber leider nur auf dem Papier. Der Reigen der Kandidaten ist üblicherweise eng begrenzt, von oben „gesetzt“ und oft feinsäuberlich „handverlesen“. – Insofern sollten wir uns im Blick auf den 26. September nicht allzu sehr grämen: Wir haben im Gegensatz zu vielen Menschen außerhalb Europas tatsächlich eine Wahl. Wenn auch – wie die aktuelle Lage zeigt – alles andere als eine einfache Wahl.
Warum es im Blick auf den 26. September so schwierig ist, sich zu entscheiden, hat zunächst mit einem politischen Kuriosum zu tun, das einerseits zwar neue Optionen eröffnet, andererseits aber auch viel über die eigentümliche Grundkonstruktion unserer Nachkriegsrepublik aussagt.
Kanzlerin geht (freiwillig) von Bord
Erstmals in der Geschichte der deutschen „Kanzlerdemokratie“ tritt ein(e) Amtsinhaber(in) – trotz weiterhin bestehender Mehrheit im Parlament – freiwillig nicht mehr „zur Wahl an“! In allen 19 vorangegangenen Bundestagswahlen waren die Amtsinhaber entweder noch mal „angetreten“ oder vorher aufgrund fehlender parlamentarischer Unterschützung aus dem Amt geschieden. In besonderer Erinnerung sind hier die politischen Schicksale von Konrad Adenauer, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl, die am Ende ihrer jeweiligen Karriere als Kanzler – sozusagen ante electionem – vorzeitig das Handtuch werfen mussten.
Ab jetzt ohne Merkel
2021 ist das definitv anders! Die Amtsinhaberin hätte durchaus noch mal antreten können. Die Mehrheiten für eine erneute Nominierung wären da gewesen. Kurioserweise nicht nur aus den Reihen der eigenen Partei, sondern fast noch deutlicher aus den Reihen der politischen Konkurrenz (SPD und Grüne), die allzu gerne der Ära des Merkelismus noch einige weitere Jahre angehängt hätten.
Dieser Umstand läßt eigentlich nur eine Schlußfolgerung zu: Ein nicht unerheblicher Teil des Wahlvolks in Deutschland liebt die Kontinuität, sei sie auch noch so überständig und ausgelaugt. Der seit der Adenauer-Ära vielfach variierte Wahlslogan nach dem Motto „Keine Experimente!“ schwebte über Jahrzehnte wie ein Menetekel über den Wahlurnen und ließ kaum nennenswerten gedanklichen oder auch realen Spielraum für echte Konkurrenzkämpfe oder gar „offene Rennen“ um die Macht.
Kandidatensterben
Ein weiterer Grund für die Qual der Wahl hat ebenfalls mit der Amtsinhaberin zu tun, nicht jedoch mit ihrem „freiwilligen“ Verzicht, sondern mit ihrer offensichtlichen Unwilligkeit einen starken „Nachfolger“ neben sich zu dulden. In kaum einer Kanzler-Ära wurden so viele potentielle Nachfolgekandidaten aus den eigenen Reihen in die Wüste geschickt wie unter Merkel. Als Paradebeispiel sei hier nur Friedrich Merz erwähnt, der in seiner politischen Laufbahn von Angela Merkel gleich 3mal auf die hinteren Plätze verwiesen wurde – 1mal als Fraktionsvorsitzender und 2mal als Kandidat für den Parteivorsitz.
Insofern ist genau das eingetreten, was in der Regel immer eintritt, wenn ein übermächtiger Langzeitherrscher seine Kronvasallen dezimiert und es versäumt sich rechtzeitig um die „Zeit danach“ zu kümmern: Verlegenheit statt klare Alternative und Verwirrung statt klare Orientierung!
Die Stunde der Wettbewerber
Aber halt: Wäre das nicht die große Stunde der politischen Konkurrenz? Die große Chance, der „Dauerregierungspartei“ ihre Führungsposition zu entreißen? Ein Nachfolgekandidat ohne „Kanzlerbonus“, der im Popularitätstief steckt und der sich in den unionsinternen „Primaries“ nur mühsam gegen einen Wettbewerber aus den eigenen Reihen durchgesetzt hatte, ist doch reif für die Oppositionsbank, oder?
So sehr wir uns bemühen und so gerne wir bereit wären, Stilfragen hintanzustellen oder Schwächen auf dem Felde der Rhetorik bzw. der persönlichen Ausstrahlung zu ignorieren. Das schmalbrüstige Kandidatentableau der beiden Hauptkonkurrenten macht es einfach unglaublich schwierig, das Kreuz mit Überzeugung an anderer Stelle zu setzen.
Dass Annalena Baerbock mitten im Wahlkampf Wochen brauchte, um ihren Lebenslauf zu redigieren und Olaf Scholz, trotz seines „Vizekanzlerbonus“, seine „Einrahmung“ durch eine dezidiert linke Parteiführung in den letzten Wochen nur mühsam kaschieren konnte, müsste Armin Laschet eigentlich Flügel verleihen. Dass er sich mit dem Auftrieb dennoch schwer tut, hat nicht nur mit dem „Lacher“ im Flutgebiet zu tun, sondern dürfte mit der Kampagne an sich zusammenhängen, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand.
Programmatische Nähe
Wer über Wahlen spricht, spricht über Personen. Über Galionsfiguren, über Köpfe, über die Durchsetzungsstärke von Entscheidern. Aber was ist mit den Wahlprogrammen, mit den Inhalten, die hinter den „Kanzlerkandidaten“, hinter den Wahlkreisabgeordneten, hinter den Wahllisten stehen? Sind es nicht die unterschiedlichen Inhalte, die uns die ersehnte Hilfestellung für unser Votum geben?
Leider auch nur eingeschränkt, denn nie zuvor waren sich die Parteien der linken und der rechten Mitte programmatisch so nah, wie bei dieser Wahl. Alle drei potentiellen „Kanzlerparteien“ reden über die gleichen Dinge: Über das Klima, über Europa, über soziale Sicherung und – nach Afghanistan – ein bißchen über Außenpolitik und daraus abgeleitet sehr leise auch über innere Sicherheit. Und alle scheinen – entgegen anderslautender Prioritätensetzungen des Wählers – auf dieselbe Themenhierarchie und zuletzt auch auf die dieselben Grundaussagen zu setzen.
Wettbewerb nur in Nuancen
Wer baut die meisten Windräder? Wer steigt am schnellsten aus der Kohle aus? Wer ist der glühendste Europäer? Wer macht die Rente sicherer? Wer bringt die meisten afghanischen „Ortskräfte“ nach Deutschland? – Entgegen den großen Problemstaus in der Europapolitik, in der Migrationspolitik oder in der Energiepolitik werden selbst in den medialen „Wahlkampfarenen“ Kontroversen eher gemieden und unterschiedliche Positionen in der Regel nicht strittig ausgefochten, sondern eher hinter Wortgirlanden verborgen.
Abwanderung von Themen auf die Flügel
An dieser Stelle ein Wort zu den „kleinen“ Parteien, die aufgrund der Schwäche der drei „Großen“ längst keine kleinen Parteien mehr sind. Zusammengenommen vereinen diese bereits rd. 40 % der Wählerschaft auf sich und greifen an wichtigen Stellen politische Themen auf, die von der Union, der SPD und den Grünen oft leichtfertig vernachlässigt werden und benennen zum Beispiel in der Sozialpolitik (Die Linke), in der Migrationspolitik (AfD) und inm der Grundrechtspolitik (FDP und Freie Wähler) akute Problemstellungen, die in den Statements der drei Kanzlerkandidaten – aufgrund der oben erwähnten Konsenslinie – kaum oder gar nicht angesprochen werden.
Die Tatsache, dass immer mehr Stimmenanteile entweder aus dem Bereich der „Triade“ aus Union, SPD und Grünen abfließen oder lediglich innerhalb der drei Kontrahenten verschoben werden – derzeit wächst die SPD auf Kosten der Union!- müsste eigentlich bei den Parteistrategen die Alarmglocken klingeln lassen. Das heißt, immer mehr strittige Themen- und Problemstellungen wandern auf die Flügel ab, während sich die Parteien, die zumindest dem Anspruch erheben „Volksparteien“ zu sein, mit großer Hartnäckigkeit an Single-Issues wie dem „Klimawandel“ abarbeiten.
Linksverschiebung
Die große Crux des Wahljahres 2021 ist die Tatsache, dass sich – bis auf die AfD sowie Teile der FDP und der Linken – kaum jemand so richtig von der Merkel-Ära verabschieden möchte. Merkels Avancen an die politische Linke in fast allen großen Politikfeldern während der 16 Jahre ihrer Kanzlerschaft haben die eigene Partei in zentralen Politikbereichen nach links geschoben. Auf diese Weise ist eine Art „neue Mitte“ im linken Politik-Spielfeld entstanden, in dem sich ehemalige Kontrahenten so eng zusammendrängen, dass die Mannschaften von der Tribüne aus kaum noch voneinander zu unterscheiden sind.
Stammwähler verloren
Neben dem ausführlich beschriebenen „Kandidatenproblem“ haben die Orientierungsdefizite breiter Wählerschichten vor allem mit dieser gravierenden Achsenverschiebung des politischen Spektrums zu tun. Die CDU, die eigentliche „Gründungspartei“ der Bundesrepublik Deutschland, hat alle wesentlichen Grundpositionen, die sie noch in den 80er und 90er Jahren programmatisch forciert hat, geräumt und dabei einen nicht unwesentlichen Teil der Wählerschaft entweder – vor allem nach „rechts“ – verloren oder in eine politische Grauzone abgeschoben.
Die durch Merkels 180 Grad-Wendungen vor allem in der Gesellschafts-, Migrations- und Energiepolitik gewonnene „Laufkundschaft“ konnte auf der anderen Seite nur temporär an die Union gebunden werden. Diese Wählergruppen wandern aktuell – wenn die Demoskopie nicht trügt – Schritt für Schritt wieder zurück zu den Originalen und lassen die Christdemokraten auf eine immer schmaler werdende Wählerbasis schrumpfen.
Was bleibt, ist eine strukturelle 20 %-Partei, die ihre Kraft bisher vor allem aus dem „Mitregieren“ geschöpft hat und die es angesichts der Tiefenwirkung der programmatischen „Wende“ unter Merkel schwer haben dürfte, sich als führende politische Kraft der Republik weiterhin zu behaupten.
Ironie der Geschichte
Ob am Ende des Prozesses nach dem 26. September eine „Rot-Grün-dunkelrote“ Regierung stehen wird, ist – angesichts der Umfragewerte und eines fehlenden Unvereinbarkeitsbeschlusses der SPD in Richtung auf die Linke – längst nicht mehr ausgeschlossen. Dies wäre jedoch angesichts einer politischen Strategie der asymmetrischen Mobilisierung, mit deren Hilfe Merkel die Vormacht der Union als unverzichtbare Regierungspartei dauerhaft zementieren wollte, eine bittere historische Ironie. Einerseits ist es zwar gelungen Unterschiede sowohl zur roten als auch zur grünen Konkurrenz einzuebnen und Kanten abzuschleifen. Auf der anderen Seite steht jedoch der Machtverlust und eine große Wählerklientel auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat.
Am Schluss bleibt die Hoffnung, dass das nach Backbord gekippte Schiff trotz schwerer See nicht kentert, sondern wieder auf einen soliden Kurs mit klaren Wahloptionen zurückfindet.