Wenn dieser Ruf erschallt, muss es meistens schnell gehen. Zusammenpacken, das Nötigste schultern, ein letzter Blick nach vorn und dann nichts wie weg. Mit kurzen Sprüngen von Deckung zu Deckung nichts wie raus aus der Gefahrenzone. Dieses landläufige, von Kriegsfilmen geprägte Bild vom „Rüückzuug“ steht jedoch nur für die halbe Wahrheit. Denn im gängigen Militär-Jargon wird feinsäuberlich unterschieden zwischen der taktischen Gefechtsvariante des Rückzugs und der nackten Flucht. Wer sich im Gefecht zurückzieht, vom Gegner löst oder „ausweicht“, tut dies kontrolliert, nach Plan, in der Regel gedeckt durch eine Nachhut und nur soweit bis mit dem Erreichen der „inneren Linie“ das Gleichgewicht zwischen Angreifer und Verteidiger wieder hergestellt ist. – Aber was hat das alles mit unserer durchpazifizierten Wirklichkeit zu tun? Was kann der dem Militärischen Entwöhnte mit solchen Begrifflichkeiten heute überhaupt noch anfangen? Ist die einzige, heute noch gängige Bewegungsart, nicht der „Fortschritt“? Und überhaupt: Wohin soll er denn gehen der Rückzug auf unserer waidwunden Kugel?
Wer sich der komplexen Rückzugsmetapher dennoch nähern will, tut dies am besten über konkrete Beispiele: Afghanistan ist so ein Beispiel. Kaum ein Erdenwinkel wurde in seiner Geschichte so oft von spektakulären Rückzügen geprägt, wie das karge Land am Hindukusch. Gleich dreimal in den letzten rund 150 Jahren haben sich Imperien an dieser unzugänglichen Gebirgsregion buchstäblich die Zähne ausgebissen. Erst die Briten im Laufe des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts*, dann die Sowjets in einem mörderischen Guerillakrieg Ende des 20. Jahrhunderts (1979-89) und nun auch das „westliche Bündnis“, angeführt durch die Supermacht USA, nach fast genau 20 Jahren hartnäckigem Kleinkrieg (2001-21).**
Asymmetrischer Konflikt
Was lässt sich aus diesen gescheiterten Feldzügen lernen? Oder besser: Lassen sich Kriege ohne klaren Frontverlauf und ohne klaren Sieger überhaupt beenden? Leider – wie die Geschichte an unzähligen Beispielen belegt – nur in wenigen Ausnahmefällen. Und das obwohl sich ein Großteil der medialen Kriegsberichterstatter aktuell heftig bemüht eine Zäsur zu markieren bzw. die Heimholung der Truppen als Erfolg zu titulieren.
Vietnamisierung Afghanistans
Um zu erahnen, wie es weiter geht, genügt der Blick auf den Vietnamkrieg, ebenfalls ein asymmetrischer Konflikt am Ende der Welt und ebenfalls ausgetragen zwischen hochgerüsteten regulären Streitkräften auf der einen Seite und „Stammeskriegern“ bzw. Partisanen mit zweifelhaftem Kombattantenstatus auf der anderen Seite.
Was „der Westen“ in Afghanistan versucht, ist die „Vietnamisierung“ des Konflikts, nach dem Muster der Nixon-Administration Ende der 60er Jahre, als die US-Amerikaner begannen sich Schritt für Schritt aus Indochina zurückzuziehen, um den (süd-)vietnamesischen Verbündeten das (Schlacht-) Feld zu überlassen. Exit durch die Hintertür unter dem Deckmantel einer vermeintlichen „Regionalisierung“ des Konflikts. Schonung der eigenen Soldaten und des aufgeblähten Militäretats. Und nicht zuletzt: Beruhigung der heimischen Öffentlichkeit durch Rückzug und „Verantwortungstransfer“ an die Betroffenen vor Ort.
So klug dieser Schachzug im ersten Moment erscheinen mag, die sich daraus ergebenden Folgen für das Land am Hindukusch dürften ähnlich sein, wie damals Mitte der 7oer Jahre südlich des 17. Breitengrades: Demoralisierung der alten Verbündeten und grassierende Massendesertion. Unaufhaltsamer Vormarsch des weiterhin kampfkräftigen Gegners und komplettes Roll back. Vom Rückzug der letzten GIs aus Vietnam Ende März 1973 bis zur Eroberung Saigons durch nordvietnamesische Truppen und den Vietcong Ende April 1975 dauerte es gerade einmal 2 Jahre.
Nach uns die Taliban
Dass die Taliban es schneller schaffen als der Vietcong, ist angesichts des mehr als lamentablen Zustands der afghanischen „Regierungstruppen“ sehr wahrscheinlich. Dass es in diesem oder im nächsten Jahr in Kabul ähnliche Bilder wie am 30. April 1975 in Saigon geben wird, als US-amerikanische Militärhubschrauber verzweifelte Botschaftsangehörige und „Ortskräfte“ in letzter Minute aus der „grünen Zone“ der südvietnamesischen Hauptstadt ausflogen, ist keineswegs ausgeschlossen.
Doch selbst der Umstand, dass der kontrollierte Rückzug dann doch zur unkontrollierten Flucht werden könnte, wird den Konflikt nicht beenden. Wie damals der „Kalte Krieg“ noch viele Jahre weiterging, wird auch der Kampf des Westens gegen den islamischen Fundamentalismus mit der Evakuierung Kabuls nicht zu Ende sein. Es wird wieder ein neues Narrativ rund die Bilder geben, aber vielleicht werden wir dann das Etappenartige des Geschehens besser verstehen. Nicht nur weil wir uns an die Waghalsigkeit des alten Narrativs erinnern, sondern vor allem weil ein Teil dieses Krieges dann schon wieder in unseren Städten toben dürfte.
Weitere Rückzüge
Während der Fall Afghanistan und der Rückzug vom Hindukusch zumindest im Blickfeld der Öffentlichkeit steht, nehmen die Menschen im Westen von anderen, nicht weniger spektakulären Rückzügen kaum nennenswerte Notiz. Das hat einerseits mit der peripheren Lage der Rückzugszonen zu tun, ist vor allem aber der Ablenkung durch die seit Monaten dominierende Coronathematik geschuldet.
Wie selten zuvor in der Nachkriegsgeschichte sind die westlichen Staaten fast ausschließlich auf ihre eigenen inneren Belange fokussiert. Die jeweils rein nationale Perspektive auf das Virus überlagert alle anderen transnationalen Perspektiven und verhindert quasi chronisch das „Über-den-Tellerrand-Schauen“. Was insbesondere die Wahrnehmung der massiven Kolletaralschäden der Corona-Lockdown-Krise im sog. „globalen Süden“erschwert.
Rückzug aus der Armutsbekämpfung
Auch diese Phänomene lassen sich am besten über konkrete Beispiele transparent machen: Während die Vereinten Nationen vor Corona einen signifikanten Schwerpunkt in der weltweiten Armutsbekämpfung gesetzt haben und dabei auch beachtliche Erfolge erzielen konnten, haben sich die entsprechenden Zahlen in den letzten Monaten sprunghaft in die andere Richtung entwickelt. So ist die Zahl der lebensbedrohlich von Hunger Betroffenen nach Berechnungen der Welthungerhilfe seit 2019 um 20 Millionen auf rd. 155 Millionen Menschen gewachsen. Zudem hat sich die Zahl der Einkommensarmen, also der Erdenbewohner, die mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen müssen, im Pandemiejahr 2020 um sage und schreibe 120 Millionen erhöht.***
Kinder ohne Lobby
Die dominante Fokussierung auf die „nationale Gesundheit“ und hier insbesondere auf das Corona-Infektionsgeschehen führt jedoch nicht nur an der internationalen Armutsfront zu markanten Rückzugsbewegungen. Wie jüngst von der WHO publiziert, wurden allein im Jahre 2020, rd. 23 Millionen Kinder weltweit weder routine-mäßig gegen Masern noch gegen Polio- und Keuchhusten geimpft.
Die Weltgesundheitsorganisation macht für diese Entwicklung ausdrücklich die einseitige Fokussierung auf die Coronabekämpfung verantwortlich und rechnet vor diesem Hintergrund in den kommenden Monaten mit einer erheblichen Zunahme der Kindersterblichkeit. Dazu die Koordinatorin des WHO-Impfprogramms, Ann Lindstrand: „Die meisten Länder sind nur darauf fokussiert Millionen Impfdosen zu bekommen, um ihre Bevölkerung gegen Covid 19 zu impfen. Alles andere fällt erst mal hinten runter.“
Krisenherde in der Eskalationsspirale
Weitere Rückzüge aus dem transnationalen Kontext deuten sich an den unterschiedlichen geopolitischen Fronten, vor allem in Afrika und im Nahen Osten, an. Während Syrien seit 2011 bürgerkriegsbedingt und vor dem Hintergrund der Migrationsthematik auch in den Corona-Jahren noch eine gewisse internationale Aufmerksamkeit genoß, läuft der benachbarte Libanon unbeachtet mit Schwung auf einen dramatischen Staatskollaps zu. Neben den anhaltenden interreligiösen Kontroversen, sucht der Zedernstaat seit der „Explosions-Krise“ vom August 2020 nach einer handlungsfähigen Regierung. Das von Korruption und Mißwirtschaft geschüttelte Land treibt führerlos dahin und steht unmittelbar vorm Staatsbankrott. Während der Westen alle Hände voll mit sich selbst zu tun hat.
Albträume im Regenbogen-Staat
Ein letztes Beispiel: Südafrika! Schon vor Corona warnten Experten vor einem politischen und ökonomischen Desaster am Kap. Eine hochkorrupte Elite aus ANC-Funktionären hatte sich das Land am Kap der Guten Hoffnung über Jahre hinweg zur Beute gemacht. Mit „Polit-Schauspielern“ wie Jacob Zuma und Cyril Ramaphosa an der Spitze konnten weder die gravierenden wirtschaftlichen noch die signifikanten sozialen Probleme auch nur ansatzweise gelöst werden. Die Kriminalitätsrate erreicht weltweite Spitzenwerte und im Zuge der coronabedingten Krisenverschärfung brechen alte interethnische Konflikte mit Wucht wieder voll aus.****
Das Bittere ist, dass momentan in der medialen Berichterstattung noch peinlichst darauf geachtet wird, die diversen Konflikt- und Krisenphänomene als isolierte „Einzelfälle“ zu kommunizieren und zu bewerten. Während sich im Falle Südafrikas alle Augen auf die Verhaftung des Ex-Präsidenten Jacob Zuma als Krisenursache fokussieren, sind es auf Kuba die US-amerikanischen Sanktionen die das Volk angeblich zu Hunderttausenden auf die Straße treibt. Dass es sich dabei um Vorboten einer fundamentalen Post-Covid-Krise in weiten Teilen des Globalen Südens handelt, will nur wenigen in den Sinn.
Durchbruch nach vorn
Wenn es nicht gelingt spätestens ab 2022 die transnationalen Rückzugsbewegungen des Westens zu stoppen und die politisch-humanitären Schwerpunkte wieder neu zu setzen, droht der Einstieg in einen Eskalationsmodus, mit kaum absehbaren Folgen für die internationale Stabilität vor allem in den unterentwickelten Weltregionen. Sollte der Westen die einseitige Fokussierung auf die „nationale Gesundheit“ zum Jahresende nur durch einen mindestens ebenso einseitigen „Klima-Fokus“ ersetzen, wird die Zahl der „failed states“ mit Sicherheit drastisch zunehmen.
Hoffen wir, dass es in den kommenden Monaten nicht beim Status Quo oder beim Austragen von Nachhutgefechten bleibt. Und hoffen wir, dass der Westen seine Corona-Paralyse überwindet und politisch-humanitär wieder in die Offensive geht. Die Zeit drängt, denn der Rückweg nach vorn wird steinig genug.
* Das Britische Empire versuchte während des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts gleich 3mal (Anglo-afghanische Kriege 1839-42, 1879 und 1919) vergeblich die afghanischen Stämme zur Sicherung der Nordwestflanke von Britisch-Indien zu unterwerfen. Im 19. Jahrhundert waren die Operationen Teil des sog. Great Game zwischen dem zaristischen Rußland und Großbritannien um die Vorherrschaft in Zentral- und Südasien. Besonders spektakulär war die Niederlage der Briten am Kaiberpaß im Jahre 1842. („Nur einer überlebte Englands schwerste Niederlage“, DIE WELT, 13.1.2017)
**Die im September 2001 ursprünglich als „Strafaktion“ gegen die Terrororganisation Al Kaida angelegte Afghanistan-Mission weitete sich in den Folgejahren zu einer das ganze Land erfassenden Operation gegen die Taliban aus, die vor allem in den südlichen und östlichen „Paschtunen-Provinzen“ geführt wurde. Die Hauptlast trugen stets die US-Amerikaner, die vor allem ihre massive Luftüberlegenheit ausnutzten, um den fast ausschließlich aus dem Hinterhalt kämpfenden Gegner am Boden zu bekämpfen. Der Einsatz der Bundeswehr im vermeintlich „ruhigen Norden“ kam nie über eine bewaffnete Entwicklungshilfe-Mission hinaus. In Berlin weigerten sich die politisch Verantwortlichen jahrelang überhaupt von „Krieg“ zu sprechen. Den Truppen vor Ort (über insg. 20 Jahre hinweg rd. 150.000 Bundeswehrangehörige; in der Spitze rd. 5000) wurden sogar schwere Waffen zum Selbstschutz verweigert. Die 59 gefallenen Bundeswehrsoldaten fanden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit kaum nennenswerte Beachtung. Bei der Rückkehr der Truppenkontingente glänzten aunahmslos alle Verfassungsorgane durch Abwesenheit. Interessant in diesem Zusammenhang die Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der LINKEN-Fraktion vom 12.4.2021.
*** Ob sich diese Negativ-Entwicklungen nach Überwindung der akuten Corona-Lockdown-Krise rasch wieder umkehren, ist laut Experten mehr als fraglich. Die markante Fokussierung auf die „nationale Gesundheit“ dürfte in den Geberländern auch nach Corona anhalten und kaum neue Spielräume für die Reparatur der Krisen-Nebenfolgen eröffnen. Nach Auffassung der Präsidentin der Welthungerhilfe, Marlehn Thieme, ist Corona zwischenzeitlich zum „Hunger-Virus“ mutiert.
**** Der Dauerkonflikt zwischen den beiden ethnischen Lagern der Xhosa und der Zulu wird durch das Wanderarbeiterproblem massiv verschärft. Die jüngsten Brandschatzungen und Plünderungen in weiten Teilen des Landes deuten auf signifikante Erosionserscheinungen der öffentlichen Ordnung und dürften die existenzielle Staatskrise weiter verschärfen.