Noch vor wenigen Wochen hätten wir alle Themen rund ums Militärische angstvoll gemieden. Soldaten-Jargon oder gar Casino-Ton waren komplett out. Gewaltkonnotierte Sprache war restlos tabu. Jetzt plötzlich scheint irgendwie alles anders: Schlachten werden geschlagen, Panzer rücken vor, Truppen werden verschoben und Helden werden geboren. Das alles scheint schon verrückt genug. Leider wird vielen Betrachtern die Wucht der rhetorischen Wende noch nicht einmal bewusst. Die Einbettung des aktuellen Kriegsgeschehens in der Ukraine in bekannte, stark moralisierende Narrative suggeriert Kontinuität dort, wo gar keine ist.1
Zunächst zum Hauptproblem selbst, nämlich zur fortschreitenden Verdrängung des Dialogischen. Was haben wir in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht alles getan, um in allen Lebenslagen dialogische Konzepte zu etablieren. Im Konfliktmanagement, in der Partnertherapie, in der Kindererziehung, in der Unternehmensberatung und wie selbstverständlich auch im diplomatischen Verkehr.2
Dialogische Kompromissfindung
Das Zuhören wurde zur hochwertigen Dienstleistung. Dass Sich-Aussprechen beim Arzt zur kostenübernahmefähigen Kassenleistung und die dialogische Kompromissfindung zum allgegenwärtigen Anspruch an jede Form von öffentlicher Debatte.
Dass der säkulare Trend zum Dialogischen schon in den letzten Jahren notleidend wurde, ist vielen von uns, trotz der zunehmenden Polarisierung der politischen Diskurse im eigenen Land, nur in Ansätzen bewusst geworden. Das es so etwas geben könnte, wie leibhaftige „Klima-Leugner“ oder echte „Corona-Leugner“, musste uns über die geballte Medienmacht insbesondere der Öffentlich-rechtlichen erst mühsam beigebracht werden. Auch mit der Erkenntnis, dass Politik im Wesentlichen aus „alternativlosen“ Königswegen besteht, hatten wir anfänglich unsere Probleme. Wir waren so auf das Aushandlungsprinzip und auf seine dialogische Methodik fokussiert, dass uns platte Freund-Feind-Schablonen in engen Diskurskorridoren einfach nicht einleuchten wollten.
Rhetorische Schlachtfelder
Der ultimative Bruch mit dem dialogischen Prinzip scheint sich nun im Kontext des Ukraine-Krieges zu vollziehen. Was vorher noch wie eine Trockenübung auf wasserarmen Diskursebenen anmutete, wird nun zur rhetorischen Vernichtungsschlacht ohne Hoffnung auf tragfähige Kompromisse und ohne erkennbare Bereitschaft zur verbalen Abrüstung.
Seit dem 24. Februar heißt es schlicht und einfach: Wer am Verhandlungstisch debattiert, macht sich – ob gewollt oder ungewollt – zum Mittäter. Wer es wagt zwischen den Antagonisten zu vermitteln, wird entweder gemaßregelt oder postwendend an den Pranger gestellt. Die Indifferenten, die Gemäßigten bzw. diejenigen, die bislang die weiten Nicht-Kampfzonen der bürgerlichen Mäßigung bevölkert haben, werden der „Lauheit“ bezichtigt oder gar als Kollaborateure gebrandmarkt.
Wir gegen die!
Wer sich jetzt nicht offen bekennt, ist out. Wer nicht in den Rigorismus eines harten Entweder-Oder verfällt, bleibt außen vor. Und wer nicht den bewaffneten Aufmarsch der kompromisslosen Überzeugungen das Wort redet, dem wird schon im Vorfeld die diskursive Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen.3
Wie konnte es soweit kommen? Vor allem wie konnten so viele Protagonisten der classe politique und so viele ihrer medialen Sendboten das zulassen oder sogar aktiv begünstigen?
Rolle des Staates
Zieht der moderne Staat nicht seine komplette Legitimation aus dem Vermittlungsauftrag, aus seiner Funktion als neutraler, unparteiischer Intermedär zwischen gegensätzlichen Interessen? Hat der Bürger nicht vor allem deshalb seiner Entwaffnung, seiner fortschreitenden Domestizierung zugestimmt, weil er sich sicher war, dass der Staat mit seiner verbeamteten Staatsdienerschaft nach innen und nach außen für (Rechts-)Frieden und Ausgleich sorgen würde?
Diese Sicht auf den Staat als neutraler Mittler, als Friedensgarant beschreibt leider nur die eine Hälfte der Wahrheit. Denn wie vor allem die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts belegt, reicht es selbst in den diskursfreudigsten Demokratien schon aus, Staat und Gesellschaft die Pistole auf die Brust zu setzen, um ein abruptes Ende der Debatte zu bewirken.
Putins Pistole
Wer sich also heute im Frühsommer 2022 auf die Suche nach dem öffentlichen Diskurs macht oder sich fragt, wo sie denn geblieben ist, die schon seit Jahren notleidende Debattenkultur in unserem Land, braucht nur an Putins Pistole vor unserer Brust zu denken, um zu verstehen in welcher akuten, auch psycho-politischen Notlage wir uns befinden.
Die kriegerischen Ereignisse im Donbas, vor Charkov und in Mariupol lassen alte Denkmuster wieder virulent werden, die wir längst überwunden zu haben glaubten. Carl Schmitts These, dass das Wesen des Politischen in der schlichten Unterscheidung von Freund und Feind läge und souverän nur der sei, der über den Ausnahmezustand entscheide, kehrt mit Wucht zurück auf die Bühne.
Freund-Feind-Denken
Seinen Niederschlag findet dieses voreilig für obsolet erklärte staatstheoretische Diktum mittlerweile in weiten Bereichen unserer politischen und medialen Wirklichkeit. Und obwohl wir die Kampfrhetorik eigentlich auf den Aggressor selbst richten sollten, driftet das rhetorische Feuerwerk zunehmend in nationalistisches Fahrwasser ab. Der Fokus auf „Putin“ verlagert sich immer öfter auf „die Russen“, die es zu bekämpfen bzw. zurückzudrängen gilt.
Neben den sogenannten Oligarchen geraten dabei vermehrt auch Künstler, Sportler und Wissenschaftler russischer Provenienz in den Fokus. Alles wird dem Kampf gegen den äußeren Feind untergeordnet. Das Innenpolitische, das Soziale, das Kulturelle verschwindet hinter einem mächtigen Drang zur Feindaufklärung und zur Feindbekämpfung. Fast manisch verfolgen wir die Kriegsberichte, hängen an den Lippen des olivgrünen Heldenpräsidenten und senden unzählige Solidaritätsadressen an die kämpfende Front.
Rhetorischer Ausnahmezustand
So verachtenswert der russische Angriffskrieg auch sein mag und so grausam die Opfer vor allem unter ukrainischen Zivilisten sind, der Krieg wird nicht durch einen Sieg der Ukraine über Rußland oder gar über ein militärisches Eingreifen des Westens, sondern nur am Verhandlungstisch zu beenden sein. Früher oder später werden die Kontrahenten einen Kompromiss schließen müssen, möglichst bevor die Auseinandersetzung über die Grenzen der Ukraine hinaus eskaliert.
Das Kardinalproblem ist, dass wir uns derzeit zu stark von den psychodynamischen Urkräften des Um-die-Wette-Rüstens und des Um-die-Wette-Mobilisierens gefangen nehmen lassen. Selbst die jahrzehntelang gereifte Erkenntnis, dass souveräne Politik nicht primär dafür da ist, Ausnahmezustände zu verwalten, sondern viel eher die Aufgabe hat, den Normalzustand zu garantieren, scheint – nicht zuletzt vor dem Hintergrund von zwei Jahren intensiver Lockdown-Erfahrung – wie verschüttet.
Es wird Jahre brauchen und unglaublich viel Kraft kosten bis wir wieder den Normalzustand einer zivilisierten Mäßigung im Meinungsstreit und einer nachhaltigen Entwaffnung der politischen Rhetorik erreicht haben. Wir sollten schnellstmöglich damit beginnen. Die Zeit drängt.
1 Die deutschen Grünen, die sich momentan besonders vehement für die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine einsetzen, sind peinlich darauf bedacht, die Waffenthematik als Fortsetzung ihrer pazifistischen Friedensmission zu beschreiben. Die besondere historische Verantwortung Deutschlands als Aggressor im Vernichtungskrieg gegen Russland ab Juni 1941 spielt dabei keine erkennbare Rolle. Vgl. hier auch meine Kolumne vom 10. April 2022.
2 Vgl. hier und im Folgenden vor allem Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat, Berlin 2022, S. 239ff. und S. 248ff.
3 Einen vergleichbaren „Aufmarsch der Überzeugungen unter Waffen“ erlebte die europäische Menschheit in den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts. Es bedurfte erst der schockierenden Wirkung der wechselseitigen Vernichtungsdrohung um das Verlangen nach Neutralisierungen, nach „dritten Bereichen“ zwischen den Konfessionsparteien zu stärken. Am Ende war es genau das im modernen Sinne „Politische“, das sich als die zwischen den konfessionellen Lagern vermittelnde Instanz etablierte. Die religionspolitische Neutralität des neuzeitlichen Staates schaffte erst den Raum für eine nachhaltige Befriedung der Gesellschaft.