Kein Sport, ungesunde Ernährung und Dauerstress! – In leider viel zu vielen Fällen prägen diese Phänomene den privaten und beruflichen Alltag von Menschen, gerade in den Wohlstandszonen des entwickelten Westens. Die Folgen sind Müdigkeit, fehlende Fitness, Gelenkschmerzen, Kurzatmigkeit und am Ende Verschleißerkrankungen und Herzprobleme. Der Mensch lebt am Schluss nur noch von der Substanz und verbraucht Ressourcen, die der Körper zwar per se mitbringt oder die er sich in jungen Jahren „antrainiert“, deren rapider Abbau aber nicht mehr aktiv kompensiert wird. – Dieser Substanzverzehr ist ein individuelles Phänomen, tritt aber in vielen unterschiedlichen Konstellationen auch in großen Kollektiven auf. Ganze Gesellschaften verlieren an Widerstandskraft, Imperien sinken zu Boden und einstmals mächtige Volkswirtschaften verlieren ihr Fundament. Welche Ursachen dafür maßgeblich sind und was sich tun lässt, um angegriffene Substanz wieder zu beleben, dazu im Folgenden einige Gedanken.
„The Rise and the Fall of Roman Empire“* – Mit diesem spektakulären Buchtitel im Gepäck eroberte in den Jahren unmittelbar vor der Großen Französischen Revolution der britische Historiker Edward Gibbon, die Bestsellerlisten des europäischen Buchmarkts. Geschickt die „Fin de siecle“-Stimmung des ausgehenden 18. Jahrhunderts adaptierend, ging Gibbon in seinem sechsbändigen Mammutwerk der Frage nach: Wie konnte ein so mächtiges, den ganzen Mittelmeerraum beherrschendes Imperium auf so schmähliche Weise untergehen? Was waren die ausschlaggebenden Gründe für seinen Niedergang?
Innere Kämpfe
Die Antworten, die Gibbon für seinen Untersuchungsgegenstand, das Römische Reich, fand, sorgten nicht nur in der sich formierenden Fachwelt, sondern auch bei seiner breiten Leserschaft, für nicht unbeträchtlichen Aufruhr. Neben den vielzitierten Germaneneinfällen und der Hinwendung des Römischen Reiches zum Christentum sollen es vor allem „innere Kämpfe“, „Bürgerkriege“ gewesen sein, die die Widerstandskraft der römischen Gesellschaft aufgezehrt haben.
Diese Diagnose schien wie gemacht für das Nachzeichnen von Parallelen zum breit rezipierten Untergang des Ancien Regime. Die „Bürgerkriegsthese“ wirkte dabei wie eine Folie für die unmittelbar nach der Veröffentlichung des letzten Bandes hereinbrechende Ära der Revolutionen. Der Fortbestand von Imperien, so die Botschaft, hängt von der inneren Geschlossenheit der sie tragenden Gesellschaften ab. Innere Kämpfe zehren die Substanz auf, lassen die inneren und äußeren Abwehrkräfte erlahmen und am Ende fällt das innerlich erodierte Konstrukt einem Angriff von außen, allgemeiner formuliert, einem externen Schock, zum Opfer.
Parallelen und Unterschiede
Nun wäre es vermessen, wollte man diese historischen Muster, einfach 1 zu 1 auf unsere Gegenwart übertragen. Wir leben weder in der Spätantike noch im ausgehenden 18. Jahrhundert. Äußere Bedrohungen gibt es aktuell auch für die westlichen Gesellschaften. Spätestens seit 9/11 wissen wir, dass es starke Kräfte in den Peripherienzonen der verwestlichten Welt gibt, die das Modell der liberalen Demokratie nicht nur strikt ablehnen, sondern auch kompromisslos bekämpfen. Diese Bedrohungsszenarien sind durchaus ernst zu nehmen, aber daraus eine unmittelbare Gefahr für den Fortbestand des westlichen Gesellschaftsmodells abzuleiten, erscheint zumindest verfrüht.
Was sich jedoch zweifelsohne beobachten lässt, ist ein fortschreitender Substanzverzehr im Inneren der westlichen Gesellschaften. Gemeint ist hier in erster Linie der Schwund an mentaler Substanz, hauptsächlich verursacht durch eine fortgeschrittene „Spalteritis“, die sich vornehmlich in den letzten rund 20 Jahren flächendeckend ausgebreitet hat und die seit neuestem auch in die verborgendsten Kapillaren der gesellschaftlichen Großkörper eindringt.
Verwünschung statt Argument
Wie in der römischen Spätantike und im Zeitalter des Hochabsolutismus werden aus den öffentlichen Foren und den großen Debattenräumen regelrechte „Verwünschungszonen“. Die politischen Diskurse werden nur noch selten sachlich-argumentativ geführt, sondern mutieren auf immer mehr Themenfeldern zu verbalen „Bürgerkriegen“. Der Andersdenkende wird zum „(Wahrheits-)Leugner“, das abweichende Argument zum Vehikel einer „Verschwörung“ und die „Alternativlosigkeit“ zum einzigen Ausweg im Meinungskorridor.
Lagerbildung
Was das mit unserer Diskurskultur macht, haben wir an dieser Stelle schon des Öfteren thematisiert. Wie sehr das auch den mentalen Haushalt unserer Gemeinwesen insgesamt angreift bzw. aufzehrt, wurde erst in der Corona-Lockdown-Krise der letzten gut eineinhalb Jahre deutlicher sichtbar. Wie schon in den Auseinandersetzungen über den richtigen Weg in der Migrationsfrage oder im Zusammenhang mit dem Streit über die angemessene Reaktion auf den „Klimawandel“ kam es auch in der Pandemie schon in einer frühen Phase zu einer schroffen Lagerbildung.
Die Bereitschaft, dem Anderen zuzuhören, seine Argumente zu wägen oder auch nur ruhig und sachlich anzuhören, sackte schon in den ersten Wochen auf den Gefrierpunkt. Stark getrieben durch eine kampagnenartige Berichterstattung in einem Großteil der Medien und gefördert durch diverse Leugner- und Feindvokabeln zerfaserte nicht nur die Debatte, sondern auch der gesellschaftliche Zusammenhalt.
Schreckbild USA
Wer sich auch nur einen Moment lang die Zeit nimmt, über den Atlantik in die USA zu schauen, ahnt was hier in Europa wohl in den nächsten Jahren noch auf uns zukommt. Das fast schon brutale Gegeneinander zweier, etwa gleich starker politischer Lager droht die US-amerikanische Gesellschaft regelrecht zu filetieren.
In fast allen Gretchenfragen der politischen Gegenwart haben sich die beiden gegensätzlichen Pole in den letzten Jahren nicht angenähert, sondern immer weiter voneinander entfernt. Die Stadt gegen das Land, der liberale Osten gegen den konservativen Süden, die Open-Border-Aktivisten gegen die „Mauerbauer“, die Klimawandel-Missionare gegen die „Klimaleugner“(!) und die Protagonisten der „Identity Politics“ gegen die Vertreter einer „White Supremacy“.
Zermürbung
Dass diese Form der gesteigerten Unversöhnlichkeit Gesellschaften mürbe machen kann, steht außer Frage. Das spalterische Element wirkt dabei vor allem über eine ausgrenzende Sprache, in der Andersdenkende nicht mehr als Mitdiskutanten sondern als Feindbilder einsortiert werden. Wie lange die vor allem in den „Trentes Glorieuses“**, aber auch noch Anfang der 90er Jahre*** angefütterte mentale Substanz ausreichen wird, um kollaps-artige Phänomene zu vermeiden, ist schwer zu prognostizieren.
Sorgen bereitet hier vor allem die Tatsache, dass neben der mentalen Substanz auch die physische Substanz mittlerweile zu erodieren beginnt. Gemeint sind hier vor allem unsere forcierten Eingriffe in die Maschinenräume unserer Wohlstandszonen, wo wir gerade dabei sind die Basis der fossilen Energieerzeugung zu demontieren, ohne zu warten bis tragfähige Alternativen zur Verfügung stehen. Wir schalten ein Grundlastkraftwerk nach dem anderen ab ohne für gleichwertigen Ersatz zu sorgen. Nichts könnte den aktuellen physischen Substanzverzehr unserer entwickelten Gesellschaften deutlicher offenbaren, als dieses forcierte Abschalten des Kraftwerkparks ohne Netz und doppelten Boden.****
Verwässerte Substanz
Am Rande sei hier nur erwähnt, dass sich Substanz nicht nur durch das Aufzehren von Ressourcen verringert, sondern auch durch deren Verwässerung. Die aktuelle Null- und Niedrigzinspolitik verwässert den Geldwert und die Kaufkraft der Bürger. Die Substanz unserer pekuniären Tauschmittel schwindet rasant dahin und an die Stelle solider Währungsfundamente treten wabernde Seifenblasen aus gigantischen Wetteinsätzen und obskuren Scheingewinnen.
Kommen wir da wieder raus? Haben wir überhaupt die Kraft unser Abgleiten auf der schiefen Ebene zu erkennen? – Solange wir immer noch etwas aus der ehemals üppigen Zitrone heraus pressen können und der Schwund oberhalb der Kollapsschwelle bleibt, wird es schwierig einen echten Erkenntnisprozeß, geschweige denn eine Trendwende einzuleiten.
Umdenken
Wie bei Menschen, die von ihrer körperlichen bzw. psychischen Substanz leben, ist es oft erst der Schock eines Infarkts oder eines gesundheitlichen Zusammenbruchs, der ein Umdenken auslöst. Auf diesen schmerzhaften Weg des Erkenntnisgewinns zu vertrauen, kann jedoch trügerisch sein. Denn sobald ein Körper kollabiert, fällt die Regeneration doppelt schwer. In bestimmten Fällen kann dann eine Therapie nur noch Grundfunktionen wieder herstellen, die weit vom Zustand vor dem Kollaps entfernt sind. Besser wäre also ein präventives Umdenken.
Wenn sich etwas in den letzten Jahren verbessert hat, dann ist es unsere Einsicht in die Knappheit der uns zur Verfügung stehenden natürlichen Ressourcen. Der Einsatz für Artenvielfalt, die immer weiter verbesserte Nutzung von ressourcenschonenden Produktionsverfahren und unser bewußterer Umgang mit Lebensmitteln lassen hoffen, was unsere Einsichtsfähigkeit in die Verletzlichkeit unserer irdischen Substanz anbelangt.
Den Schwund stoppen
Problematisch wirkt die Ideologisierung fast aller Umweltthemen und die Nachlässigkeit mit der wir in anderen Bereichen unserer Lebenswelt mit dem Thema Nachhaltigkeit umgehen (Geld, öffentliche Schulden, Migration, Energiesicherheit etc.). Hier scheinen der Ressourcenverschwendung und dem Kontrollverlust über unsere realen Möglichkeiten kaum nennenswerte Grenzen gesetzt.
Geben wir die Hoffnung nicht auf, dass es uns eines Tages doch noch rechtzeitig dämmert, was die Endlichkeit auch unserer mentalen Substanz angeht. Wer sich entschlossen hat mit den natürlichen Ressourcen haushälterischer umzugehen, sollte auch die Kraft aufbringen seine mentalen Ressourcen zu schonen und sich auf allen anderen Feldern dazu durchringen, vorhandene Substanz nicht leichtfertig zu verzehren, sondern aktiv zu pflegen.
* Die 6 Bände des Buches von Edward Gibbon erschienen zwischen 1776 und 1789 und markieren den Einstieg in einer modernere, quellenorientierte Geschichtsschreibung. Im zeitgenössischen Kontext wurde vor allem die These Gibbons von der negativen Wirkung des Christentums auf die innere Kohäsion des Römischen Reiches kritisch rezipiert. Die „Bürgerkriegsthese“ rückte bei Gibbon im Zusammenhang mit den Erfahrungen der Französischen Revolution in den Mittelpunkt.
** Das Begriffspaar wird im französischen Sprachraum als Synonym für das Zeitalter des „Wirtschaftswunders“ verwendet. Es umschreibt den beeindruckenden, historisch beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung der drei Nachkriegsjahrzehnte (1945-75). Das mentale Gerüst der westlichen Gesellschaften hat in diesen Jahren erheblich an Substanz zugelegt. Die politische Stabilität, die ökonomische Basis für das soziale Netz und der gesellschaftliche Zusammenhalt zehren bis heute von dieser Epoche.
*** Der „Sieg des Westens“ über den real existierenden Sozialismus 1989/90 hat das westliche Gesellschaftsmodell – nach seiner Infragestellung im Zuge der „68er Jahre“ – noch einmal nachhaltig bestätigt. Die Euphorie erreichte derartige Höhen, dass vereinzelt sogar das „Ende der (kombattanten) Geschichte“ ausgerufen wurde. Die Überzeugung, Teil eines Erfolgsmodells zu sein, schwindet jedoch seither wieder Schritt für Schritt. Vergesellschaftungen und Enteignungen werden in Teilen Europas wieder salonfähig.
**** Die „Stilllegung“ der letzten sechs deutschen Kernkraftwerke Ende 2021 bzw. Ende 2022 dürfte den endgültigen Einstieg der Bundesrepublik Deutschland in eine Strommangelwirtschaft markieren. Die Kraftwerkssubstanz wird entsorgt und die „neue Substanz“ ist entweder massiv volatil oder muss teuer importiert werden.