Selbsttäuschung

In der Völkerpsychologie gehört die Selbsttäuschung zu den Kernbestandteilen des Psychohaushalts sowohl traditioneller wie moderner Gesellschaften. Großkollektive funktionieren in ihrem Kern wie Immunsysteme, die stetig von neuem versuchen sich durch wärmende Narrative, starke Symbole, immer wieder aber auch durch Mittel der Selbsttäuschung erfolgreich im Gleichgewicht zu halten. Gefährlich wird die Sache dann, wenn der Prozess der Selbstbildstabilisierung mangels anderer Formen der Selbstvergewisserung nur noch über aufwändige Selbsttäuschungsmanöver funktioniert und dadurch am Ende selbst einfachste Formen der Selbstreflexion blockiert werden.

Bezogen auf die bundesdeutsche Realität zur Jahreswende 2024/25 verknoten sich diverse Fäden der Selbsttäuschung zu einem zunehmend unentwirrbarer werdenden Knäuel aus verschwiegenen Fakten, gezielten Auslassungen und vereinzelt sogar echten (Not-)Lügen.

Schönwetter-Narrativ

Ein besonders ergiebiges Feld hierfür bietet die nationale Energiepolitik, die trotz explodierender Energiepreise und wachsender Mangelphänomene („Dunkelflaute“), immer noch tapfer das „Schönwetter-Narrativ“ vom klimapolitisch gebotenen, durch massive Kraftwerksstilllegungen aber zunehmend grundlastbefreiten „Sonne-Wind-Mix“ verteidigt. Einseitig fixiert auf die klimarelevanten Aspekte der Energiewende werden die ökonomischen („Insolvenz oder Abwanderung industrieller Kerne“) und sozialen („fortschreitende Wohlstandseinbußen“) Gesichtspunkte entweder ignoriert oder zur Stabilisierung des Selbstbilds in Politik und Medien teilweise bis zur Unkenntlichkeit retuschiert. Unter dem anhaltenden Motto: „Wir“ bleiben „Klima-Weltmeister“ – koste es was es wolle!

Während fast alle unsere Nachbarn und parallel die großen High-Tech-Konzerne reihenweise grundlastfähige Nukleartechnik als Ersatz für die (dreckige) Kohle und als Puffer für den KI-Boom (re-)aktivieren, spielt das Land zwischen Rhein und Oder im Konzert der großen Industrienationen zunehmend die Solorolle des energiepolitischen Geisterfahrers.

Hohe soziale Kosten der Selbsttäuschung

Allein im laufenden Jahr musste die deutsche Stromwirtschaft netto rd. 30.000 Gigawattstunden Strom, in den Dunkelflauten z.T. für exorbitante Abnahmepreise, importieren. Eine Tendenz, die sich seit der endgültigen Abschaltung der AKWs in Deutschland im April 2023 erheblich verstärkt hat und zu der paradoxen Situation führt, dass Frankreichs AKWs mittlerweile zu den wichtigsten Grundlastträgern auf dem deutschen Strommarkt geworden sind. Angesichts der stetig steigenden ökonomischen und sozialen Kosten der Energiewende zahlt das Land mittlerweile einen hohen Preis für die anhaltende Selbsttäuschung.

Trugbild im Osten

Ein zweites mächtiges Feld der Selbsttäuschung tut sich seit Jahren im Verhältnis zu unserem großen Nachbarn im Osten auf. Während wir uns im „Kalten Krieg“ hinter einem mit viel Anti-Amerikanismus getränkten transatlantischen Atomschirm in Deckung gebracht haben, war nach 1989 die Euphorie über das allein östlich der Elbe erkämpfte „Geschenk der Wiedervereinigung“ so groß, dass wir glaubten uns auf militärisch-politischem Sektor ein weitgehend anstrengungsbefreites Sonderverhältnis zum alten Antipoden im Osten leisten zu können. Deutschland suchte aktiv die Nähe zum Kreml und rüstete parallel systematisch ab. Kampfwert und Bewaffnung der Bundeswehr wurden auf homöopathische Reste reduziert und trotz diverser Anzeichen für die Unzuverlässigkeit des Kreml im sicherheitspolitischen Kontext (u.a. Krim-Annexion 2014) hielt Deutschland auch in den 2010er Jahren an seinem östlichen Trugbild fest.

Während eine der großen Architektinnen dieses mittlerweile offen zu Tage getretenen Irrwegs selbst in ihrer jüngst erschienenen Autobiographie weiterhin – dafür aus alter Solidarität kaum ernsthaft kritisiert – ihre längst durch die Realität widerlegten Sichtweisen wiederholt, sucht die breite Masse der „Verirrten“ auch nach fast drei Jahren Ukrainekrieg immer noch vergeblich nach dem Erkenntnisschlüssel für das tiefere Verstehen der quasi über Nacht verordneten „Zeitenwende“.

Kriegsertüchtigung der Friedvollen

Während sich in den rund 30 Jahren „Nachwendezeit“ eine Selbsttäuschung über Umfang und Ausmaß der sog. „Friedensdividende“ verfestigte, vergeht seit Februar 2022 beinahe kein Tag an dem nicht irgendein Politiker oder irgendein Journalist ultimativ Deutschlands „Kriegstüchtigkeit“, besser noch „Kriegsertüchtigung“ einfordert.  Nachvollziehbare Erklärungen dafür, wie das angesichts von drei Jahrzehnten konsequenter „Erziehung zur Gewaltfreiheit“ gehen soll und wo die „Rekruten“ für die jahrelang selbst von aktiven Verteidigungsministerinnen als „chronisch rechts“ apostrophierten Bundeswehr herkommen sollen, sucht der interessierte Betrachter weiterhin vergebens.

Lieber „täuscht“ Berlin sich selbst und ihre Bündnispartner mit viel verbaler Verve und kriegerischem Unterton weiterhin über die gravierenden Unzulänglichkeiten des militärischen Apparats hinweg und erwartet ansonsten seit November 2024 im Zustand rotierender Erstarrung den Amtsantritt des vermeintlichen „NATO-Verächters“ Donald Trump.

Schutzmacht go home!

Wo wir bei einem weiteren Feld der Selbsttäuschung angekommen wären – nämlich bei unserem im Grunde bereits seit Jahrzehnten chronisch insuffizienten Amerikabild. Während vor allem die politische Linke seit Generationen einen latent kritischen Blick auf die „Hochburg des Weltkapitalismus“ wirft, schwanken die breiteren Schichten der Bevölkerung im Zusammenhang mit ihrem Amerikabild in ambivalenter Weise zwischen dem ultimativen Verlangen nach „Schutzgarantien im Krisenfall“ einerseits und multiplen „Ami go home“-Affekten andererseits. Die Letzteren immer wieder verstärkt durch breit rezipierte Schwarz-Weiß-Bilder vom vormodernen Charakter „der Amis“, der so gar nicht zu unserer europäischen Zivilisiertheit und hohen Moralität passen will.

Als dann im Jahre 2016 zu allem Überfluss auch noch Donald Trump auf der Bühne auftauchte, war es mit unserer Geduld mit der letzten diensthabenden Frontnation des freien Westens ohnehin vorbei. Sollen die doch ihre merkwürdigen Antriebsüberschüsse anderweitig ausagieren, auf keinen Fall aber bei uns im Vorgarten. „Wir“ bleiben politisch-moralisch – auch nach dem bevorstehenden Comeback im Januar 2025 – auf „Anti-Trump-Kurs“ und wenn´s dann doch irgendwann mal Ernst werden sollte, z.B. mit Putin, mit dem Zugang zu den maritimen Handelsrouten oder bei  fehlenden Geheimdienstinformationen über terroristische Bedrohungen kann der „Verrückte“ jenseits des großen Teichs ja ohnehin nicht anders als uns zu helfen…!

Innere Unsicherheit

Aus dem Blickwinkel unserer Nachbarn führen jedoch nicht die „Energiewende“, unsere „Ostpolitik“ oder unser widersprüchliches Verhältnis zu den USA das Ranking der Selbsttäuschungsskala an. Hier steht unangefochten der Umgang der Deutschen mit ihrer „Inneren Sicherheit“ an erster Stelle. Kein entwickeltes Land der westlichen Welt – vielleicht mal abgesehen von unserem Nachbarn Frankreich – erlebt in jüngster Zeit eine so rapide Erosion des „Sicherheitsgefühls“ wie Deutschland.

Das hat zum einen mit den massiven Ausschlägen der Kriminalitätsstatistik zu tun, spiegelt sich zum anderen aber auch im konkreten Erleben der Bürgerinnen und Bürger im Land wider.  Während in früheren Jahren öffentliche Parks und öffentliche Plätze vor allem in Großstädten auch zu den Abendstunden noch gern besuchte Treffpunkte und Flaniermeilen waren, werden mittlerweile ganze Stadtviertel, ganze Straßenzüge und ganze Parkanlagen zu regelrechten „No go Areas“.

Deutliche Zuspitzungen erlebt dieser Erosionsprozess im Windschatten massiver terroristischer Anschläge, die aufgrund der Opferzahlen und der schieren Brutalität der Tathandlung in der Regel die Spalten der Lokalnachrichten verlassen und dann jeweils zu erratischen Ausschlägen auf dem bundesdeutschen Sicherheits-Seismographen führen. Jüngste Epizentren in diesem Kontext waren Mannheim, Solingen und zuletzt Magdeburg.

Magdeburg – die jüngste Eskalation

Verschärft wird das Unsicherheitsgefühl nicht nur durch die Taten selbst, sondern spätestens seit Mitte der 2010er Jahre auch durch die politische und mediale „Aufarbeitung“ der Ereignisse. Wie das aussehen kann und was für Blüten das mittlerweile treibt, lässt sich sehr anschaulich an den jüngsten Ereignissen in Magdeburg und deren medialer „Einordnung“ ablesen.

Da werden fünf Menschen auf einem Weihnachtsmarkt von einem offensichtlich geistesgestörten Amokfahrer arabischer Herkunft getötet und fast 200 z.T. schwer verletzt. Kaum sind die Toten geborgen und die Schwerverletzten im Krankenhaus notdürftig versorgt, kommuniziert eine breite Medienfront – die ansonsten zu Recht vor voreiligen Instrumentalisierungen warnt – die Meldung, der verbrecherische Anschlag sei die Tat eines „gewaltbereiten, AfD-affinen Islamkritikers“!

Auch mit noch so viel Phantasie lässt sich in einem solchen Kontext nicht einmal ansatzweise erklären, warum ein solchermaßen gepolter Täter auf die Idee kommen konnte, einen zutiefst christlich konnotierten Weihnachtsmarkt im – zu allem Überfluss auch noch AfD-dominierten-  Mitteldeutschland anzugreifen. Geradezu unheimliche Widersprüche, die irgendwie verzweifelt wirken, aber wohl aus dem Blickwinkel der medialen Akteure zur Stabilisierung des spätestens seit 2015 gültigen Narrativs von den durchwegs positiven Wirkungen faktisch ungesteuerter Zuwanderung – überwiegend aus der islamischen Welt – notwendig zu seien scheinen.

Selbstüberschätzung

In diesem Kontext offenbart sich noch einmal auf fast tragische Weise, was Selbsttäuschung gerade angesichts komplexer politischer Gemengelagen an Negativfolgen bewirken kann. Getrieben von dem schier unstillbaren Drang alles zu tun, um bloß nicht „den Falschen“ das Wort reden zu müssen, wird die ungesteuerte Zuwanderung über den Asylparagraphen zu einer Art politischem Dogma, das zur Selbstbildstabilisierung auch dann noch verteidigt wird, wenn sich eigentlich unübersehbare Tatsachen auf drastische Weise in Widerspruch zum kommunizierten Narrativ setzen.

Laut der US-amerikanischen Psychologin Louisa C. Egan neigen Individuen und Kollektive selten aus böser Absicht zur Selbsttäuschung und zum Selbstbetrug.  Weitaus häufiger dient  – wie die genannten Beispiele zeigen – die Selbsttäuschung dem Schutz oder zur Stabilisierung von Überzeugungen, Glaubenssätzen und Weltanschauungen.

In vielen Fällen schwingt im Hintergrund der Selbsttäuschung, ein Gefühl der Selbstüberschätzung mit. Im Extremfall sogar eine gewisse Hybris, die sich in Deutschland im historischen Kontext immer wieder an diversen Stellen in ausgeprägten „Weltrettungsphantasien“ ausagiert hat.

Weltklimarettung

Als besonders markantes Beispiel für eine solche Weltrettungsphantasie lässt sich mit einigem Recht Deutschlands Traum von der weltweit führenden „Klima-Nation“ deuten, der mittlerweile seine reale Wirkungsmacht voll zu entfalten beginnt. Manifeste Begleiterscheinungen in diesem Zusammenhang sind starke Überdehnungseffekte, die – wie aktuell zu beobachten – erhebliche Teile der Industrie, vermehrt aber auch die Energieverbraucher im Land – und damit uns alle – vor mittlerweile kaum mehr lösbare Herausforderungen stellt.

Die vorgezogenen Bundestagswahlen im Februar 2025 lassen eine gewisse Hoffnung auf eine Umsteuerung bei den Reformzielen und beim Reformtempo aufkeimen. Es ist schwer vorstellbar, dass eine neue Regierung die vielfach eher kläglich gescheiterten Reformprojekte der Ampel-Koalition einfach fortsetzt.

Gegen eine echte Remedur sprechen zum einen die Aussichten auf Rückkehr zumindest von Teilen der Ampel via Koalitionsbildung in die politische Verantwortung. Zum zweiten sind es aktuelle Aussagen des aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten, Friedrich Merz (CDU), die befremden und eher auf ein „Weiter so!“ hindeuten. So kann sich Merz – trotz der verheerenden „Leistungsbilanz“ – eine weitere Zusammenarbeit mit einem Wirtschaftsminister Habeck vorstellen.  Des weiteren beschränkt sich der CDU-Vorsitzende z.B. in Sachen Migrationspolitik weiterhin auf Forderungen nach überwiegend längst vorhandenen gesetzlichen Regelungen (u.a. Abschiebung bei wiederholten Straftaten oder Trennung zwischen Asyl-Zuwanderung und Arbeitsmigration), statt endlich gangbare Lösungen für die allseits beklagten Vollzugsdefizite anzubieten.

Hoffnung auf Selbstreflexion

Auf der Ebene des Selbstüberschätzungs-Phänomens bleibt die Hoffnung, dass eine weitere Zuspitzung der Problemlagen neue Kräfte für eine schonungslose Selbstreflexion und daraus folgend für eine echte Überprüfung eingefahrener Selbst- und Weltbilder mobilisiert. Gerade in der Jugend sind die Potentiale für eine pragmatische, zukunftsgerichtete Neuformierung des technischen, aber auch des politisch-ökonomischen Handlungsinstrumentariums vorhanden. Es wird darauf angekommen diese Potentiale zu wecken, Barrieren für die Überwindung von Selbsttäuschungen zu beseitigen und die Neigung zu Weltrettungsphantasien durch lösungsorientierte Eigeninitiative und praxisnahe Innovationskraft zu ersetzen.