Über Frieden reden

Kürzlich, Mitte August diesen Jahres, mitten im bayerischen Landtagswahlkampf, hielt Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Münchener Marienplatz eine Wahlkampfrede. Obwohl es eigentlich um Themen der Landespolitik gehen sollte, fühlte sich der Kanzler durch lautstarke Zwischenrufe von „Friedensaktivisten“ unterschiedlicher Couleur dermaßen provoziert, dass er dazu überging, seine Ukrainepolitik mindestens ebenso lautstark zu verteidigen. „Die Leute, die hier mit Friedenstauben herumlaufen“, so Scholz, seien „gefallene Engel, die aus der Hölle kommen.“ Sie würden durch ihre überzogenen Friedensappelle „einem Kriegstreiber das Wort reden“ und sich durch ihre Friedensrhetorik ins Abseits manövrieren.

Vor allem angesichts der Wortwahl und der dahinter stehenden Bilder stutzt der Zuhörer zunächst ein wenig. Hatte nicht gerade Olaf Scholz in den letzten Wochen und Monaten im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine immer wieder mit Appellen zur Mäßigung auf sich aufmerksam gemacht.

War es nicht seine Partei, die in den letzten 18 Monaten immer wieder vor einem zu heftigen Drehen an der Eskalationsspirale gewarnt hatte? Und war es nicht gerade die europäische Linke, die sich während des Kalten Krieges so vehement für die „Friedensbewegung“ engagiert hatte. Wo sind sie geblieben, die alten Formeln der Friedensdemos der 70er und 80er Jahre: „Frieden schaffen ohne Waffen!“, „Nie wieder Krieg!“, „Schwerter zu Pflugscharen!“ oder „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin!“? Waren das am Ende doch nur zeitgeistige Strömungen im Großkonflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus?

Zeitenwende

Warum also plötzlich diese scharfe 180°-Wende? Unterscheidet sich der Ukrainekrieg wirklich auf so dramatische Weise von den Kriegen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Was ist mit den Stellvertreterkriegen der USA und der Sowjetunion in den Jahrzehnten vor 1989? Sind die Muster der Auseinandersetzungen nicht täuschend ähnlich. Müssen wir an den Ukrainekrieg wirklich andere Maßstäbe anlegen, als an die Kriege in Korea, in Vietnam und in Afghanistan?

Alte Kriegsrhetorik

Was auf jeden Fall auffällt, ist die schlagartige Rückkehr der alten bellizistischen Kategorien des 19. und 20. Jahrhunderts. Hatten die Medien in den 2000er und in den 2010er Jahren – trotz unzähliger Kriege und Bürgerkriege rund um die Welt – kriegerische Rhetorik geradezu penibel gemieden und sogar „Mikroagressionen“ jeder Art scharf kritisiert, sind große Teile der Pressemeldungen seit dem Februar 2022 zu regelrechten „Frontberichten“ geworden. Wieder – wie schon in den Zeiten der großen „Volkskriege“ seit der napoleonischen Ära – geht es um die Feuerkraft von Geschützen, die Schlagkraft von Bataillonen, die Vernichtungskraft von Bomben und den Heldenmut von Kombattanten.

David gegen Goliath

Wer in solchen Zeiten von Frieden redet, hat es schwer. Er zieht den Verdacht auf sich, mit dem Gegner zu paktieren. „Antikriegs-Demonstranten“ werden im besten Fall als naiv, im schlimmsten Fall als Kollaborateure disqualifiziert. Zudem schwingt der Vorwurf mit, den Zusammenhalt im eigenen Lager zu schwächen.

Nun hat es in der Kriegsgeschichte der letzten 200 Jahre selten einen Krieg gegeben, bei dem die Anteile an „Kriegsschuld“ so klar verteilt scheinen, wie im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg. Es gibt nicht nur einen eindeutigen Aggressor, sondern sogar eine echte David gegen Goliath-Konstellation. Wer will da nicht auf der Seite von David stehen? Und was nützen alle Friedensbekenntnisse, wenn Goliath den Krieg gar nicht beenden will und David – orientiert am Triumph des biblischen Heros – einen Frieden ohne Sieg für geradezu fahrlässig hält?

Was rät uns die Geschichte?

An dieser Stelle hilft wohl nur ein Blick in die Geschichte – und zwar zum einen in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts und zum anderen in die Zeit des Ersten Weltkrieges. Die Erfahrungen mit dem frühen Expansionsdrang des Nationalsozialismus ab Mitte der 30er Jahre scheinen zu belegen, dass frühzeitige Gegenwehr durchaus das Potenzial zur Eindämmung weiterer größerer Aggressionen in sich birgt.

Rechtzeitig eindämmen

Hätten die Westmächte (Frankreich und Großbritannien) bereits im Jahre 1936 gegen die Besetzung der entmilitarisierten Rheinlande durch die Wehrmacht vernehmlich reagiert oder wären sie dem Anschluss Österreichs im Frühjahr 1938 und der Einverleibung des Sudetenlandes im Herbst 1938 deutlicher entgegengetreten, hätte sich Hitler im Folgejahr sein Ausgreifen in Richtung Tschechoslowakei und Polen wohl 3mal überlegt.

Vor diesem historischen Hintergrund gäbe es also gute Gründe das klare Bekenntnis der NATO für den Erhalt und für die militärische Unterstützung der Ukraine zu rechtfertigen. Angesichts der Gefahr des atomaren Armageddons selbstverständlich nur unterhalb der unmittelbaren Eingriffsschwelle mit eigenen Truppen.

Rechtzeitig aufhören

Mindestens ebenso lehrreich könnte jedoch ein historischer Rückblick auf den Ersten Weltkrieg sein. Etwa ab Oktober bzw. November 1914, also schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn, zeichnete sich an den Fronten in Frankreich und Belgien deutlich ab, dass der militärische Konflikt in einen hoffnungslosen Erschöpfungskrieg mit unsäglichen Opfern auf beiden Seiten münden würde.

Trotz dieser Erkenntnis suchten und fanden beide Seiten nicht den Weg an den Verhandlungstisch. Im Gegenteil, der Krieg schleppte sich auf infernalische Weise weitere vier Jahre dahin und kostete Hunderttausenden von jungen Soldaten das Leben. Die Opferzahlen standen angesichts der Erstarrung der Fronten in keinem auch nur annähernd akzeptablen Verhältnis mehr zum Kriegserfolg.

Noch mehr Opfer?

Wer also heute im Sommer 2023 die Ukraine mit Durchhalteparolen und weiteren Waffenlieferungen zum „Weitermachen“ drängt und jede Form von Friedensmission zum Tabu erklärt, sollte das Menetekel der Jahre 1914-1918 vor Augen haben. Schon jetzt dürften dem Krieg – nach seriösen Schätzungen – 500.000 Menschen zum Opfer gefallen sein. Auf russischer Seite 120.000 Tote und 180.000 Verwundete. Auf Seiten der Ukrainer 70.000 Tote und 120.000 Verwundete.

Es gibt ohne Zweifel eine Verantwortung des Westens, der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Aggression beizustehen. Es gibt aber zweifelsfrei auch eine Verantwortung des Westens alle nur möglichen diplomatischen Kanäle zu nutzen, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.

Das immer wieder angeführte Argument die Ukraine müsse erst „siegen“, bevor Russland bereit wäre einzulenken, ist angesichts der blutigen Pattsituation an den Fronten nicht nur ein schwaches Argument, sondern auch ein Argument auf dem Rücken zehntausender ukrainischer Familien, die in den nächsten Wochen und Monaten massenhaft weiterhin Väter, Söhne und Brüder auf dem Schlachtfeld verlieren dürften.

Eingeforener Konflikt

Das wahrscheinlichste Szenario dürfte ohnehin nicht der Sieg Russlands oder der Ukraine oder gar ein rascher Friedensvertrag zwischen den beiden Kontrahenten sein. Viel wahrscheinlicher ist das Einfrieren des Konflikts auf der Grundlage einer Waffenruhe – etwa nach koreanischen Muster, wo sich zwei hochgerüstete Konfliktparteien seit Jahrzehnten ohne Friedensvertrag entlang einer Demarkationslinie waffenstarrend gegenüber stehen.

Die Konsequenz wäre, dass die Ukraine zumindest vorläufig auf eine „Irredenta“ ihrer östlichen und südlichen Oblasten verzichten müsste. Ein hoher Preis, aber nicht einmal annähernd vergleichbar mit dem Preis des Hineinlaufens in eine Art „Verdun 2.0“.

Wer in der Lage ist, die Höllentore (auf diplomatischen Wege) zu schließen, sollte sie so bald wie möglich schließen. Aus diesen Toren  kommen nämlich keine Friedenstauben, sondern im Zweifel immer neue Kolonnen von furchtbaren Kriegsfurien.