Kein Land der westlichen Welt hat in den zurückliegenden Jahrzehnten auf so dramatische Weise mit allem Militärischen gebrochen, wie Deutschland. Dass es im Jahre 2021 in der Mitte Europas überhaupt noch so etwas gibt, wie eine bewaffnete Streitmacht, grenzt fast an ein kleines Wunder und dürfte wohl eher äußerem Druck seitens der Verbündeten als innerem Antrieb zu verdanken sein. Warum ist das so? Warum kommt der Bundeswehr, der ersten wirklich demokratisch legitimierten Streitkraft auf deutschem Boden, ein so geringer Stellenwert zu? Warum ist die Distanz zwischen Armee und Gesellschaft in Deutschland so gewaltig? Haben wir einfach die Kraft verloren uns selbst zu verteidigen? Oder kommen wir gar – angesichts unserer historischen Verantwortung – an einer durchgreifenden Demobilisierung nicht vorbei?
Aus historischer Perspektive liegt der eigentliche Bruch der Deutschen mit dem Militärischen im Jahre 1945. Das verheerende Ausmaß der NS-Verbrechen, die Trümmerlandschaften der besiegten Nation, der millionenfache Tod auf den Schlachtfeldern und der Makel der Niederlage veränderte nicht nur das nationale Selbstverständnis der Deutschen, sondern auch ihr Verhältnis zum Krieg als Mittel der Politik. Als sich hinter den zusammenbrechenden Fronten und den aus der Gefangenschaft zurückflutenden Soldaten die Tore des Krieges schlossen, kollabierte nicht nur der hartnäckige (Un-)Geist des Militärischen, sondern auch die emotionale Bindung der Deutschen an ihre Armee.
Die große Zäsur
Angesichts dieser politisch-gesellschaftlichen und zugleich auch emotionalen Zäsur konnte es eigentlich niemanden verwundern, dass in den unmittelbaren Nachkriegsjahren alle politischen Bestrebungen zur „Wiederbewaffnung“ auf den entschlossenen Widerstand weiter Teile der bundesrepublikanischen Bevölkerung stießen. Die damals geprägte und später auch in den Folgejahren nachhallende Parole des „Ohne mich!“ steht wie ein Fanal am Anfang dieser besonderen Debatte. Frei nach dem Motto: Macht was ihr wollt, aber lasst mich da raus! Mir reichts!
Souveränitätsgarant
Dass es dann 1955 dennoch zur Gründung der „Bundeswehr“ kam und dass auch noch auf Initiative des erklärten Pazifisten Konrad Adenauer wirkte vor diesem Hintergrund wie eine kuriose Anomalie: Das besiegte, international geächtete Deutschland wieder unter Waffen. Erneut Uniformierte auf den Straßen und Plätzen. Und erneut Marschmusik und Tschingderrasabum auf reaktivierten Kasernenhöfen.
Im Nachhinein lässt sich das Ganze nur aus dem Zwang der Blockkonfrontation des „Kalten Krieges“ erklären und natürlich als probates Mittel zur Rückgewinnung der staatlichen Souveränität. Was konnte der prekäre „Weststaat“ unter Aufsicht der Besatzungsmächte besseres tun, als sich offen zum „Verteidigungsbeitrag“ im Rahmen der NATO zu bekennen. Dennoch: Ein solides gesellschaftliches Fundament zur politischen Grundierung der neuen Armee begründete das nicht.
Armee in neuem Gewande
Es dauerte deshalb auch fast eineinhalb Jahrzehnte bis sich der Fremdkörper namens Bundeswehr zumindest einen prekären Platz in der innenpolitischen Wirklichkeit der Bundesrepublik erkämpft hatte. Als zentrales Entrée dabei diente die Vokabel vom „Bürger in Uniform“ und vor allem ein neuartiges Organisationsmodell unter dem Leitbegriff „Innere Führung“. Die Gründerväter der Bundeswehr und auch ihre politischen Geburtshelfer wußten sehr wohl um die kritische Distanz vor allem der Medien und der intellektuellen Eliten im Lande. Wenn das gewagte Experiment dauerhaft Bestand haben sollte, dann musste das Alte, das Überkommene zwingend vom Geruch des Kriegerischen und vom zähen Staub der Vergangenheit befreit werden.
Doch wie immer, wenn sich die Eigengesetzlichkeit überkommener Strukturen und Traditionen an neuen Verpackungen reibt, kommt es unweigerlich zu Friktionen und Mißtönen. Zunächst waren es Ende der 60er und Anfang der 7oer Jahre vor allem die radikalen Linken an den Universitäten, die sich auf das labile Konstrukt einschossen. Eine Minderheit, aber eine lautstarke, die sich – wenig verwunderlich – vor allem an der „Wehrmachtsvergangenheit“ der Bundeswehr abarbeitete. Wie konnte sich eine Truppe, die im wesentlichen von alten Generalstabsoffizieren der Wehrmacht* aufgebaut worden war und in der rd. 13.000 Wehrmachtsoffiziere eine neue militärische Heimat gefunden hatten, demokratisch nennen? Innere Führung hin, Bürger in Uniform her, der Fisch – so die radikalen Kritiker – stank vom Kopfe her und drohte latent zum „Staat im Staate“ zu werden.
Abrüstung fast bis zur Unkenntlichkeit
Was in den 80er Jahren bis zum Mauerfall zunächst noch als Minderheitenposition am Rande des politschen Spektrums abgetan werden konnte, wurde im Zuge der „großen Konversion“ in den 90er und 2000er Jahren zu einer Art Grundtenor im Rahmen einer medial und politisch deutlich breiter aufgestellten „Militarismus-Kritik“. Der „Kalte Krieg“ – so der breit rezipierte Duktus – ist zu Ende. Was braucht es da noch eine militärische Streitmacht? Ok! Abschaffung der Wehrpflicht. Reduzierung der Truppenstärke auf 183.000 Mann und Minimierung der Waffenbestände auf ein Minimum.** Aber ist das – angesichts der verlockenden „Friedensdividende“ – nicht immer noch zu viel?
Es mutet gewagt an. Aber es spricht viel für die These, dass es vor allem in den 90er Jahren genügend politische Kräfte in Deutschland von Grün-Links bis weit in die politische Mitte gegeben hat, die liebendgerne den Schlussstrich unter das Bundeswehrkapitel gezogen hätten. Das heißt, nicht nur die sog. Friedensbewegung, sondern – vielfach unausgesprochen – auch weite Teile der etablierten Politik sahen am Ende der (kombattanten) Geschichte (!) eine einmalige Chance zur ultimativen Abrüstung. Nachdem die Bundeswehr fast 35 Jahre als „Pflichtveranstaltung“ im Kontext des westlichen Bündnisses mehr geduldet als begrüßt worden war und 1989/90 noch als „Auffangbecken“ für die Nationale Volksarmee der DDR fungieren konnte, stand sie nun – am Ende des Kalten Krieges – vollends im Wege.
Vom Kriege her denken
Dass damals der letzte Schritt ausblieb, hatte wiederum keine dezidiert innenpolitischen Gründe. Es war die überraschende Rückkehr der kombattanten Geschichte in Form von Nationalitätenkonflikten und noch gravierender in Gestalt des fundamentalistischen Islam. Die Hoffnung, dass der mehrpolige Multilateralismus jenseits der militärischen Blöcke zur Etablierung einer dauerhaften „Friedensordnung“ führen würde, hatte getrogen. Und das hieß, so paradox es klingen mag, die Bundeswehr, Mitte der 50er Jahre ausdrücklich als „Friedensarmee“ gegründet und nach dem „Kalten Krieg“ eigentlich schon zur Disposition gestellt, wurde mit dem Jugoslawienkonflikt und noch nachhaltiger mit 9/11 quasi über Nacht zu einem militärischen Werkzeug im heißen Krieg.
Die Ambivalenz der Lage, in der sich die fast bis zur Unkenntlichkeit abgerüstete Bundeswehr, Anfang der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts befindet, ist – für alle, die es wissen wollen – unübersehbar. Realiter im Abrüstungssog fast verschwunden wurde sie als eine dem Kriegshandwerk entwöhnte Truppe ad hoc gegen einen aus dem Untergrund operierenden Feind mobilisiert. Heftig kritisiert als Truppe „mit einem Haltungsproblem“ (Ursula von der Leyen)*** sollte sie plötzlich „kämpfen“ und sich im Gefecht bewähren. Für das „Helfen, Aufbauen und Schützen“ akribisch geschult, sollte sie auf einmal Tod und Verwundung erdulden und verarbeiten.
Gehören die zu uns?
Mehr Widerspruch und letztlich auch mehr politische Camouflage waren selten. Und auch wenn es die Truppe, die einst zur Landesverteidigung aufgebaut wurde, immer noch gibt, ist und bleibt sie eine Armee im Schatten. Eine Armee, die wir im Grunde nicht kennen und die wir deshalb auch nicht „als zu uns gehörig“ empfinden. Wer seine Soldaten in den Kampf schickt ohne sie angemessen auszurüsten und ihnen schweres Kriegsgerät dort vorenthält, wo es im täglichen Ernstfall dringend gebraucht wird, handelt nicht nur fahrlässig, sondern auf problematische Weise illoyal. Und wer die Gefallenen der Bundeswehr weiterhin in einem Wald weit außerhalb der Hauptstadt „versteckt“****, lässt es nicht nur an Mitgefühl, sondern letztlich auch an Wahrhaftigkeit mangeln.
Nicht nur Entwicklungshelfer
Im Kern haben wir die Grundwidersprüche des Militärischen in einer durch und durch pazifizierten Gesellschaft nie wirklich zu Ende diskutiert. Der Soldat kann – so schwer uns diese Erkenntnis fällt – nie einfach nur „Angestellter im öffentlichen Dienst“ sein. Er ist – so gern wir ihn dauerhaft in diesen Rollen sehen würden – auch nie nur „Aufbauhelfer“ und „Streetworker“. Das eigentliche, originäre Biotop des Militärischen liegt weit jenseits dieser Rollenbilder und lässt sich eben nicht auf das „Zivile“ begrenzen. Solange das unausgesprochen bleibt und solange wir nicht endlich anfangen unsere Schattenarmee wieder ans Licht zu ziehen, sollten wir es am Ende lieber lassen und unsere Soldaten baldmöglichst ihren Familien zurückgeben.
* Besonders hervorzuheben, sind hier die ehem. Wehrmachtsgeneräle Adolf Heusinger, ehem. Chef der Operationsabteilung im Oberkommando des Heeres, Hans Speidel, zeitweise Generalstabschef der Heeresgruppe B an der Seite von Erwin Rommel und Hermann Foertsch, am Kriegsende Chef des Generalstabs einer Heeresgruppe an der Ostfront. Alle drei bekleideten nach der Gründung der Bundeswehr 1955 höchste Kommandoposten. Heusinger war von 1957-61 Generalinspekteur der Bundeswehr und dann bis 1964 Vorsitzender des Militärausschusses der NATO. Speidel war OB der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa und Foertsch wurde als Nachfolger Heusingers 1961 Generalinspekteur der Bundeswehr. Vgl. hierzu auch Sönke Neitzel: Deutsche Krieger, Berlin 2020, S. 265ff.
** Die massive Reduzierung der Mannschaftsstärke und der Waffenbestände begann 1990 mit dem Projekt „Heeresstruktur 5“, 1993 folgte die „Heeresstruktur 5N“, 1997 „Neues Heer“, 2002 „Heer der Zukunft“ und knapp 10 Jahre später das Reformprojekt „Heer 2011“. In nackte Zahlen übersetzt, hieß das: Von den rd. 600.000 Mann der Wendejahre (einschl. NVA) blieben 1994 325.000 Mann, im Jahre 2000 rd. 250.000 und am Ende eine Mannschaftsstärke von 183.000 Mann. Die Wehrpflicht wurde 1996 von 12 auf 10 Monate, 2002 auf 9 Monate, 2009 auf 6 Monate abgesenkt und 2011 gänzlich ausgesetzt. Vgl. Neitzel, S. 461f. – Über den besorgniserregenden Zustand der Waffensysteme, der Informations- und Komunikationstechnik und der militärischen Führungssysteme gibt es unzählige Berichte und Expertisen. Geändert oder gar verbessert hat sich bis heute wenig.
*** Die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nahm die „Affäre Franco A.“ im April 2017 zum Anlass der Bundeswehr ein generelles „Haltungsproblem“ zu attestieren. Mit dieser bis heute nachhallenden Wendung brachte Frau von der Leyen den ohnehin stark gespannten Loyalitätsbogen zwischen der politischen Führung und den Streikräften fast zum Zerreissen.
**** Die offizielle Gedenkstätte für die im Dienst ums Leben gekommenen Bundeswehrsoldaten befindet sich nicht im Zentrum der Bundeshauptstadt, sondern rd. 40 km außerhalb Berlins in einem Wald in Geltow-Schwielowsee. Seit 1992 starben (nach Angaben der Bundeswehr, Okt. 2019) 114 Bundeswehrangehörige im Rahmen von Auslandseinsätzen. Darunter 37 durch direkte Feindeinwirkung und 22 durch Suizide.