Sieg oder Niederlage

Geschichtsbücher – und zwar nicht nur die alten Folianten früherer Tage, sondern auch fast alle modernen Monographien – rekapitulieren Siegergeschichte. Die Verlierer kommen in den  historischen Abhandlungen in der Regel nur als unterworfene Antipoden bzw. als Negativfolien einer siegerzentrierten Fortschrittsgeschichte vor. Im besonderen Maße gilt das für Kriegs-und Nachkriegszeiten, wo im Windschatten der Schlachten und im Angesicht der Zerstörungen auch auf dem Felde der Medien und der politischen Rhetorik Kriegszustand herrscht.

Was bei alldem häufig übersehen wird, ist zweierlei: Erstens sind im historischen Prozess vielfach die Sieger von einst, die Verlierer von morgen und die Verlierer der Vergangenheit, die Sieger von übermorgen. Das Sieger-Kontinuum dominiert zwar die großen Geschichtstheologien. Politische Triumphe und militärische Erfolge wollen aber in der Realität stets mühsam erkämpft werden. Ein Sieger-Abo gibts nur in literarischen Heldenlegenden.

Zweitens – und das scheint mir für den aktuellen Zusammenhang des Ukrainekrieges fast noch wichtiger – sind Sieg und Niederlage immer relativ und müssen sich an den großen Linien der Geopolitik messen lassen. Zudem können Verlierer aus Niederlagen lernen und den Siegern, die sich auf den Lorbeeren ausruhen, bei nächster Gelegenheit einen heftigen Schlag versetzen. Der Sieg wird auf diese Weise ganz oft zur temporären Erscheinung, zur Etappe in einem viel größeren Konflikt, in dem erst ganz am Schluss Bilanz gezogen werden kann.1

Griechischer Siegesmythos

Vorweg einige klassische Beispiele aus dem breiten Fundus der Historiographie: Die Griechen brachten den Trojanern im 12. vorchristlichen Jahrhundert eine vernichtende Niederlage bei. Das alte Troja wurde dem Erdboden gleichgemacht und der Homersche „Siegermythos“ aus der Ilias wurde über Jahrhunderte hinweg als griechisch-hellenistisches Siegesnarrativ tradiert. Relativiert, ja ins Gegenteil verkehrt, wurde der griechische Siegesmythos durch die Römer, die ihren eigenen Gründungsmythos auf der heroischen Exilgeschichte eines trojanischen Flüchtlings namens Aeneas aufbauten (Vergils Aeneis).

Die aufstrebende mediterrane Militärmacht Rom rächte damit nicht nur historisch-symbolisch die Niederlage Trojas, sondern siegte in unzähligen Kriegen auch faktisch über den griechisch-hellenistischen Osten. Aus dem triumphalen Sieg der alten Griechen über Troja wurde ein spektakulärer Sieg der römischen Erben Trojas über den Hellenismus.

Vom Sieger lernen

Deutlich näher an der Gegenwart und damit weniger mythenbeladen: Die Niederlage Preußens auf den Schlachtfeldern von Jena und Auerstedt im Oktober 1806. Napoleons Triumph wirkte auf das alte Preußen wie eine Initialzündung. Preußen wurde in wenigen Jahren regelrecht runderneuert. Verwaltungsreformen folgten auf Militärreformen und Bildungsreformen auf Wirtschaftsreformen. Aus einem veralteten, unzeitgemäßen Staatswesen wurde die große Kraft der Reichseinigung. Aus den Verlierern von Jena und Auerstedt wurden die Sieger von Sedan (1870).

Auch hier jedoch blieb der Sieg nur eine Episode, denn auch die Franzosen zogen unmittelbar aus ihrer Niederlage (1870/71) wichtige Lehren, kopierten an wesentlichen Stellen das preußische Erfolgsmodell und verwandelten die Niederlage von 1871 in den Sieg von 1918.

Verlorene Siege

Dass Siege eine kurze Halbwertszeit haben können und (Teil-)Erfolge am Ende in entscheidende Niederlagen münden können, mussten beispielsweise die Japaner nach ihrem Siegeslauf im Fernen Osten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren. (Sieg über Russland, 1905, Eroberung der Mandschurei, 1931 und Angriff auf China, 1937). Am Ende fand die „Siegermacht“ Japan ihren Meister in den US-Amerikanern, die zwischen 1941 und 1945 den Japanern im Pazifk eine vernichtende Niederlage beibrachten.

Eine ähnliche Entwicklung nahm Hitler-Deutschland, das in den Jahren 1939 bis 1941 auf dem europäischen Kontinent von Sieg zu Sieg eilte, um dann am Ende doch in einem gewaltigen Inferno aus Tod und Verderben unterzugehen.

Totale Niederlage

Dass selbst solche totalen Niederlagen („Unconditional Surrender“) nicht in dauerhafte Agonie münden müssen, bewies der westliche Teil Nachkriegsdeutschlands ab 1949 mit dem sog. „Wirtschaftswunder“. Zumindest ökonomisch und was die Produktivität der Wirtschaft anbetrifft, ließ Deutschland die europäischen Siegermächte Großbritannien und Frankreich schon in den 60er Jahren wieder deutlich hinter sich.

Was lehrt uns nun dieser geschichtliche Rückblick im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und seinen (möglichen) Folgen?

Abgesehen von der Tatsache, dass wir – was die Kriegsfolgen anbetrifft – aktuell noch aufs Konjunktiv angewiesen sind, kristallisieren sich folgende Alternativszenarien für die „Post-War-Era“ am Horizont ab, und zwar je nach dem möglichen Ausgang des kriegerischen Konflikts.

Nuklearmacht Russland nicht zu besiegen

Entgegen aller anderslautenden Wunschvorstellungen wird es in diesem Konflikt keine Niederlage der Russen geben. Es sei denn Kiew (und Washington) definieren die russische Niederlage als schlichte Eindämmung des russischen Vormarschs in etwa entlang der aktuellen Frontlinie.

Alle wesentlichen Indizien sprechen dagegen, dass der Kreml eine mögliche Rückeroberung der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk, oder der Landbrücke am Eingang zur Krim oder gar der Krim selbst durch ukrainische Truppen ohne den Einsatz von (zunächst taktischen) Atomwaffen gegen ukrainische Ziele hinzunehmen bereit sein könnte.

Die auch in deutschen Medien immer wieder zitierte Wendung: „Die Ukraine muss siegen!“ gibt maximal einer vagen Hoffnung Ausdruck. Die Annahme, der Kreml würde den Prestige- und Reputationsverlust einer flächendeckenden Preisgabe bereits eroberter Gebiete ohne den Einsatz von Massenvernichtungswaffen auf ukrainischem Boden akzeptieren, erscheint unrealistisch.

Offen und schwer zu prognostizieren, ist die mögliche Reaktion des Westens auf solch eine (vorläufig noch begrenzte) nukleare Eskalation. Sowohl eine konventionelle Intervention von NATO-Truppen als auch eine mögliche Belieferung z.B. ukrainischer Artillerieeinheiten mit Atommunition hätte dann wohl unweigerlich den bisher erfolgreich vermiedenen „Weltkrieg“ zur Folge.

Eskalationsdominanz

Reine Spekulation ist derzeit die Antwort auf die Frage, wann denn aus russischer Sicht der Krieg „erfolgreich“ beendet ist? Das heißt, anders formuliert:  Welche Ziele müssten aus russischer Sicht eigentlich erreicht sein, damit Putin auf seine Trumpfkarte namens „Eskalationsdominanz“ verzichtet?

Eine Mehrzahl westlicher Politiker würde derzeit auf diese Fragen wahrscheinlich mit dem Satz antworten: „Wenn die Sanktionen Putin in die Knie gezwungen haben!“ – Ohne Zweifel, eine gewagte Schlußfolgerung, denn der Eindruck verdichtet sich von Tag zu Tag mehr, dass zumindest auf Europa das wechselseitige Sanktions- und Boykottregime derzeit deutlich negativer wirkt, als auf Russland selbst.

Einfacher gesagt: der Boykott von Computerchips und elektronischen Bauteilen, die sich Russland zur Not in China besorgen kann, oder das Requirieren von Luxusyachten russischer Oligarchen dürften kaum entscheidende Auswirkungen auf Russlands Politik haben. Ob Europa und insbesondere Deutschland jedoch einen kompletten Gas-Boykott über den Winter hinweg, ohne gravierende politische und ökonomische Negativfolgen aushalten, dürfte mehr als fraglich sein.

Wann ist es genug?

An dieser Stelle bliebe nur die Hoffnung, dass Putins Kriegsziele tatsächlich so begrenzt sind, wie zu Beginn der vermeintlichen „Sonderoperation“ angekündigt. Die letzten ukrainischen Bastionen in der Region Donezk dürften angesichts der russischen Feuerwalze allerspätestens im Herbst gefallen sein. Ob das dann den Kreml-Herrscher reichen wird, um einer möglichen Waffenruhe zuzustimmen, werden erst die kommenden Wintermonate zeigen.2

Wie frappierend auch hier – im Falle des Ukraine-Krieges – die These von der „Relativität“ von Sieg und Niederlage zum Ausdruck kommt, lässt sich am besten an den eigentlichen Opfern des Krieges, den Ukrainern, verdeutlichen. Sollte die ukrainische Armee die russischen Truppen tatsächlich an der imaginären Ziellinie von Putins (ursprünglichem) Kriegsplan zum Stehen bringen und das Land auf diese Weise seine Unabhängigkeit bewahren können, bliebe für Kiew zumindest eine dicke Buchung auf der Habenseite des Kriegskontos übrig.

Gegenbuchen muss man auf jeden Fall die horrenden Verluste an Menschenleben und die enormen Kriegszerstörungen. Hier Soll und Haben gegeneinander abzuwägen, fällt allein aus Gründen der Pietät schwer, dürfte aber auf jeden Fall von Militärhistorikern in fernerer Zukunft in Angriff genommen werden.

Geopolitische Dimension

Wer den Konflikt in seiner ganzen Dimension gerecht werden will, muss seinen verengten Blickwinkel auf die (Ost-)Ukraine verlassen und die größere geopolitische Brille aufsetzen.

Entgegen allen Durchhalteparolen scheint bereits jetzt eine relative Niederlage EU-Europas evident. Die gravierenden Folgen des sich immer deutlicher abzeichnenden russischen Gasboykotts dürften Europa nicht nur wirtschaftlich hart treffen. Waren schon die Belastungsproben im Zusammenhang mit der Migrations-, der Euro-und der Pandemie-Krise von enormer Wirkung auf das innere Gefüge Europas, kommt nun auch noch eine folgenschwere Energie- und Inflationskrise auf den alten Kontinent hinzu. Die massiv negativen Folgen für den inneren Zusammenhalt der Union zeichnen sich bereits jetzt ab.

Uncle Sams Triumph

Der einzige, fast schon vorprogrammierte Sieger in der Auseinandersetzung scheint allein Washington zu sein. Die USA werden am Ende des Krieges auf jeden Fall ihre Position als Führungsmacht der westlichen Welt gestärkt haben. Erneut wurde den Europäern unmittelbar vor Augen geführt, wie abhängig sie in Sicherheitsfragen von der Militärmacht USA sind. Das bislang strittige 2 %-Ziel im Zusammenhang mit den europäischen Verteidigungsbudgets dürfte in absehbarer Zeit kaum mehr Diskussionsgegenstand sein.

Darüber hinaus dürfte der Konflikt zu einer erheblichen Schwächung des revisionistischen Antipoden der USA an der Ostgrenze Europas führen. Neben dem gravierenden Reputationsverlust der Russen auf der politischen Bühne wurden dem Kreml auf eklatante Weise die Grenzen seiner militärischen Schlagkraft aufgezeigt.

Russland in den Armen Chinas

Ob all das jedoch am Ende reichen wird, um auch langfristig als unumstrittener Sieger dazustehen, ist dennoch fraglich. Die USA werden Russland in jedem Fall tief in die Arme Chinas treiben. Wenn nicht alles täuscht werden sich die Spannungen zwischen Peking und Washington in den kommenden Jahren weiter deutlich verschärfen. Der aktuell wieder aufflammende Konflikt um die Insel Taiwan wird nur schwer einzudämmen sein.

Was könnte der Volksrepublik China besseres passieren als einen hochgerüsteten, ressourcengesättigten Bündnispartner im Kampf gegen den Westen an seiner Seite zu rekrutieren. Wer den Russen alle Wege nach Westen verbaut, erreicht nur einen Scheinerfolg, macht sie aber unweigerlich zu Zwangsverbündeten Chinas.

Was China auf dem Weg zur Welt-Führungsmacht vor allem fehlt, sind billige Rohstoffe. Putin wird sie liefern und Xi Jingping wird sie im großen Ringen mit dem US-amerikanischen Widersacher im ostasiatisch-pazifischen Raum zum eigenen Vorteil zu nutzen wissen.

Wer dann am Ende, nach einem möglicherweise erneut 40 Jahre währenden Kalten Krieg 2.0, als Sieger vom Feld gehen wird, kann erst die Zukunft zeigen. Der Westen wird – trotz aller moralischen Überlegenheitsgefühle – auf ein Mindestmaß an strategischer Klugheit in diesem Kontext nicht verzichten können.

 

1 Vgl. hier und im Folgenden Wolfgang Schivelbusch: Kultur der Niederlage, Frankfurt/M. 2007

2 Das wohl wahrscheinlichste Szenario für ein „Kriegsende“ dürfte die Verständigung über eine Waffenruhe sein, die in einen den Konflikt einfrierenden „Waffenstillstand“ mündet. Ähnlich dem Korea-Krieg, der bis heute friedlos gestellt ist und der am 27. Juli 1953 lediglich durch einen Waffenstillstand beendet wurde, scheint auch hier ein Friedensvertrag zwischen den Kontrahenten aufgrund massiv divergierender Interessen derzeit kaum realistisch.