Es war Anfang der 60er Jahren des 19. Jahrhunderts als der berühmte russische Literat Fjodor Dostojewskij – tief beeindruckt von der Londoner Weltausstellung – in einem seiner Schlüsselwerke den Begriff „Kristallpalast“ zu einer zentralen Metapher der Weltliteratur formte. Anknüpfend an die gewaltige Dimension der Glas-Eisen-Konstruktion des Weltausstellungsgebäudes erfasste Dostojewskij intuitiv die programmatische Wucht dieses Bauwerks als Ausdruck des heraufdämmernden weltumspannenden Kapitalismus. Was hat es mit diesem globalen „Komforttreibhaus“ auf sich? Warum sind die zivilisationskritischen Visionen eines russischen Schriftstellers des vorletzten Jahrhunderts für uns heute noch von Relevanz? Läßt sich gar mit dem Bild vom „Crystal Palace“ unser aktuell gegenwärtig so kompliziert anmutender Weltzustand besser verstehen?
Ja, denn mit dem Begriff und der ihm innewohnenden Metaphorik läßt sich das, was wir heute unscharf als „Weltmarkt“ oder „Weltdorf“ umschreiben, viel besser erfassen und nutzbar machen. Worum es hier entscheidend geht, ist die Vorstellung von einer allumfassenden Immanenz. Alles was bisher außen war, wird nach Innen geholt. Alles was sich bislang im Zuge der Entdeckungen und der globalen Expansion im Freien abspielte, wird mit dem Eintritt ins globale Zeitalter in einen weltumspannenden Binnenraum hineingezogen. Der Sog, der von diesem faszinierenden Gehäuse ausgeht, läßt – um im Bilde zu bleiben – das erdverbundene Außen auf einen immer kleiner werdenden Restbestand zusammenschrumpfen. Das eigentliche Außen ist in diesem Kontext nur noch der Kosmos und der scheint unendlich und menschenleer.
Heute, mitten im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, zeichnet sich dieses irdische Treibhaus in noch viel deutlicheren Konturen ab, als zur Zeit Dostojewskijs. Was sich damals erst in Anfängen andeutete und noch ganz und gar eingebettet war in das Zeitalter der kombattanten Geschichte, ist heute bereits im Wesentlichen Wirklichkeit und Teil einer Art Posthistorie. Alle Zeichen stehen auf Gegenwart und Zukunft. Vergangenes verblaßt und rückt angesichts des Dauerkonsums und der sowohl technisch als auch sozial durchklimatisierten Lebenswelten immer weiter an den Rand. In dieser Nachgeschichte, wo interne Konflikte wie Haushaltsunfälle wirken, ist auch Politik im Kern nicht mehr die Auseinandersetzung zwischen Ideologien oder handfesten politischen Überzeugungen, sondern schlichter Stimmungswettbewerb. Die Unterscheidbarkeit der Parteiprogramme ist marginal und Wahlen werden nicht mehr im handfesten Streit der politischen Lager entschieden, sondern durch diffuse Wechselstimmungen und stark medial beeinflusste Wählerfluktuationen entlang endloser Demoskopie-Ketten.
Ein fast paradiesischer Zustand möchte man meinen, wenn da nicht am fernen Horizont, aber auch mitten in den Herzkammern des Kristallpalastes selbst, rätselhafte Unruheherde wären, die bei einem wachsenden Teil der Treibhausbewohner Irritationen auslösen. Wer 7 Tage die Woche in den Wachzeiten, also mindestens 10 bis 12 Stunden am Tag, entweder mit dem Broterwerb oder komplexen Auswahlentscheidungen auf Waren- und Dienstleistungsmärkten beschäftigt ist, hat vom Grunde her, wenig Zeit sich mit Phänomenen zu beschäftigen, die jahrzehntelang außerhalb des Gesichtskreises lagen oder nur unterschwellig schwelten. Mittlerweile wächst jedoch die Unruhe. Themen wie Innere und Äußere Sicherheit, die Stabilität der Währung oder die nachhaltige Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme werden – nach Jahrzehnten der Ruhe – plötzlich virulent. Ein bisher ungekannter Vandalismus in den Vorstädten und Banlieues der Metropolen bringt politisch-ästhetische Maßstäbe durcheinander und zunehmende Kriminalität macht bisher friedlich wirkende Stadtteile zu no go areas.
Sind das Verlangen nach einer stabilen Währung und nach echter Belohnung für Konsumverzicht (Sparzins) nicht gestrige Phänomene aus der Zeit des Goldstandards und des Sparkassenkontos? Muß man in alternden Gesellschaften nicht ohnehin deutlich mehr in Gesundheit und Rente investieren? Und sind Vandalismus und Kriminalität nicht doch nur eingebildete Randphänomene? Reagieren hier die sensiblen Komfortzonen-Bewohner mit ihren dünnen Nervenköstumen nicht chronisch über? Gehört die in Zivilisationspalästen aus Langeweile und arbeitsloser Negativität wachsende Aggression, nicht ohnehin zu den unvermeidlichen Schattenseiten eines ansonsten unbeschwerten Daseins?
Weite Teile von Politik und Medien warnen unisono vor einer mutwilligen (Re-)Dramatisierung dieser Phänomene? Wenn man den professionellen Beruhigern Glauben schenken darf, dann haben wir es im Zuge der gewaltigen Wohlstandsschübe und Pazifizierungswellen ohnehin verlernt auf solche Störungen von außen mit militanter Gegenwehr zu reagieren? In diesem Sinne ist es doch eigentlich viel besser, z.B. in Sachen Migration und Euro-Krise, eisern durchzuhalten, die durchlässigen, ohnedies nur noch membranartigen Grenzen offenzuhalten und ansonsten den jeweiligen Experten das Feld zu überlassen? Vieles deutet darauf hin, dass sich – trotz einiger Desertionstendenzen (Brexit und Trump-Wahl) – die breite Mehrheit der „Weltbürger“ ruhig und angepasst verhält. Selbst der islamistische Terrorismus, der seit 9/11 von außen vernehmbar an die Tore des Kristallpalastes trommelt, hat das Gleichgewicht nicht wirklich spürbar ins Wanken gebracht. Die geschickte Mischung aus pädagogisch-therapeutischer Beschwichtigung und dem massiven Einsatz von Polizei und Sicherheitskräften hat bisher nur kleinere Unmutsbewegungen zugelassen und hat lediglich in Kombination mit dem Zustrom Hunderttausender von Armutsmigranten zu einigen zaghaften Modifikationen im politischen Spektrum geführt.
Es gibt manche Gründe, den eingeschlagenen Weg als vermeintlich alternativlosen Pfad in die Zukunft tapfer und unbeirrt fortzusetzen. Hochkonjunktur war sowieso nie die Zeit für großartige Remeduren oder innere Einkehr. Was jedoch fest zu stehen scheint, ist die Tatsache, dass es trotz der gewaltigen Attraktivität des voll klimatisierten Luxusgehäuses und trotz der ungeheuren Dynamik des marktgestützten Konsumismus bisher nicht gelungen ist, den Zustand der totalen Immanenz wirklich herzustellen. Die Geschichte ist doch noch nicht vorbei. Große Teile der Peripheriezonen sind nach wie vor nicht integriert und die auf friedliche Koexistenz und bunte Vielfalt setzende Grundstimmung der westlichen Menschheitsfraktion will einfach nicht so recht auf wichtige Akteursgruppen jenseits der Außenhaut des Kristallpalastes überspringen. Angesichts des islamistischen Terrorismus und der Wiedergeburt religiöser Fundamentalismen muss man sich sogar fragen, ob wir nicht momentan dabei sind in eine Epoche der Rehistorisierung bzw. der Rückkehr der kombattanten Geschichte einzutreten?
Was uns in den nächsten Jahren erwartet, wissen wir nicht? Wir können es aber erahnen und sollten wachsam bleiben, vor allem dort, wo politische Prozesse als alternativlos beschrieben werden oder wo Kritik am (alternativlosen) Kurs als politisch inkorrekt und per se moralisch verwerflich abgeschmettert wird. Der Glaspalast, in dem wir leben, hat nicht nur Treibhauscharakter, sondern ist aufgrund seiner Fragilität auch immer nah am Kartenhaus. Wenn es plötzlich zusammenstürzt und wir davon überrascht werden, dann haben wir es versäumt genau hinzuschauen und kritisch zu bleiben, auch wenn der Komfort scheinbar unablässig zu fließen scheint.