Vater Staat

Die Neigung komplexe Systeme durch ihre „Vermenschlichung“ begreifbarer zu machen und auf diesem Wege gleichzeitig mit einem tieferen Sinn „aufzuladen“, ist so alt wie die menschliche Beschäftigung mit diesen Systemen selbst. Eine der über Generationen hinweg wohl populärsten Wendungen dieser Art, ist die vom Vater Staat.* Kaum ein Begriffspaar dürfte im Kontext des neuzeitlichen Denkens eine derartig starke historische Wirkungsmacht entfaltet haben, wie diese hoch-assoziative Metapher vom Staat als Vater-Ersatz. – Was hat es mit dieser Wendung auf sich? Hat sie angesichts von gesellschaftlichem Pluralismus, globalisierten Märkten und Frauenemanzipation überhaupt noch nennenswerte Relevanz? Oder erlebt sie gar angesichts staatlicher Gesundheitsregime, massiv steigender Staatsquoten und exekutiver Machtfülle gerade eine spektakuläre Renaissance?

Um es gleich vorwegzunehmen: So prall und üppig die Literatur über „Vater Staat“ vor allem in den letzten anderthalb Jahrhunderten auch gewesen sein mag, so unübersehbar war von Anfang an ihre innere Widersprüchlichkeit. Wenn der Staat ein Vater ist, welche Rolle übernimmt dann die Mutter? – Die der Gesellschaft? Die des guten Gewissens? Und Hand aufs Herz: Was haben moderne Wohlfahrtsstaaten noch mit patriarchalischen Traditionen, wie der väterlichen Sorge, zu tun? Wie anachronistisch wirken „Sparsame Hausväter-Modelle“ neben kreditfinanziertem Staatsinterventionismus und wie blass wirkt der Topos der väterlichen Güte neben den modernen Leitprinzipien ausgewachsener Rechtsstaaten?

Väterlicher Januskopf

Dass der altertümliche Allgemeinplatz vom „Vater Staat“- trotz fortschreitender bürgerlicher Emanzipation – dennoch bis heute nachhallt, hat wesentlich damit zu tun, dass wir die dramatische Insuffizienz des „Vater-Modells“ als modernes Verfassungsprinzip zwar langsam begreifen, dass wir es aber trotz aller Mündigkeitsappelle einfach nicht schaffen, uns aus der wohligen Vormundschaft unserer janusköpfigen Vaterschaften zu befreien.

Gerne rühmen wir uns unserer Individualität, der Multioptionalität unserer Lebensentwürfe oder der Diversität unserer menschlichen Beziehungen. Was wir aber einfach nicht abschütteln können, ist unser tiefes Verlangen nach Geborgenheit im vorauseilenden Gehorsam, nach Umsorgt-Sein im behüteten Nest und vor allem nach entlastender Risiko-Delegation im gefahrvollen Außen.

Jenseits der Mündigkeitsschwelle

Die übermächtigen Adressaten dieses Verlangens waren von Kindesbeinen an unsere Eltern, die uns Verantwortung abnahmen und uns gegen die fremde Welt da draußen abschirmten. Was lag also näher, als sich diese fürsorglichen Sekundanten über die „Mündigkeitsschwelle“ hinaus zu sichern und zu bewahren.

Aber um welchen Preis? Haben wir denn nichts aus den großen bürgerlichen Emanzipationsbewegungen der letzten rund zwei Jahrhunderte gelernt. Hemmen wir uns mit dem passiven Rückfall in vormundschaftliche Gefüge nicht selbst? Werfen wir uns mit dem Wunsch nach entlastender Außensteuerung nicht dicke Knüppel zwischen die Beine? Über 200 Jahre bürgerliche Aufklärung, über 200 Jahre Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und dennoch waltet immer noch der allwissende, allumsorgende „Vater“ in unseren Köpfen. Ist das nicht total paradox?

Krisenhelfer

Nur auf den ersten Blick: Denn was da an Elementen des Kind-Seins bis ins hohe Alter nachschwingt, ist Teil unserer zumindest entwicklungsgeschichtlich gespaltenen Persönlichkeit. Das Kind in uns wirkt wie unser zweites Gesicht, das vor allem dann zum Vorschein kommt, wenn uns handfeste Krisen überwältigen und wir in Phasen der Unsicherheit und Angst händeringend nach Beistand von oben suchen. Reflexartig erinnern wir uns an die Geborgenheit im Schoß der Mutter oder im starken Arm des Vaters und assoziieren rettende Zuflucht – nur das es nicht der leibliche Vater ist, an den wir uns wenden, sondern Vater Staat.

Also vom Grunde her kein Vorwurf! Es ist unsere anthropologische Disposition, die uns hier treibt. Der wir im Grunde nicht entfliehen können, weil wir halt Menschen sind, die von Alters her die Nähe des Stärkeren suchen und die auch unter Inkaufnahme hoher Selbstkosten bereit sind spontan ihre Autonomie aufzugeben, wenn´s  mal wieder richtig brennt.

Folgen ehrlich benennen

Klar sein, sollten wir uns jedoch über die Konsequenzen unseres Tuns: Selbst in per se demokratischen Systemen, bleiben solche Risiko-Delegationen an Vater Staat nicht folgenlos. Wer glaubt, das sei ja nur temporär und könne jederzeit zurückgenommen werden, wenn die Krise mal vorüber ist, sollte sich durchaus auf ein unsanftes Erwachen einstellen.

Staatliche Gebilde, denen ihre Bürger umfassende Sondervollmachten gewähren, sind selten bereit, diese großzügig übertragene Machtfülle wieder abzugeben. Staaten, die schon jetzt bis zu 55 % der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung durch ihre mächtigen Schleusen leiten, gewöhnen sich schnell an kaum limitierte „Sonderziehungsrechte“ für Notstandskredite. Und wer einmal das Privileg des „Durchregierens“ verliehen bekommen hat, ist kaum bereit es wieder vollumfänglich in gewaltenteilige Hände zurückzugeben.

Es ist wie in normalen Familien: Vor allem autoritäre Väter verspüren in der Regel wenig Neigung das besetzte Terrain, die einmal eroberte Einflußzone wieder frei zu geben. Auch wenn es sich nur um eine konditionierte Preisgabe von (Selbst-)Verantwortung handeln sollte, wirkt hier unweigerlich ein längerfristig nachwirkender Struktureffekt mit oft nachhaltigen Folgen für das Machtgefüge zwischen „Vormund“ und  Schutzbefohlenem.

Verantwortung übernehmen

Übertragen auf unsere widersprüchliche Gegenwart heißt das: Obacht geben! Sich noch deutlicher als zuvor darüber klar werden, dass das „Vater-Modell“ in modernen Rechts- und Verfassungsstaaten wie ein Anachronismus wirkt und dass gegen passiv geduldete Außensteuerung nur das Aktivieren von „Self Governement“ hilft.

Auch wenn die Claims in den letzten 18 Monaten zugunsten der staatlichen Exekutivgewalt neu abgesteckt wurden und das „staatliche Terrain“ zulasten des ohnehin verletzlichen Terrains bürgerlicher Selbstverantwortung seit Frühjahr 2020 noch einmal deutlich gewachsen ist, dürfte auch unsere Lernkurve gewachsen sein.

Mutter Erde**

Und das vor allem im Blick auf den oft gedankenlosen Gebrauch von folgenschweren Metaphern à la Vater Staat oder auch „Mutter Erde“, dem zweiten großen Überbegriff der Gegenwart.

Im Gegensatz zum offensiv suggerierten Bedeutungsinhalt ist das Umschriebene nämlich alles andere als „mütterlich“.  Natur ist und bleibt prekär, sie ist wankelmütig, ist an vielen Stellen wüst, unwirtlich und gefährlich. Bezogen auf alle terranen Naturwelten sind nur wenige Klima- und Vegetationsreservate wirklich menschenfreundlich. Rund 70 % der Erdoberfläche ist mit Ozeanen und Meeren bedeckt. Ein Drittel der Landfläche besteht aus Wüsten und Halbwüsten. Auch in den Hochgebirgen ist echtes Leben nur in wenigen Tälern möglich. Das heißt, in der Regel sind nur die Räume dauerhaft bewohnbar, die der Mensch der Natur über zivilisatorische „Kultivierung“ über Jahrtausende hinweg mühsam abgetrotzt hat.***

Nicht böse gemeint

Genauso wie wir uns als freie Bürger mit unveräußerlichen Menschen- und Freiheitsrechten gegenüber „Vater Staat“ immer wieder neu behaupten müssen, werden wir auch gegenüber „Mutter Natur“ um unsere Freiräume kämpfen müssen. Beides geht nur, wenn wir die uns angeborene Selbstwirksamkeit aktiv entfalten und Selbstverantwortung auch dort übernehmen, wo Gefahren und Risiken lauern. Wenn Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Ein Stück vom Himmel“ singt:

„Die Erde ist unsere Pflicht.
Sie ist freundlich, wir eher nicht“

dann möchte man ihm spontan beipflichten. Doch leider treffen die Wendungen – trotz der unüberhörbaren Schalmeien im Hintergrund – nur die halbe Wahrheit. Denn sowohl Mutter Erde als auch Vater Staat sind eben nicht einfach nur nett und freundlich zu uns, sondern fordern uns immer wieder heraus, sowohl in unserer Eigenschaft als „Kulturträger“ wie als „Staatsbürger“.

Selberdenken in Selbstverantwortung

Selbst das Virus, dass uns hinterrücks überfallen hat, kommt – ob wir es wahr haben wollen oder nicht – aus dem Schoß von Mutter Erde und ist dabei weder freundlich noch böse, sondern einfach nur ein lebendes Wesen, dass sich auf Teufel komm raus vermehren will und dass dabei für uns alle, nicht nur für „Vater Staat“, eine Herausforderung darstellt, die wir am Ende nur eigenverantwortlich angehen und meistern können.

Nur wenn wir das begreifen und daraus abgeleitet selber ganz unmittelbar selbstwirksam werden, bleiben wir erfolgreich auf Kurs. Das Delegieren von Denken und Handeln an „Mütter“ und „Väter“ kann unheimlich beruhigend und entlastend sein. Aber nur das Selberdenken in Selbstverantwortung löst Probleme nachhaltig und macht uns zu freien autonomen Individuen.

* Die Vater Staat-Metapher gehört in den Kontext von Wendungen wie Vaterland, Mutterland, Muttersprache oder auch Mutter Kirche. Dabei schwingen – trotz der teilweise femininen Zuschreibungen – stets paternalistische Züge aus dem Zeitalter des Absolutismus mit, wo der Fürst als Pater Patriae einer (Kinder-)Schar von „Untertanen“ gegenüber stand. Trotz der Weiterentwicklung der feudal geprägten Fürstenstaaten zu bürgerlichen Verfassungsstaaten und später zu modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten und trotz der altväterlichen Aufladung des Begriffs hat sich die Metapher im politischen Diskurs zäh behauptet und sich – trotz Individualisierung, Aufklärung und bürgerlicher Emanzipation – in wechselnden Epochen immer wieder erneuert.

** Die Vorstellung von der Erde als „Mutter“ trägt stark religiöse Züge. Vor allem vorchristlich-animistische, aber auch fernöstliche Kulte haben die Erde mit Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttinnen assoziiert und diese als Lebensspenderinnen verehrt. Den Göttinnen kam dabei in der Regel eine Doppelrolle zu: Zum einen waren sie Symbole der Fruchtbarkeit, zum anderen aber auch Schutzgöttinnen, die den Menschen Schutz vor den Gefahren der Natur bieten sollten. In den meisten Fällen waren die Erdmutter-Kulte mit blutigen Opferriten verbunden, immer mit dem Ziel die Naturgewalten zu besänftigen.

*** Von den rund 510 Mio qkm Erdoberfläche sind 71 % mit Wasser (360 Mio qkm) und 29 % mit Land (150 Mio qkm) bedeckt. Von der Landfläche gelten rd. 60 % als bewohnbar (91 Mio qkm). 13,8 Mio qkm bestehen aus Ackerflächen. 2,2 Mio qkm davon müssen regelmäßig bewässert werden um Erträge abzuwerfen. Am dichtesten besiedelt, sind die Flußniederungen. Auf rd. 1% der Landoberfläche (Städte) drängen sich rd. die Hälfte der Weltbevölkerung.