Die Debattenkultur in unserem Land ist seit vielen Jahren notleidend. So notleidend, dass wir schon dachten, es könnte eigentlich nicht mehr schlimmer kommen. Doch wir wurden eines Anderen belehrt: Kamen schon die sog. „Flüchtlingsdebatte“, die „Euro-Debatte“ und große Teile der „Klima-Debatte“ als diskursive Tiefflüge daher, so lassen einen die aktuellen Auswüchse der „Corona-Debatte“ beinahe ratlos zurück.
Was haben wir in unserem Land in den letzten Jahrzehnten nicht alles unternommen, um die Bundesbürger vom herausragenden Stellenwert der sanktionsbefreiten, öffentlichen Debatte zu überzeugen. Angesichts einer doppelten Diktaturerfahrung fungierte die Republik in der Mitte Europas quasi wie ein großes Bürger-Seminar für das Erlernen demokratischer Diskurse. Und jetzt? Was ist jetzt?: Selbsteinschließung in Sprachkäfigen, politisch-moralische Diskreditierung der freien Rede, Hate-Speech-Kampagnen gegen Andersdenkende und sprachpolizeilich aufgeladene Tribunale, die fast schon in der Manier jakobinischer Wohlfahrtsausschüsse abweichende Meinungen sanktionieren oder daran gehen, die Abweichler selbst zu öffentlichen Bußübungen zu zwingen. Was ist da los? Gehts noch?
Es geht ums Ganze
Wer wissen will, was da generell im Feuer steht, muss sich noch einmal den besonderen Rang der Meinungs- und Diskursfreiheit in unserem pluralistischen System vergegenwärtigen. Sich frei zu äußern und die eigene Meinung in freier Rede öffentlich zu verbreiten, gehört zur unveräußerlichen Essenz freiheitlicher Ordnungen (Art 5 GG.). Das gilt insbesondere für den öffentlichen Widerspruch im politischen Diskurs.
Nur Gemeinwesen, die öffentlich artikulierte Widersprüche vor allem gegenüber aktivem Regierungshandeln zulassen und gleichzeitig rechtlich institutionalisieren, sind in der Lage konstruktive politische Meinungsbildung voran zu treiben. Nur im Bewußtsein alternativer Standpunkte und Sichtweisen lassen sich herrschende Meinungen korrigieren bzw. sinnvoll weiterentwickeln. Und nur wenn es gelingt Konfliktlinien sichtbar werden zu lassen und argumentative Benchmarks in Form von Gegenpositionen zu erarbeiten, gewinnt die Auseinandersetzung über den richtigen Weg, die notwendige Dynamik. Erst über diese Irritationseffekte und den dadurch ausgelösten Begründungsdruck entstehen gedanklicher Fortschritt und wächst die notwendige Urteilskraft des mündigen Bürgers.
Das große Rätsel
Vor diesem Hintergrund ist es absolut rätselhaft, warum wir seit einer Reihe von Jahren dabei sind, uns immer weiter vom eigentlichen Kern der politischen Debatte, nämlich vom nüchternen Ringen um das bessere Argument, zu verabschieden. Mittlerweile wächst zwar ganz langsam die Einsicht in die dadurch ausgelösten Kollateralschäden, vor allem bezüglich des inneren Zusammenhalts unseres Gemeinwesens. Wir machen aber trotzdem in wichtigen Politikfeldern unverdrossen weiter und erklimmen von Monat zu Monat immer neue Höhen auf der nach oben offenen Skala der Polarisierung und damit einhergehenden gesellschaftlichen Ausgrenzung.
#Alles dicht machen
Jüngstes Beispiel: Die Protestaktion einer Gruppe von rd. 50 Schauspielern aus Film und Theater gegen einzelne Aspekte der Coronapolitik der Bundesregierung, transportiert über kurze, politisch-satirisch zugespitzte Videosequenzen.*
Die rasch viral gehende Kampagne stieß – wie zu erwarten – auf ein geteiltes Echo. Kritisch beurteilt wurde zunächst vor allem die ironisch-satirische Zuspitzung, die vielfach als unangemessen und beleidigend empfunden wurde. Dass es den Initiatoren bei diesem gewagten Kunstgriff nicht darum ging, betroffene Menschen zu diskreditieren, sondern auf unkonventionelle Weise offensichtliche Widersprüche in den diversen Maßnahmenpaketen aufzudecken und akute Nöte der eigenen Branche zu thematisieren, fand weniger Beachtung bzw. wurde von den meisten Kritikern der Aktion geflissentlich ignoriert.
Im Zuge der weiteren Verbreitung der Videos und im heftigen Kontrast zu dem am gleichen Tag verabschiedeten Infektionsschutzgesetz schaukelte sich die „Debatte“ innerhalb von wenigen Stunden zu einem veritablen Shitstorm hoch. Immer wieder munitioniert durch aggressive Kommentierungen in den sozialen Netzwerken und begleitet von öffentlich zugänglich gemachten Listen von Unterstützern und Sympathisanten. Auf dem Höhepunkt des Ganzen schwappte eine regelrechte Bugwelle aus Empörung, Haßbotschaften, Forderungen nach Vertragskündigungen und Berufsverboten** sowie am Schluß sogar Morddrohungen durch den Äther.
Empörung statt Argumente
Was dem außenstehenden Betrachter auffiel, war die Tatsache, dass erneut so gut wie niemand ernsthaft den Versuch unternahm, der vorgebrachten Kritik mit echten Argumenten zu begegnen. Stattdessen verschwand alles Konkrete, alles Greifbare in einem riesigen Sog aus moralischer Entrüstung und vielstimmiger Verwünschung. Kaum jemand hielt es für notwendig nach Hintergründen zu fragen, sich mit der konkreten Situation der Initiatoren auseinanderzusetzen oder einfach einmal nachzuhaken, was denn eigentlich ein volles Jahr Berufsausübungsverbot mit den Menschen macht.
Was am Ende blieb, war ganz viel Empörung und Entrüstung auf der einen Seite und ganz viel Selbstbestätigung bei den Maßnahmenkritikern auf der anderen Seite und irgendwo dazwischen eine soeben noch mitteilsame, nun aber fast völlig sprachlos-eingeschüchterte Betroffenengruppe, belegt mit dem Makel der aufwiegelnden Dissidenz.
Es geht ums Prinzip
Um das an dieser Stelle noch mal klar zu stellen und um von vornherein Mißdeutungen vorzubeugen: Der kritische Blick auf das Geschehen gilt unabhängig von den Inhalten der inkriminierten Botschaften. Man muss mit dem Gesagten nicht übereinstimmen, um zu erkennen, dass hier etwas fundamental schief läuft. So schief, dass es in diesem Land anscheinend gar nicht mehr möglich zu seien scheint, kontroverse Themen in normalen, konstruktiv gewinnbringend geführten Debatten zu verhandeln. Bevor der Diskurs überhaupt begonnen hat, ist die eigentliche Substanz des Streitgesprächs bereits in einem lauten Getöse untergegangen.
Dabei müsste uns eigentlich allen klar sein, wie wichtig es wäre, angesichts einer kaum mehr überschaubaren Ansammlung von Verboten, Grundrechtseinschränkungen und den immer wieder gleichen Lockdown-Maßnahmen, einmal offen und ohne Schaum vorm Mund über die Frage zu diskutieren, was das Ganze eigentlich für die Menschen bedeutet, die zu Hause alleine in ihren engen Wohnungen sitzen, die ihre Kinder und Enkelkinder nicht besuchen können oder die kurz davor stehen ihre gesamte ökonomische und soziale Existenz zu verlieren. Haben die auch Rechte? Müssen wir diese Klientel als unvermeidliche Kollateralschäden verbuchen oder sind das nicht auch menschliche Schicksale, denen wir uns über verspätete „Novemberhilfen“ und ausgesetzte „Insolvenzantragspflichten“ hinaus, aktiv zuwenden müssen?
Abwägen statt Schwarz-Weiß
Das angemessene Abwägen der Handlungsoptionen im Spannungsfeld zwischen dem Verhältnismäßigkeitsgebot und einer gerechten Lastenverteilung ist schwierig – zugegeben! Aber dennoch unvermeidlich! Manches scheint hier in Bewegung zu kommen, aber leider nur zaghaft. Was den Erkenntnisprozess weiter hemmt, ist der verkorkste Diskurs, der Schwarz-Weiß-Szenarien präferiert und selbst verhaltene Kritik rabiat niederbügelt.
Nochmal: Wer Andersdenkenden sofort und unhinterfragt unlautere Absichten unterstellt, sie dafür brandmarkt, dass ihre Meinungen auch von Leuten geteilt werden, die man außerhalb der politischen Reputationszone verortet, sie also mit einer Art Kontaktschuld belegt, spaltet nicht nur einzelne Gruppen voneinander, sondern spaltet Land und Gesellschaft.
Es wird höchste Zeit, die Schützengräben dieseits und jenseits der Frontlinie zu verlassen. Statt aufeinander verbal mit immer größeren Kalibern zu feuern, sollten wir schnellstmöglich wieder anfangen vernünftig miteinander zu reden. Einige verantwortungsbewußte Parlamentäre haben sich in den letzten Tagen bereits aus der Deckung gewagt und sich auf den Weg gemacht.***
Wünschen wir Ihnen Glück und hoffen wir auf ihren Erfolg. Weil so, das steht fest, kann es auf keinen Fall mehr weitergehen.
* Die Aktion wurde vor allem von politisch eher links zu verorteten Vertretern aus den Reihen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks getragen. Allen voran Tatort-Kommissaren, aber auch prominenten Theaterschauspielern mit landesweiter Bekanntheit. Die Youtube-Videos wurden von Youtube.com zwischenzeitlich aus der Suchfunktion entfernt. Die entsprechende Internetseite ist nur noch unregelmäßig erreichbar.
** Hervorzuheben ist hier vor allem der SPD-Politiker und WDR-Rundfunkrat Garrelt Duin, der unmittelbar nach Bekanntwerden der Videos, die Kündigung aller Verträge der Schauspieler mit den Rundfunkanstalten forderte.
*** Im Zusammenhang mit der Initiative allesdichtmachen.de kamen erste Gesprächsangebote vor allem von Bundesgesundheitsminister Spahn. Gleichzeitig zeigte der Unions-Kanzlerkandidat Laschet in einer Talk-Runde im WDR Verständnis für die Anliegen der Kritiker und verwahrte sich nachdrücklich gegen Forderungen nach weiterer Ausgrenzung.